Der Zauberei begegnet man im westafrikanischen Senegal allerorten. Sie beschäftigt Studenten, Eheleute, Wrestler und sogar die Politik. Dahinter steckt viel mehr als Aberglaube
Fatou Sy kennt die Nachtseite der Stadt. Die Intrigen und geheimen Sehnsüchte, die Ängste und das Rasen der Eifersucht – all das, was die Menschen einer Wahrsagerin und Zaubererin anvertrauen. Tag für Tag drücken sie sich in ihre winzige Praxis, die ihr gleichzeitig als Schlafzimmer dient. Lassen sich zwischen Bett und Stereoanlage auf dem Boden nieder, schauen erwartungsvoll auf die Kaurimuscheln, die Sy in einen Bastkorb wirft. Mit 13 ist ihr der Geist der Familie zum ersten Mal erschienen, inzwischen ist sie 69. Die Präsidenten kamen und gingen, Sy las aus den Kauris. Gleich einem Arzt, der am Brustkorb eines lungenkranken Kindes horcht, lauscht Sy dem Ziehen und Sehnen der Menschen ihrer Stadt. Und sie konstatiert, dass es heute mehr von ihrer Sorte gibt als früher. Senegal, Land am äußerst westlichsten Zipfel des afrikanischen Kontinents, 16 Millionen Einwohner, 95 Prozent davon Muslime, was viele nicht daran hindert die Zauberer, Wunderheiler, Geisterjäger und Exorzisten zu konsultieren. „Heute gibt es mehr Zauberei als früher“, sagt Sy.
Man kann das schwer mit Zahlen belegen. Unbestritten ist, dass die Nachfrage nach Wundern einen gewaltigen Dienstleistungssektor geschaffen hat, informell und höchst spezialisiert. Doch gibt es keine Statistiken, Umfragen oder gar einen Berufsverband der Zauberer. Religion, Magie und Medizin gehen oft fließend ineinander über. Das Wort Maraboutage bezeichnet neben vielen anderen Expressionen die Zauberei. Ursprünglich stammt es vom arabischen Wort al-murabit ab, so nannte man die missionarischen Soldaten, welche die Berber der West Sahara im elften und zwölften Jahrhundert islamisierten. Als Marabout werden viele bezeichnet: muslimische Geistliche, aber auch alle möglichen Heiler und Magier, ob sie nun mit oder ohne den Koran arbeiten.
Man mag die Existenz eines überbordenden mystischen Dienstleistungssektor in einer Millionenstadt wie Dakar erstaunlich finden. Leben hier doch heute mehr junge Menschen als je zuvor, gut vernetzt und sehr viel besser ausgebildet als ihre Eltern und Großeltern, Leute, die ein modernes urbanes Leben führen. Mehr Menschen benötigen vielleicht mehr Magier, und doch hätte man davon ausgehen können, dass sich die Welt auch im Senegal wie an vielen anderen Orten der Erde entzaubert.
Fatou Sy schüttelt den Kopf. „Die Jungen brauchen die Zauberer, weil die Gesellschaft so kompliziert geworden ist.“ „Früher hatten die Menschen nicht so viele Sorgen, sie fischten, bestellten die Felder.“ Jetzt sei das Leben teuer geworden. „Es gibt viele Menschen und wenige Arbeitsplätze.“ Der Hexer Seydou Nourou, 71, teilt Sys Beobachtung. Seit 40 Jahren praktiziert er sein Metier und wenn er sich recht erinnere, seien die Geschäfte überhaupt noch nie so gut gelaufen. „Es sind die Zeiten. Die Konsumgesellschaft. Jeder will mehr. Jeder hat viele Begehren. Die Frauen wollen keine Nebenfrauen, die Männer wollen immer mehr Frauen.“ Die Angst, der Ehrgeiz, die Eifersucht, sie treiben die Menschen zu den Zauberern.
Der im vergangenen Jahr verstorbene senegalesische Philosoph Ibrahima Sow hat den imaginären Kosmos seiner Mitbürger intensiv erforscht. Er schreibt in seinem Werk „Maraboutage im Senegal“: Sie „ist eine soziale Realität, etwas, auf das die Menschen täglich zurückgreifen, vor allem, wenn es um um Arbeit, Liebe oder soziale Konflikte geht.“ Wenn die Zauberei aber Teil der Wirklichkeit wird, was macht das mit einer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und Politik?
Vor Sy auf dem Boden sitzt Nabou Sow, 32, eine elegante Frau, stets um Fassung bemüht, auch wenn ihr das Leben gerade viel abverlangt. Vor ein paar Monaten forderte ihr Mann, ein in Texas lebender Senegalese, die Scheidung. Er will seine Cousine heiraten. Acht Jahre lang hatte er versprochen, Sow und die beiden Söhne nach Texas zu holen. Und sie hatte davon geträumt, Film zu studieren, „ein Star zu sein.“ Doch immer kam etwas dazwischen. Mal fehlte angeblich ein Dokument, dann trödelten die Behörden, das Geld, das er schickte, wurde immer weniger. Eine geschiedene Frau gilt als gescheitert, auf Wolof, der Verkehrssprache des Senegal, kann das Wort geschiedene Frau auch Prostituierte bedeuten. Nabou schlägt sich und die Kinder mit Übersetzerjobs durch.„Nie hätte er mir so etwas von sich aus angetan“, sagt Nabou. „Die Cousine muss ihn verhext haben.“ Sie beschloss sich zu wehren. Konsultierte Hexer, zwölf an der Zahl. Zehn von ihnen sagten, er werde zurückkehren. Verschrieben Opfer, Talismane und magische Bäder. Sie lieh sich Geld, verkaufte ihren Goldschmuck. Insgesamt investierte sie 500 000 westafrikanische Francs in die Zauberei. Das sind umgerechnet 762 Euro, mehr als die Hälfte des durchschnittlichen jährlichen Pro Kopf Einkommens, das im Senegal bei 1300 Euro liegt.
Der Markt der Wunderheiler bietet Experten für jeden Geldbeutel und jedes nur mögliche Problem. Da gibt es solche, die Geschlechtsteile, Brüste und Hintern vergrößern, und andere, die Schutz vor Gewehrkugeln, Gift, Krankheit und bösen Blicken bieten wollen. Man offeriert Zauber für Liebe, Fruchtbarkeit und Potenz, für Wohlstand, Beliebtheit und eine steile Karriere. Man findet Magier, die Geister austreiben, einen verlorenen Sohn zurückholen oder einen Rivalen in den Wahnsinn treiben. Andere gewähren einen magischen Mantel, der andere verwirren soll – äußerst beliebt bei fliegenden Händlern und all jenen, die unbelästigt von Polizei und Zoll Flughäfen passieren wollen. Die Instrumente der Zauberei sind vielgestaltig.
Es ist längst nicht so, dass jeder Senegalese an Zauberei glauben würde. Und doch finden sich ihre Spuren allerorten. Im Radio sagen Wahrsager Anrufern die Zukunft voraus. Bisweilen entdecken Besitzer begehrter Grundstücke magische Amulette, die sie vertreiben sollen. Im Ringkampf, dem nationalen Volkssport, tritt jeder Kämpfer mit einem vielköpfigen „équipe mystique“ an, das ihm vor dem Turnier in aller Öffentlichkeit einen Zaubertrank nach dem anderen über den Kopf schüttet. Das Fußballspiel Benin gegen Senegal im Zuge der Afrikacup 2019 schreiben die Journalisten zu einem Kampf der nationalen Hexer hoch. Die Vodoopriester Benins lassen ausrichten, sie seien schon aufgrund ihrer fortgeschrittenen Zauberkraft unschlagbar – was sich im Spiel allerdings als falsch erweist. In der Presse finden sich unzählige Geschichten über Scharlatane und Verbrecher, die sich an ihren Kundinnen vergehen. Vor den Wahlen steigert sich die Angst vor Zauberei zur nationalen Psychose. Die Presse berichtet ausführlich von angeblichen Kindsopfern. Die Assoziation der Albinos plädiert per Anzeige in den Zeitungen, ihre Mitglieder zu verschonen. Zwar wurden bislang noch keine gerichtsfesten Beweise präsentiert, doch versetzt der Fund entstellter Leichen, das Verschwinden von Kindern und Albinos die Bevölkerung in höchste Alarmbereitschaft. „Wann immer in dieser Periode der Tod ein Opfer holt, und sei es durch einen Unfall, werden niederträchtige Menschenopfer, mystische Morde für den Nutzen dieses oder jenes Politikers vermutet“, schreibt Ibrahima Sow. „Im magischen Denken geschieht nichts ohne Grund.
Man fürchtet die Hexerei an vielen Arbeitsplätzen – im staatlichen Rundfunksender RTS sollen viele der Angestellten aus Angst vor Zauberei unter falschem Namen arbeiten – keine Domäne aber gilt als hexereiverseuchter als die Politik. Als der frühere Präsident Abdoulaye Wade sich im Wahlkampf weigerte, in Talkshows auf einer anderen Couch Platz zu nehmen als der eigens mitgebrachten, legten dies Journalisten als Angst vor Hexerei aus. Ebenso interpretieren viele die Weigerung des jetzigen Präsidenten Macky Sall mit seiner Familie im Palast zu leben – eine Entscheidung, die eine ganze Reihe weiterer Amtsträger in Westafrika angeblich aus ähnlichen Beweggründen getroffen haben sollen, etwa im benachbarten Gambia. Ja, man begegnet der Maraboutage selbst in einer Welt, die sich doch ganz der Ratio verschrieben hat: der Wissenschaft. Ist an der Universität ein wichtiger Institutsposten zu vergeben, finden sich auf dem Gelände bisweilen Spuren von Zauberritualen. Bei Prüfungen, erzählt Ibrahima Diagne, 51, Leiter der Germanistik an der Universität Cheikh Ante Diop, erschienen viele seiner Studenten mit Talismanen, auf Haaren und Kleidung noch immer Spuren der Zauberbäder. „Die junge Generation glaubt wieder mehr daran. Es ist widersprüchlich. Einerseits wird der internationale Einfluss größer, wenden sich die Junge stärker dem Islam zu, andererseits konsultieren viele von ihnen die Zauberer.“ Er glaubt, dass sie vor allem psychologische Begleitung suchen. „Viele schämen sich, ihre Probleme einem Psychologen anzuvertrauen oder zu einem Freund oder Verwandten zu gehen. Dem Marabout können sie alles erzählen.“
Sie suchen Trost, Versicherung, ein Wunder. „Es geht darum, einen stillen und gefährlichen Kampf gegen die verdeckten und bösen Kräfte zu führen, es ist ein nie endender Kampf gegen die menschliche Angst“, schreibt Ibrahima Sow. „Die magische Welt, geboren um gegen die Angst zu kämpfen, ernährt sich von der Angst.“ Gleichzeitig aber vergrößert sie die Furcht. Denn wo nichts aus Zufall geschieht, weder Unfall, Krankheit noch Tod, wo hinter jedem Unglück ein Übelmeinender stecken muss, erzeugt das Misstrauen immer neues Misstrauen. Im Jahr 2011 veröffentlicht die Website La Sénégalaise einen Artikel unter dem Titel „Wie man es trotz des permanenten „Mystischen Kampfes“ gesund im Senegal schaffen kann“. Darin heißt es:“ Sie fragen sich, wie Sie Ihrem immer lächelnden Landsmann trauen können, der immer so tut, als sei er Ihr Verbündeter…und der doch morgen ein Hexenwerk gegen Sie in Auftrag geben könnte, weil ihn Ihr Erfolg stört.“ Auf den mystischen Angriff folgt stets der Gegenangriff. Ein Sprichwort sagt: „Wer den Frieden will, bereitet den Krieg vor.“
Immer gilt es sich zu schützen. Vor dem bösen Blick, der bösen Zunge. Als mein Freund Héros zum Studium nach Spanien zieht, erzählt er keinem einzigen seiner Kindheitsfreunde von seiner bevorstehenden Abreise. Als meine Bekannte Aminata eine Totgeburt erlitt, heißt ihre Großmutter sie die nächste Schwangerschaft geheimzuhalten. Sie zieht in eine andere Stadt, geht neun Monate lang fast nicht aus der Tür. Als Aminata ihren Mann fragt, ob er sich eine Wohnung gekauft hatte, zischt er: „Wer hat dir das erzählt? Sag es bloß keinem weiter.“ Alle Verwandten seiner wohlhabenden Familie tätigten ihre Investitionen mit größer Diskretion, sagt Aminata. Jeder hütet seine Geheimnisse. „Die Hexerei kommt von der Eifersucht“, glaubt Aminata. „Der Konkurrenz. Das beginnt schon in der Großfamilie. Immer wirst du an den vielen anderen Kinder gemessen.“
Die Großfamilie ist alles. Sie hilft, schützt und nährt, sie maßregelt und straft, sie verlangt die Unterordnung des Einzelnen. Pape Ladické Diouf, ein senegalesischer Psychologe, der in Kanada lebt, spricht von „familiärem Terrorismus.“ Großfamilien, sagt Diouf, schafften Allianzsysteme. Fast immer gäbe es einen Teil der Familie, der mehr oder weniger offen gegen einen anderen kämpfe. Mit ihm konkurriere. „Es ist eine Frage der Macht, es geht darum zu dominieren oder dominiert zu werden.“ Und wie anderswo auch, hätten auch in Afrika Menschen die Religion in den Dienst der Macht gestellt.
Familienkonstellationen in Senegal sind oft äußerst kompliziert – umso mehr, wenn die Familien polygam leben. Mehr als ein Drittel der Verheirateten im Senegal leben in Vielehe. Oft herrscht zwischen den Frauen erbitterte Konkurrenz. „Der Wettbewerb“, sagt Erstfrau Kadia Dia, 39, „erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens.“ Wer ist schöner, wer kocht besser, wer hat mehr erfolgreiche Kinder? „Du bist mit der ganzen Verwandtschaft deines Mannes verheiratet und stehst permanent unter Beobachtung. Du musst zu allen nett sein, selbst zu den Schafen und Hühnern. Gibst du ihnen nicht genug zu essen, heißt es sofort: du bist eine schlechte Frau.“
Was Familienkonstellation so heikel macht, ist das Gebot der Solidarität: sein Einkommen, seine Güter zumindest teilweise mit den anderen zu teilen. Dadurch bleibt leicht einer mit dem Gefühl zurück, nicht genug abbekommen zu haben. Da ist die Zweitfrau, die glaubt, sie und ihre Kinder würden benachteiligt. Der Cousin, der meint, zu wenig vom Aufstieg seines Verwandten profitiert zu haben. Die Ehefrau des weniger erfolgreichen Bruders, der der Frau des erfolgreichen die schöne Garderobe neidet.
Kinder nähmen diese Spannungen von klein auf wahr, sagt Diouf. „Sie wachsen mit einem unendlich feinen Gespür für soziale Beziehungen auf. Das macht sie einerseits sehr resistent und sozial hochkompetent.“ Andererseits lernten sie schnell, dass ihre Authentizität nicht gefragt sei. Sie sollen sich anpassen. „Sie beginnen Masken zu tragen – für jede Situation eine andere. Sie sind wie Chamäleons.“ Und manchmal verlören sie sich selbst dabei. „Von Klein auf setzt man den Kindern in den Kopf, dass es in ihrer Familie einen Feind gibt.“ Jemand, der ihnen jeden Erfolg und jedes Glück missgönne, der sie heimlich verzaubern könne. „Es gibt das Sprichwort: Das Messer, das dich töten wird, es wird von einem Mitglied deiner Familie gehalten. Man lebt stets in einem leicht paranoiden Zustand.“ Deshalb, sagt Diouf, trügen die Menschen Masken. Sie verteilen ihre Habe, aus Großzügigkeit, Religiosität, um ihren guten Ruf zu wahren. Aber auch um sich zu schützen: „Es gibt ein Sprichwort“, sagt Diouf. „Wenn du gut bist zu einem, der dir Böses will, wird sich der Fluch gegen ihn richten.“
Einerseits hält die Solidarität eine Gesellschaft zusammen, in der es kein funktionierendes staatliches Sozialsystem gibt. Sie bewahrt die Armen, Kranken und Alten vor dem sozialen Fall, gibt den Menschen Halt und Identität. Doch weil Gewinne gleich verteilt werden müssen, bleibt wenig Kapital für Investitionen. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt Diouf. „Es hemmt den wirtschaftlichen Aufschwung. Statt Produzenten zu werden haben wir einen Konsumentengeist entwickelt. Wir inspirieren unsere jungen Leute nicht dazu, Unternehmer zu werden. Dabei sind sie doch unsere wertvollste Ressource.“
Der in Dakar lebende Schweizer Ethnologe und NZZ Korrespondent David Signer hat ein Buch über den Zusammenhang von Wirtschaftsentwicklung und Hexerei geschrieben „Die Ökonomie der Hexerei“. Signer ließ sich drei Jahre lang in Mali und der Elfenbeinküste zum Hexer ausbilden. Aufstieg und soziale Mobilität gälten als gefährlich, argumentiert Signer, weil sie den Neid der Zurückgebliebenen hervorrufe. Also mache man sich am besten klein oder suche sein Glück woanders. „Das afrikanische Leben, vor allem das dörfliche, zeichnet sich durch eine extreme verwandtschaftliche Solidarität (paradiesische Nähe) und eine extreme verwandtschaftliche Konfliktsituation (höllische Nähe)“, schreibt Signer. „Die Hölle, das sind die anderen – aber ohne sie wäre man nichts.“ Er zitiert die Ethnologin Suzanne Lallemand, die Familienstrukturen in Togo untersuchte und dort auf eine Großzügigkeit stieß, die man an vielen Orten des Kontinents finden kann, und die sie „Liebespflicht“ nennt. Man teilt seinen Besitz, nimmt entfernte Verwandte auf, um sie monate- manchmal jahrelang durchzufüttern, und versucht alle negativen Gefühle zu unterdrücken. Doch natürlich gibt es sie. Für Lallemand liegt im Widerspruch zwischen vorgeschriebenem und realem Gefühl der Ursprung der Figur der Hexe. Sie vereint die unausgelebte Aggressivität der ganzen Gemeinschaft. „Vor dem Hexer gäbe es keine Sicherheit“, sagt Signer. „Er kann durch Mauern durchlaufen und unter Wasser gehen. Moral wird durch Kraft ersetzt.“ Eine seiner Lehrerinnen habe die Geister mit einer Mafia verglichen. Eine macchiavellistische Welt im permanenten Konfliktzustand. Doch „was im Hexereiglauben individualisiert und dem Neid einer einzelnen, erfolglosen Person zugeschrieben wird, ist in Wahrheit die anonyme zurückbindende Kraft der konservativen Hierarchie“ schreibt Signer. Denn der Hexereiglauben richtet sich nicht gegen den Mächtigen, sondern nur gegen den Aufsteiger.
Er schütze damit, argumentiert der französische Psychologe Jean-Marie Delacroix, das Gesetz der Ahnen und zementiere die Macht der Alten. Er vereitele den Versuch von Veränderung, indem er den direkten Ausdruck von Aggression verhindere. Konflikte werden stattdessen ins Reich des Imaginären verbannt. Zauberei, schreibt der Kameruner Ökonom Daniel Etounga Manguelle, „ist ein kostspieliger Mechanismus, um Konflikte zu regeln und den Status quo zu erhalten. Hexerei ist sowohl ein Instrument des sozialen Zwangs als auch ein bequemes politisches Instrument zur Eliminierung jeder Opposition. Hexerei ist ein psychologischer Zufluchtsort, wo all unsere Unwissenheit Antworten findet und unsere wildesten Fantasien Wirklichkeit werden.“
Alle Gesellschaften befänden sich permanent im Konfliktzustand, schreibt Signer. Doch während moderne Gesellschaften diesen als Motor für Entwicklung nutzten, versuchten traditionelle diesen Wandel zu verhindern und zu leugnen. Dies führe zu einem Zustand, „der im dörflichen Kontext stabilisierend gewesen sein mag, aber unter den Bedingungen von freier Marktwirtschaft und Demokratie eine Lähmung für jede Eigeninitiative bedeuten muss.“
Eine traditionelle Gesellschaft ist die senegalesische schon lange nicht mehr. Sie ist hochkomplex, traditionelle, religiöse und westliche Wertesysteme kollidieren, überlagen und verstärken sich.
Jede Familie ist anders, Prozesse der Individualisierung nehmen ihren Lauf. Und letztlich stellt der Gang zum Hexer oft nur einer von vielen Versuchen dar, irgendwie mit einer komplizierten Gegenwart zurechtzukommen.
Nabou Sows Mann jedenfalls ist immer nicht zurückgekommen – all der Zauberei zum Trotz. Sow sagt, sie sei trotzdem nicht enttäuscht. „Wenigstens habe ich ein ruhiges Gewissen. Hätte ich nichts unternommen, hätte ich mir Vorwürfe gemacht. Wenn er trotz all der Zauberei nicht zurückkommt, dann weil es Allahs Wille ist.“