Überläufer geben einen erschreckenden Einblick in den Alltag Nordkoreas: Kinder lernen beim Anblick des Führers zu weinen. Ärzte führen Versuche an Menschen durch. Frauen werden bestraft, nachdem sie vergewaltigt wurden. Wie schafft es das Terrorregime, sich an der Macht zu halten?
Weiter als Nordkorea man sich auf diesem Planeten nicht von der Realität entfernen, schreibt der Schriftsteller Christian Kracht. Es könnte eine totale, in die Zukunft und Vergangenheit gehende holografische Projektion sein. Oder der Handlungsraum eines noch ungeschrieben Science-Fiction-Romans. Wie Millionen von Nordkoreanern leben, was sie essen, wie sie zur Arbeit gehen, was sie dort tun, wir wissen es nicht.
Was wir nicht kennen, füllen wir mit unserer Fantasie auf. Nordkorea ist Pop, ein Land wie aus einem James-Bond-Film. Der Dicke mit der Atombombe und der krassen Frisur, der den eigenen Onkel erschießen lässt. Geisterbahn. Doch was Geisterbahn ist, muss man nicht ernst nehmen, das verliert sein Grauen – gleich einem Hitler-Faschingskostüm.
Eine andere Erzählung ist die der Geopolitik. Jetzt, da Nordkorea seinen ersten Parteitag seit 36 Jahren ausrichtet und zur Feier eventuell seinen fünften Atomtest durchführen wird, ist sie überall zu lesen, Überschrift: das Great Game der Großmächte China und USA. China, von dem das wirtschaftlich desolate Nordkorea abhängig ist, hält sich das Land als Pufferstaat gegen ein mit den USA verbündetes Südkorea. In dieser Geschichte schnurren das Land und seine Menschen auf eine Figur in einem Strategiespiel zusammen.
Jede der Erzählungen ist unterschiedlich, und doch haben sie eine Gemeinsamkeit. Sie haben eine Lücke: Die Menschen laufen nur als Statisten
durchs Bild, sie haben keine Sprechrollen. Lassen wir sie also erzählen. Beginnen wir oben, bei den Führern, weil sie alles in diesem Land überstrahlen, weil sich das Leben des Einzelnen nicht erklären lässt ohne sie.
Der Koch
Der Japaner Fujimoto Kenji (Pseudonym), 69, diente Kim Jong Il, dem verstorbenen Machthaber und Vater des derzeitigen Führers Kim Jong Un, zwölf Jahre lang als Sushi-Meister. Er reiste um die Welt, um Köstlichkeiten für seinen Chef zu besorgen: Kaviar im Iran, Thunfisch in Japan, Mangos in Thailand, Bier in Tschechien, Big Macs in Peking. Als Fujimoto im Jahr 2001 die Angst beschlich, sein Chef verdächtige ihn der Spionage, entkam er mit einer List. Er gab vor, Seegurken in Japan kaufen zu wollen, und kehrte nicht zurück. Seine nordkoreanische Frau und die beiden gemeinsamen Kinder landeten sechs Jahre lang im Arbeitslager. Lange lebte Fujimoto in Angst vor einem nordkoreanischen Todesschwadron in Japan. Kim Jong Un hat ihm inzwischen verziehen.
»Als ich Kim Jong Un zum ersten Mal traf, war er sieben Jahre alt. Er lernte damals mit einem eigenen Mercedes Autofahren. Sie haben ihm einen speziellen Sitz gebaut, damit er ans Gaspedal kam. Zehn Jahre lang war ich sein Spielkamerad. Jong- un hatte von klein auf den Charakter eines Führers, spielte er mit seinem älteren Bruder oder seiner Kusine, machte er die Ansagen. Sein Vater sagte oft: »Der Ältere taugt nichts. Der ist wie ein Mädchen. Jong Un ist wie ich.« Mit 13 oder 14 Jahren hat ihn sein Vater ermutigt, zu trinken. Ein Mann muss seinen Schnaps aushalten können, hatte er gesagt. Rauchen konnte Jong Un nur heimlich, sein Vater hatte ja im Jahr 1989 damit aufgehört. Wann immer er eine ziehen wollte, ist er zu mir gekommen. Es war unser Geheimnis.
Die Familie residiert in 30 bis 50 Villen, ich selbst habe 12 oder 13 davon gesehen. Sie sind superluxuriös, Marmor, hohe Decken, Sportanlagen, Kino, Tanzhallen. Die Spielkameraden seines Sohnes suchte General Kim Jong Il persönlich aus, es waren die Enkel hoher Kader. Ich weiß noch, wie Jong Un sagte: »Ich rollerblade, ich spiele Basketball, und im Sommer gehe ich Jetskifahren. Manchmal frage ich mich, wie andere leben.«
Ich glaube, sein Vater wusste, wie es dem Volk ging. Er liebte Autos, fuhr damit durchs ganze Land, da konnte er sehen, wie arm die Menschen waren. Ich denke, er muss gewusst haben, dass in den neunziger Jahren viele Menschen verhungerten. Am Geburtstag seiner Mutter überreichte er seiner Entourage immer teure Geschenke, edlen Stoff aus England oder Japan. Zur Zeit der Hun- gers aber hat er Dinge aus China verschenkt. Ob er mehr getrunken hat, weil er sich um sein Volk sorgte? Vielleicht. Aber er hat immer viel getrunken, ganz egal, wie es dem Volk ging. Den feinsten Cognac Frankreichs. Er war der beste Privatkunde von Hennessy, das stand auf den Holzkisten, in denen die Flaschen geliefert wurde.
Ich habe weder Vater noch Sohn je lesen sehen. Angeblich soll General Kim Jong Il ja viele Bücher verfasst haben, doch ich glaube, die hat er nicht selbst geschrieben. Sie lieben aber Filme. Ganz egal, was die Propaganda sagt, sie haben überhaupt nichts gegen die USA. Sie lieben amerikanische Popkultur. General Kim Jong Il hat sich oft mit seinen Leibwächtern Bodyguard mit Kevin Costner angeschaut. Da sagte er immer: ›Ich will, dass ihr mich so beschützt.
Ich erinnere mich noch, wie froh er war, als die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright ihm bei ihrem Besuch einen Brief von Bill Clinton überreicht hat. Er hat eine Party gegeben. Norma- lerweise legte er bei Festen fünf Bündel Dollar- scheine neben sich, ein jedes im Wert von 10000 Dollar. Die verteilte er als Trinkgeld. An jenem Abend lagen da zehn Bündel.
Ich kann Kim Jong Un und seinen Vater schwer vergleichen. Ich habe den General Oyabun ge- nannt, Big Daddy. Nach den Sitten der Yakuza (die japanische Mafia, Anm. d. Red.) stellt sich niemand gegen Big Daddy. Alles, was ich sagen kann, ist, dass Kim Jong Un in die Fußstapfen seines Vaters tritt. General Kim Jong Il hatte mich ins Herz geschlossen. Obwohl ich Japaner war, hat er mich sehr gut behandelt. Er hat mir die Chance gegeben, 14 Länder zu bereisen.«
Alle Kräfte richten sich auf den Führer. Nach ihm soll sich sein Volk sehnen und verzehren, er ist der Stolz der Nation. Nordkorea ist nicht nur einer der letzten Versuche des Sozialismus. Sondern auch einer der letzten des Absolutismus.
Der Arzt
Kim Hyeong Soo, 52, arbeitete von 1990 bis 1995 am Institut für die Gesundheit und Langlebigkeit Kim Il Sungs und Kim Jong Ils, er floh 2009 nach Seoul.
»An unserem Institut arbeiten Mediziner, Biologen, Ernährungswissenschaftler, wir beschäftigen uns mit der Gesundheit der Führung. Welches Licht, welche Luft, welches Essen ist dem Führer am zuträglichsten? Insgesamt arbeiteten damals 2000 Menschen an drei Instituten an dieser Aufgabe. Kim Jong Il litt unter Herzproblemen, er hatte einen zu hohen Cholesterinspiegel und Arte- riosklerose. Klar, sein Lebensstil war nicht gesund, er hat viel geraucht und getrunken, er war im Stress, besonders als die Hungersnöte begannen. Ich glaube, er sorgte sich nicht so sehr um die Menschen, sondern um die Stabilität seines Systems. Die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten waren kollabiert, er fürchtete, dass sein Land auch zusammenbrechen würde. Er vergnügte sich gerne mit jungen Frauen, daher war er sehr auf seine Potenz bedacht. Die Diplomaten im Ausland besorg- ten Medikamente und Penisse von Löwen, Fröschen, Seelöwen. Weil die mehrere Sexualpartnerinnen haben, glaubt man, ihr Verzehr könne die Libido steigern.
Wir haben Tierversuche gemacht, aber auch Versuche an Menschen, die einen ähnlichen Kör- perbau und eine ähnliche gesundheitliche Konsti- tution hatten wie Kim Jong Il. Etwa um Medika- mente zu testen. Das war nicht einfach, so jeman- den zu finden, die meisten Nordkoreaner sind dünn, einen, der so dick war wie Kim Jong Il, gab es nur in der Nomenklatura.
Ich hatte engen Kontakt zur Elite, zu Minis- tern und anderen hohen Leuten. Sie kennen die Widersprüche des Systems, sie wissen, dass es nicht lange halten wird, und sind dabei, ihr Geld außer Landes zu schaffen. Viele bereiten sich auf die Flucht vor. Ihnen ist bewusst, dass Nordkorea ein schlechtes System hat, aber sie haben Angst um ihre Positionen. Die internationale Gemein- schaft sollte die Eliten nicht nur kritisieren, son- dern ihnen einen Weg zeigen, wie sie sich verän- dern können.«
Ein Diktator, der seine Felle davonschwimmen sieht, könnte so vorgehen: Er erlässt eine Generalamnestie für sich und die Seinen, sichert seine Wirtschaftsbeteiligungen und Pfründen und leitet Reformen ein. So haben es die Generäle in Myanmar gemacht. Auch Kim Jong Un könnte Reformen vorantreiben– dazu drängen ihn die Chinesen schon lange – doch regiert ihn die Angst, dass ihm alles entgleiten könnte.
Denn gleich im Süden liegt das andere Korea, 13-, 14-, 15-mal so reich wie der Norden. Würden sich beide vereinigen, wäre es mit der Herrschaft der nordkoreanischen Elite vorbei. Und bald wür- den Berichte über entsetzliche Menschenrechtsver- letzungen an die Öffentlichkeit gelangen, Erzäh- lungen aus den Lagern. Noch immer herrscht in Nordkorea Sippenhaft. Wer sich gegen das Regime stellt, riskiert, auch seine Familie zu belasten, sie zu einem Leben im Arbeitslager zu verdammen. Dass es die Lager gibt und was dort geschieht, wissen die meisten Nordkoreaner nicht. Es reicht, es zu ah- nen. Denn nachts verschwinden manchmal Nach- barn, die nie wiederkommen.
Der Gefängniswärter
Ahn Myeong Chul, 47, arbeitete acht Jahre in vier verschiedenen Arbeitslagern, darunter als Fahrer im Hoeryong Gefängnis Nummer 8. Er floh 1994 nach Seoul.
»Wir Gefängniswächter entstammen der Elite, wir sind sehr stolz und von großer ideologischer Überzeugung.
Es gibt zwei Arten von politischen Gefängnissen. In den ersten, Revolutionäre Zone genannt, wird nur der politische Verbrecher inhaftiert, man kann von dort entlassen werden. In den zweiten, der Zone der totalen Kontrolle, ist die Haft lebens-länglich. Dort gilt Sippenhaft. Es gibt keine Gerichtsverhandlung, eines Nachts holen sie dich ein- fach ab. Kein Mensch wird so ein Gefängnis lebend verlassen, es sei denn, Kim Jong Un persönlich hat ihn begnadigt.
In solchen Gefängnissen habe ich gearbeitet. Wir hatten den Befehl, nie mit den Insassen zu sprechen, wir sollten sie nicht als Menschen be- handeln. Anfangs habe ich das Lager nur von au- ßen bewacht und hatte keinen Kontakt zu den Insassen. Das änderte sich, als ich Fahrer wurde. Ich musste die Häftlinge herumfahren, ihnen Be- fehle erteilen, warten, bis sie ihre Arbeit verrichtet hatten. Ich durfte nicht mit ihnen sprechen, doch manchmal war mir so langweilig, dass ich es doch tat. Da erfuhr ich, dass die meisten von ihnen gar nicht wussten, warum sie inhaftiert waren. Vielleicht hatte ein entfernter Onkel von ihnen et- was verbrochen. Damals begann ich zu zweifeln.
Im Arbeitslager gab es ein Gefängnis, da ka- men die hin, die gegen eine Regel verstoßen hatten. Man hängte sie kopfüber auf. Schlug sie mit Stöcken, manchmal so hart, dass die Aug- äpfel herausplatzten. Im Winter verbrannten sie ihre Haut an den Heizöfen. Manchmal ging ich abends mit den Leuten von der Verhörabteilung trinken. War der Chef gut gelaunt, war er nach- sichtiger, hatte er sich mit seiner Frau gestritten, folterte er ohne Gnade. Es ist ein Job, doch wie die Leute ihn ausüben, liegt an ihrem Charakter. Manche sind grausam, andere haben Mitleid. Das merkst du, wenn sie etwas übersehen, wofür sie die Insassen eigentlich bestrafen müssten.
Es gab ein Mädchen im Lager, das mochte ich gerne. Han Jin Duk hieß sie, sie war 26 und sehr hübsch. Eines Tages wurde sie von einem Kommandanten vergewaltigt. Als es herauskam, wurde er gefeuert, und sie kam ins Gefängnis. Jede Frau, die man mit einem Wachmann erwischt, wird bestraft, auch wenn sie vergewaltigt worden ist. Sie wird erschossen oder gefoltert.
Nach einem Jahr traf ich Han Jin Duk an der Kohleverladestelle. ›Wie hast du nur überlebt, fragte ich. Da zeigte sie mir die Brandnarben, die ihren ganzen Körper bedeckten. Nach sechs Mo- naten sah ich sie wieder, im Maisspeicher. Sie pulte die Körner von Maiskolben. Sie hatte keine Beine mehr, zog sich mühsam auf den Händen auf einem Reifen aus Stroh durchs Lager. Ein Kohlewagen hatte ihr die Beine abgetrennt.
Sie hatte damals 21 Jahre im Lager verbracht, mit vier oder fünf Jahren war sie hergekommen, weil es ihren Onkel, einen hohen Militär, bei einer Säuberung erwischt hatte. Ihre Mutter und ihr Bruder waren verhungert. Ich glaube, auch sie ist nicht mehr auf dieser Welt.
Überall in den Hügeln um das Lager liegen Leichen verscharrt. Es gibt keine Beerdigung, und keiner darf weinen. Der Kommandant sagt: ›Ein Konterrevolutionär ist gestorben, kein Grund zu weinen.
Ich musste fliehen, weil mein Vater aus Versehen etwas Falsches gesagt hatte. Er arbeitete als Parteikader in einem Lebensmittelverteilungszentrum, es war die Zeit der Hungersnöte. Zuerst bekamen die hohen Kader und Militärs ihre Rationen, dann die Beamten und Soldaten, am Ende war nichts mehr für das Volk übrig. Die Inspektionsteams versuchten, meinem Vater die Schuld zu geben. Einmal hatte er nachts zu ihnen im Suff gesagt, dass es am System liege. Als er am Morgen erwachte, realisierte er seinen Fehler und brachte sich sofort um. Kurz darauf kamen sie, um meine Mutter und meine Geschwister zu holen. Ich wusste, dass ich der Nächste sein würde, und floh.
Als ich Wärter war, gab es zwölf Gefängnisse der Kategorie Totale Kontrollzone. Insgesamt lebten dort 200 000 bis 250 000 Menschen. Jetzt sind es nur noch fünf, das heißt, die Zahl müsste bei 120 000 liegen. In den anderen Gefängnissen gibt es aber noch sehr viel mehr Häftlinge. Schwer zu sagen, wie viele Menschen in den Lagern sterben. In dem Gefängnis, in dem ich am längsten gearbeitet habe, lebten 50 000 Insassen. Keiner wurde entlassen, dafür kamen viele neue hinein. Als das Gefängnis 2012 aufgelöst wurde, waren nur noch 20000 Insassen dort. Es sind also mindestens 30 000 gestorben.«
Trotz der Arbeitslager ist Nordkorea heute kein stalinistischer Staat mehr. Der Wandel kam nicht von oben, sondern durch eine entsetzliche Katastrophe. Als die Sowjetunion in den neunziger Jahren kollabierte, stellte sie ihre Hilfe an Nordkorea ein, das nordkoreanische Lebensmittelverteilungssystem brach zusammen. Keiner kann mit Sicherheit sagen, wie viele Menschen damals verhungerten, 500 000, eine Million vielleicht auch mehr.
Die Ökonomin
Choi Jung Shil, 65, Buchführerin eines Chemie- konglomerats in der Stadt Kanggye
»Ich war Buchführerin der Fabrik Nummer 34, zuständig für Chemie und Bauwesen. 30 000 Arbeiter. Als die Sowjetunion die Hilfe einstellte, blieb erst das Benzin aus. Dann waren es die Baumaterialien. Es gab keinen Dünger mehr, also fiel die Ernte schlecht aus. Unsere Arbeiter hatten nichts mehr zu essen, die Fabrik schickte sie nach Hause.
Anfangs warteten die Menschen darauf, dass der Staat ihnen wieder zu essen geben würde. Und verhungerten dabei. Man konnte die Lei- chen überall sehen, alle zehn Meter lag ein Toter auf der Straße. Die Leute vom Krankenhaus warfen sie auf die Ladefläche eines Lkw, danach schmissen sie sie in den Teich hinter dem Kran- kenhaus. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie sie mit dem Fuß hineinstießen. Keiner hatte mehr die Energie, die Toten zu begraben, es waren einfach zu viele.
Nach 1996 wurde es besser. Die Menschen nahmen ihr Schicksal in die Hand. Sie gingen in die Fabrik, bauten die Komponenten der Ma- schinen aus und verscherbelten sie auf dem Schwarzmarkt. Stück für Stück wurde unsere Fa- brik auseinandergenommen.
Damals kam die Regierungskontrolle fast zum Erliegen. Die Menschen gingen nicht mehr zur Arbeit, stiegen stattdessen die Berge hinauf, pflückten Heilkräuter, um sie auf dem Schwarz- markt zu verkaufen. Ich habe Züge gesehen, aus denen die Sitze herausgerissen und die Fenster herausgebrochen waren. Jeder versuchte irgend- wie zu überleben. Damals war die Sicherung der Grenze zu China sehr lax. Wegen des großen Hungers ließen die Grenzpolizisten die Leute einfach ziehen.
Von 1995 an begann das mit den Schwarz- märkten so richtig. Privatmärkte waren auch zuvor nicht verboten, doch sehr beschränkt. Würde die Regierung jetzt die Schwarzmärkte verbieten, würden wieder viele Menschen verhungern.
Auf den Märkten sitzen die Frauen und bieten die Waren feil. Frauen dürfen bei uns Hausfrauen sein, Männer müssen zu ihrer staatlichen Stelle gehen. Dort verdienen sie aber so wenig, dass man sie »Glühbirnen am helllichten Tag« nennt, die braucht ja auch keiner. Frauen machen das Geld, sie haben daher auch mehr Macht.
Es gibt jetzt in Nordkorea viele Möglichkeiten, Geschäfte zu machen. Etwa, indem man Produkte zu staatlich vorgeschriebenen niedrigen Preisen kauft und sie sehr viel teurer auf dem Schwarzmarkt verkauft. In Pjöngjang fahren jetzt Porsche herum, aber ganz ehrlich: Die reichen Leute haben immer gute Kontakte zur Regierung. Die normalen Menschen in Nordkorea haben keine Hoffnung mehr. Wäre es leichter, nach Südkorea zu fliehen, würden alle kommen. Einer von zehn glaubt vielleicht noch an die Regierung.«
DIE ZEIT
Nicht nur der Schwarzmarkt verändert das Land. Sondern vor allem der Schmuggel. 90 Prozent des Handels wird über die chinesische Grenze abgewickelt, darüber dringt vieles, was die Regierung gar nicht gerne sieht: südkoreanische DVDs und MP3s, chinesische Mobiltelefone, mit denen jene, die in grenznahen Regionen leben, dank des chinesischen Netzes ihre Ver- wandten im Ausland kontaktieren können, Schlepper. Lange waren die Nordkoreaner komplett von der Außenwelt abgeschirmt. Das ändert sich jetzt.
Der Propagandist
Jang Jin Sung (Pseudonym), 45, arbeitete in einer Abteilung für psychologische Kriegsführung und war Dichter. Eines seiner Gedichte gefiel Kim Jong Il so gut, dass er ihn zum »Auserwählten« erklärte. Jang floh 2004 nach Seoul, in seinem Buch »Dear Leader« erzählt er von seinen Erfahrungen.
»Ich schätze, dass 70 Prozent der Nordkoreaner die geschmuggelten südkoreanischen Serien schauen. Die Menschen weinen, wenn sie die Serien sehen, sie weinen aber auch, wenn sie Kim Jong Un sehen. Die Tränen für die Stars sind voller Gefühl, die für den Führer ein wenig erzwungen. Wir haben von klein auf gelernt, dass wir so zu reagieren haben, wenn wir die Führer sehen. Und wir wissen, dass die anderen zuschauen und es komisch wäre, wenn du als Einziger nicht weinst. Als ich Kim Jong Il das erste Mal sah, musste ich wirklich schluchzen. Doch das zweite Mal spürte ich, dass es nicht echt war, ich war von meinen eigenen Gefühlen entfremdet.
Die nordkoreanische Diktatur will die Men- schen auch emotional beherrschen. Sie formt die Gesichtsausdrücke der Menschen, bestimmt, wann sie zu lachen und zu weinen haben.
Die Serien verändern die Arbeit der Propagandisten. Sie versuchen jetzt, ihre Werke an- sprechender zu gestalten, emotionaler. Früher haben in den Filmen Männer und Frauen kaum direkt miteinander gesprochen, jetzt umarmen sie sich sogar! Der Inhalt aber bleibt gleich: Der Führer ist göttlich, selbst seine Fettleibigkeit ist göttlich.
Natürlich ist der Einfluss der Serien sehr ge- fährlich für das Regime. Ich glaube, es wird nicht mehr lange stabil bleiben, wegen der Serien und der Schwarzmärkte, vielleicht noch fünf, sechs Jahre, dann kollabiert es. Die Informationen von außen werden den Wandel bringen.«
Die Informationen von innen und jene von außen, sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Lange haben die Nordkoreaner gelernt, dass die Menschen im Süden so viel ärmer seien als sie, jetzt sehen sie in den Serien Stars, die in Villen leben und schnelle Autos fahren.
Die Soldatin
Nathalia (es ist ihr englischer Name), 34, floh 2006 nach Seoul
»Ich war Soldatin in Sinuiju. Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich unbedingt Politikerin werden wollte. Das ist für Frauen in Nordkorea nicht leicht und ich dachte, dass mir ein Armeediplom vielleicht helfen könnte. Ob ich an das System glaube? Ach was! Als Politikerin hast du einfach am meisten Geld und Einfluss. Jeder muss dich schmieren. Geschäftsfrau wollte ich nicht werden, mein Vater hat Geschäfte gemacht, einmal wurde er von Chinesen betrogen und hat sein Geld nicht zurückbekommen. Damals habe ich gelernt, dass du als Geschäftsmann im Zweifel machtlos bist. Als Politikerin kann dir das nicht passieren.
Acht Jahre lang habe ich in der Armee gearbeitet. In der Kommunikationsabteilung. Weil ich so viel Kontakt mit den Menschen von außerhalb hatte, haben mich die Soldaten gefragt, ob ich ihnen nicht DVDs und USB-Sticks be- sorgen könnte. Südkoreanische Serien, Pornos und so was. Die Soldaten lieben Pornos. All diese unterschiedlichen Informationen rufen sehr widerstreitende Gefühle in ihnen hervor. Sie glauben nicht mehr an die Ideologie, aber ein Foto mit dem Führer hätten sie schon gerne. Schließlich haben sie ja ein Leben lang gelernt, dass sie sich nach ihm sehnen sollen. Manchmal kämpft es ganz schön in ihnen.
Als ich nach Südkorea kam, war das kein großer Schock für mich. Ich kannte die kapita- listische Kultur schon von DVDs aus China und Südkorea. Ich habe viele Serien gesehen, in de- nen es um Verbrechen ging, Breaking Bad und so was, Mafia, Drogen und Machtkämpfe. Da- gegen erschien mir das normale Leben doch recht harmlos.«
Von außen betrachtet, erscheint es schwer er- träglich. Da ist ein Regime, das atomar aufrüstet, das das Wohlergehen seiner zwanzig Millionen Untertanen dem eigenen Machterhalt opfert – und man kann nichts dagegen tun? Erstschlag? Ausgeschlossen, da Nordkorea innerhalb von Sekunden Seoul in Grund und Boden bomben könnte. Sanktionen? Funktionieren nur, wenn die Chinesen mitziehen. Austausch? Eine gute Idee, die aber keine schnellen Ergebnisse bringt.
Eines Tages aber wird sich diese Blackbox öffnen. Vielleicht wird das noch Jahre dauern, vielleicht geht es irgendwann sehr schnell. In dem Moment wird die Welt unzählige neue Geschichten hören. Die Nordkoreaner werden beginnen zu erzählen.
Hinter der Geschichte
Die Zeugen: Die fünf Nordkoreaner traf unsere Autorin im süd- koreanischen Seoul. Dort gibt es zahlreiche Nichtregierungsorganisa- tionen, die von geflohenen Nord- koreanern gegründet wurden oder mit ihnen zusammenarbeiten. Die meisten Flüchtlinge sind Frauen, viele haben sich durch Schwarz- marktgeschäfte das Geld für ihre Flucht verdient oder Unterstützung von bereits geflohenen Verwandten erhalten. Den Sushi-Meister Fujimo- to Kenji traf die Autorin in Hakone, Japan. Er konnte Fotos präsentieren, die ihn mit Kim Jong Il und Kim Jong Un zeigen.
Die Glaubwürdigkeit: Die Schilderungen können nicht bestätigt werden. Sie decken sich aber mit Be- richten von anderen Flüchtlingen und Studien der UN. Die Protago- nisten wurden der Autorin von Hilfsorganisationen und Diplomaten als glaubwürdig empfohlen.