Wie viel darf Versöhnung kosten?

Der Völkermord an den Herero und Nama liegt mehr als hundert Jahre zurück. Deutschland will sich jetzt dafür entschuldigen – Namibia reicht das nicht

Energisch schreitet Festus Muundjua die Robert Mugabe Avenue entlang. Vorbei am Morgenverkehr der namibischen Hauptstadt Windhuk. Er ist 81 Jahre alt, doch das sieht man ihm nicht an. Ein Leben lang hat er gejoggt und geboxt. Er hat den afrikanischen Kontinent durchquert, einmal von West nach Ost, mit falschen Pässen und Bestechungsgeld. Und wenn stimmt, was er erzählt, hat er währenddessen auf Bäumen geschlafen und sich mit dem Gürtel an den Stämmen festgeschnallt, damit er nicht herunterfällt.

Muundjua ist ein Befreiungskämpfer. Die erste große Schlacht seines Lebens endete mit einem Sieg: Im Jahr 1990 erklärte Namibia formell die Unabhängigkeit von Südafrika, als dort die Apartheid herrschte. Jetzt will er auch die zweite schlagen: Gemeinsam mit Vertretern der Herero und Nama kämpft er gegen den deutschen Staat.

Muundjua marschiert in einem Pulk von knapp hundert Demonstranten. Einige tragen die prächtige Tracht der Herero, andere jene der Nama. Da gibt es Männer, die sich schwere Ketten um den Hals gelegt haben, und andere, die Holzprügel schwingen. Frauen halten Plakate empor: „Vereinte Nationen, erklärt Deutschland zu einem satanischen Staat!“ Und: „Deutschland beging einen Genozid!“

Von 1884 bis 1915 stand Namibia, das damals Deutsch-Südwestafrika hieß, unter deutscher Kolonialverwaltung. Deutsche Siedler gerieten damals im Wettstreit um Land und Rinder in Konflikt mit den Herero, später auch mit den Nama. Die Herero wehrten sich. Anfang 1904 entsandte die Kolonialverwaltung den Generalleutnant Lothar von Trotha in die Kolonie, dieser hatte sich bereits in Ostafrika und China den Ruf eines gnadenlosen Befehlshabers erworben. Am 2. Oktober erklärte von Trotha: Es werde „jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“ Später sperrte die Kolonialverwaltung Herero und Nama in Konzentrationslager – so wurden die Camps schon damals genannt –, wo knapp jeder Zweite infolge absichtlicher Vernachlässigung und durch Zwangsarbeit starb. Der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer nimmt an, dass 70 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama in diesem Kolonialkrieg den Tod fanden.

Die Auswirkungen spüren die beiden Volksgruppen bis heute. Sie verloren wertvolles Land, ihre Bevölkerungszahl wurde dezimiert. Und weil die Kolonialverwaltung sie mit anderen Ethnien in einen Vielvölkerstaat zwängte, ist ihr politisches Gewicht im Vergleich zur dominierenden Ethnie der Ovambo gering. „Der Opferstatus zieht sich über Generationen hinweg“, sagt Muundjua.

Auf seiner Visitenkarte steht „Minister of Foreign Affairs“, doch ist er ein Minister ohne Land. Er vertritt die Ovaherero Traditional Authority und damit die Anhänger des Herero-Chiefs Vekuii Rukoro. Der führt zusammen mit Muundjua eine scharfe Auseinandersetzung mit den Deutschen. Rukoro nimmt außerdem für sich in Anspruch, der „Paramount Chief“ zu sein, der oberste Führer aller Herero. Tatsächlich gibt es diesen Titel nach der neuen namibischen Verfassung nicht mehr, die anderen Herero-Chiefs weisen seinen Anspruch zurück.

11.746 Kilometer entfernt, im deutschen Münster, denkt Ruprecht Polenz darüber nach, wie sich die Bundesregierung am besten für die einstigen Untaten entschuldigen könnte. Lange saß der 72-Jährige für die CDU im Bundestag, seit knapp drei Jahren verhandelt er im Auftrag der Bundesregierung mit der namibischen Regierung über eine Entschuldigung.

Aus Berliner Sicht ist das eine heikle Angelegenheit. Einerseits möchte die Bundesregierung ein Zeichen der Verantwortung setzen, andererseits will sie eine Kettenreaktion vermeiden. In Griechenland, Polen und Italien hoffen Nachfahren von NS-Opfern noch immer auf Reparationszahlungen. Der Verteidigungsminister Tansanias hat bereits angekündigt, Entschädigungen für koloniales Unrecht zu fordern. Und auch in Togo, Kamerun und in der Südsee verübten deutsche Kolonialtruppen Verbrechen, sie folterten, mordeten und vergewaltigten. Berlin will daher einen Präzedenzfall vermeiden, der Schadensersatzansprüche nach sich ziehen könnte.

Als Polenz im November 2015 vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier gefragt wurde, ob er einen Kompromiss in Namibia aushandeln könne, machte er sich auf die Suche nach Referenzbeispielen. Gab es einstige Kolonialmächte, die bereits ähnliche Verhandlungen geführt hatten? Er konnte nichts finden. „Wir sind unter den Späten die Ersten.“ Über kurz oder lang, glaubt Polenz, würden ähnliche Debatten auch auf andere einstige Kolonialmächte zukommen.

Viele Menschen auf vielen Kontinenten schauen daher gebannt auf diesen Fall, einstige Kolonialmächte und Nachfahren der Opfer.

Polenz will, dass sich Deutschland der Schuld stellt. Muundjua will das ebenso. Die Dinge könnten also ganz einfach liegen. Das tun sie aber nicht. Denn beide Männer vertreten in einer prinzipiellen Frage unterschiedliche Auffassungen: Soll der namibische Staat im Namen der Herero und Nama verhandeln?

Nein, sagt Muundjua. Der Staat Namibia ist eine Schöpfung der einstigen deutschen Kolonialherren, in der die Ethnie der Ovambo, die vom Kolonialkrieg unbehelligt blieb, heute mit etwa 50 Prozent die knappe Mehrheit stellt. Einst waren die Herero nach den Schätzungen des Historikers Zimmerer fast ebenso zahlreich wie die Ovambo. Heute, Generationen nach dem Genozid, stellen die Herero 7,5 Prozent, die Nama fünf Prozent der Bevölkerung. Die Ovambo dominieren den Regierungsapparat, und Muundjua misstraut ihnen zutiefst. „Wir fürchten, dass die Regierung das Geld aus Deutschland für nationale Projekte verwendet“, sagt er. „Es war aber kein namibischer Genozid. Die Opfer müssen für sich selbst sprechen.“ Die Regierung hat den Herero und Nama die Beteiligung an den Verhandlungen als Berater angeboten. Sie haben kein Vetorecht, daher hat Muundjuas Gruppe die Beteiligung ausgeschlagen.

Polenz hingegen beruft sich aufs Völkerrecht. „Wir können nur mit der namibischen Regierung verhandeln. Sie wurde demokratisch gewählt, es ist ihre Sache, wie sie ihre Verhandlungsführung gestaltet.“ Man könne, sagt er, „einen Konflikt in all seinen historischen Verästelungen kennen. Und trotzdem müssen Sie ihn heute lösen.“ Heute, das bedeutet für Polenz: die namibische Regierung als Verhandlungspartner.

Auf dem Verhandlungstisch liegt eine Sprachregelung als Grundlage für eine Resolution des Deutschen Bundestages, „dabei wird auch das Wort Völkermord vorkommen“, sagt Polenz. Mitsamt einer „Bitte um Entschuldigung von hochrangiger deutscher Seite“ sowie einer „substanziellen Summe“ – Zahlen möchte Polenz nicht nennen –, die einer deutsch-namibischen Stiftung zugutekommen soll. Diese soll Erinnerungskultur und den Jugendaustausch zwischen beiden Ländern fördern. Darüber hinaus will sich Deutschland „langfristig vor allem in den Gebieten engagieren, in denen der Völkermord stattfand“, will Berufsbildung, preiswerten Wohnraum, Elektrifizierung fördern sowie sich – auf Wunsch der namibischen Regierung – an der Landreform beteiligen. Noch immer ist das Land in Namibia sehr ungerecht verteilt, Weiße, darunter auch deutschstämmige Farmer, halten gewaltige Ländereien.

Polenz hofft auf eine gütliche Einigung in vertraulicher Atmosphäre. Muundjua, Rukoro und ihre Mitstreiter setzen auf möglichst große Öffentlichkeit.

Die innenpolitischen Machtverhältnisse in beiden Ländern verkomplizieren die Verhandlungen. Was, wenn sie sich so lange hinziehen, bis ein neuer, vielleicht viel rechtslastigerer Bundestag über die Resolution abstimmt? In Namibia hat die Aussicht auf deutsche Zahlungen zu einem erbitterten Machtkampf geführt.

„Kohl sagte uns damals, wir sollten es vergessen“

Die Chiefs der Herero und Nama haben sich anlässlich der Frage, wer die Verhandlungen leiten soll, untereinander verkracht. Einige von ihnen sind damit einverstanden, von der Regierung vertreten zu werden. Für Muundjua sind sie „Marionetten“. Im Jahr 2017 hat Muundjuas Gruppe Klage gegen die deutsche Regierung vor einem Gericht in New York eingereicht. Sollte sie gewinnen, wird die Bundesregierung wahrscheinlich vor den Internationalen Strafgerichtshof ziehen. Aber selbst wenn die Gruppe um Chief Rukoro nicht Recht bekommen sollte, in einem Punkt hat sich der Gang vor Gericht schon jetzt für sie gelohnt, denn ein Konflikt wie dieser wird nicht nur politisch und juristisch, sondern auch medial ausgetragen. Medien aus aller Welt berichteten über den Fall, die Aufmerksamkeit ist gestiegen.

Ursprünglich hatte sich Muundjua für den Genozid nicht interessiert. Wann immer seine Großeltern von früher erzählten, hörte er nur halb hin. „Es ging uns um die nationale Sache. Dinge des Stammes waren für uns nicht sonderlich von Belang.“ Erst nach der Unabhängigkeit gewannen Stammesfragen politisch an Bedeutung. Und Muundjua begann sich mit der Geschichte seines Volkes auseinanderzusetzen. Als er erfuhr, dass Helmut Kohl 1995 nach Namibia reisen wollte, schlug er dem damaligen Herero-Chief Kuaima Riruako vor, Reparationen zu fordern. „Kohl sagte uns damals, wir sollten es vergessen“, erzählt Muundjua.

Aber er vergaß nicht. Im Jahr 2016 – der Bundestag hatte gerade seine Resolution über den Völkermord an den Armeniern verabschiedet – bestätigte die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion, dass es sich bei den Verbrechen gegen die Herero und Nama um Völkermord handele. Stellte jedoch klar, dass sich daraus keine Rechtsfolgen ergäben.

Nur einmal haben Festus Muundjua und Ruprecht Polenz sich persönlich getroffen. Bei einer Versammlung in der deutschen Botschaft in Windhuk 2016, über die unterschiedliche Versionen kursieren. Nach Auskunft der Herero und Nama hätten ihre Vertreter die Botschaft nach 15 Minuten erzürnt verlassen, später beschwerten sie sich in der namibischen Presse über das „arrogante“ Verhalten von Polenz. Dieser hingegen sagt, das Treffen habe 55 Minuten gedauert. Beide Seiten überwarfen sich wegen einer heiklen Frage: Ist der Genozid an den Herero und Nama mit dem Holocaust vergleichbar? Ergeben sich daraus ähnliche rechtliche und finanzielle Pflichten für die Bundesregierung? Für Muundjua ist das der Fall. Wenn sie anders behandelt würden, dann, „weil wir schwarz sind und keine den Juden vergleichbare internationale Lobby haben“.

Polenz sieht das anders. „Der Holocaust war in seiner Motivation und in seinem Vorgehen singulär. Einen industriell organisierten Genozid hat es vorher und nachher nie gegeben.“ Individuelle Reparationen, sagt Polenz, habe die Bundesregierung nur an Opfer gezahlt, die persönlich betroffen waren. „Wir haben es hier aber mit der Ururenkelgeneration zu tun.“ Zudem habe sich der Völkermord vor der UN-Genozid-Resolution von 1948 ereignet. Die Bundesregierung wolle sich ihrer „politisch-moralischen Verantwortung“ stellen, ohne von Reparationen zu sprechen. „Denn dabei“, sagt Polenz, „handelt es sich um einen Rechtsbegriff.“ Die achte Verhandlungsrunde steht im Februar 2019 an. Allerdings ist es sicher, dass sich der Streit noch hinziehen wird.

Veröffentlicht am 16. Dezember 2018 in Die Zeit