Was, wenn der Krieg kommt?

Die Band Mong Tong @ Manbo Key

Junge Menschen in Taiwan wachsen mit der Angst auf, dass ihr Land von China angegriffen werden könnte. Das wäre das Ende ihrer Freiheiten. Trotzdem halten sie an ihrem Optimismus fest

Tim Lu, in Yilan

Tim Lu schiebt sein Fahrrad durch einen Park in Yilan, einer Stadt zwischen Bergen und Meer im Norden Taiwans, sie hat eine halbe Million Einwohner. Hier, am Ufer eines Sees, erzählt er, sitzen sie abends oft zusammen. Seine Freunde und er. Das Gras so grün, der See so blau, die Schwäne so weiß. Anders als in vielen europäischen Ländern liegt kein Abfall herum, keine Bierflaschen oder Zigarettenstummel. Kinder spielen leise kichernd mit ihren Großeltern.

An ihren Abenden im Park, sagt Tim, hören sie zusammen Musik, lachen und plaudern: über die Schule, das Verliebtsein, darüber, dass sie jetzt, mit 18 Jahren, bald alle ein neues Leben beginnen werden. Fast nie, sagt er, sprechen sie darüber, dass ein Krieg kommen könnte.

Tim Lu hat immer viel vor: Er geht auf eine Waldorfschule – Theaterprojekte, ein Schmiedekurs, Basketball. Sein Podcast „Die Stimme der Highschool“ hat 200 Hörer. Die nahe Zukunft ist für ihn aufregend, euphorisierend, bisweilen auch etwas furchteinflößend: Abitur, dann Work and Travel in Australien, nach seiner Rückkehr will er in Taiwan Sportjournalismus studieren. Schnell denken, schnell reden, das kann er. Seine Lehrer haben ihm gesagt, dass er sehr gut formuliere, „das hat mich glücklich gemacht“, sagt er. Er diskutiert gern über die großen Fragen, etwa: Was ist das gute Leben?

Tim Lu ist in einem der reichsten Länder der Welt aufgewachsen, in einer Demokratie. Er hat Talente, Ideale, Zukunftspläne, gute Freunde, ein besonders enges Verhältnis zu seinem Vater. Seine Lehrer, sagt er, seien so idealistisch, „dass sie sich sogar in ihrer Freizeit um uns kümmern“.

Doch manchmal schiebt sich ein Gedanke in sein Bewusstsein: Was, wenn der Krieg kommt? Was, wenn er kämpfen muss? „Ich kann mir nicht vorstellen, ein Gewehr in die Hand zu nehmen“, sagt er. „Auf jemanden zu schießen. Ein Mörder zu sein.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich will nicht sterben.“ Er kneift die Augen zusammen. „Mein erster Gedanke wäre: fliehen. Doch meine Familie ist hier. Wenn wir alle fliehen könnten, gemeinsam, dann wäre das großartig. Ich weiß, dass es egoistisch klingt, aber das wäre gut.“ Doch wo, fragt er, sollten sie denn hin? „Das hier ist meine Heimat. Wenn die Chinesen kommen, uns unterdrücken, dann würde ich sehr wütend werden. Und mit dieser Wut im Bauch könnte ich mir dann vielleicht doch vorstellen, in den Krieg zu ziehen.“

Ein Leben lang hat man Tim beigebracht, Konflikte friedlich zu lösen. Er mag keinen Streit. Und jetzt soll er lernen zu schießen?

Tim Lu @Manbo Key

Tim kennt den Ursprung des Konflikts aus den Erzählungen seiner Eltern. Von 1927 bis 1949 hatten sich Chiang Kai-shek und Mao Zedong und ihre Parteien, die Kuomintang und die Kommunisten, im Chinesischen Bürgerkrieg zerfleischt. Nachdem Chiang 1949 unterlegen war, packte er Kunstschätze und andere Reichtümer auf Schiffe, zwei Millionen Menschen setzten nach Taiwan über, wo größtenteils Chinesen lebten, die früher übergesiedelt waren. Sowohl Kuomintang als auch Kommunisten erklärten sich zum Vertreter des wahren China und gelobten, den Gegner eines Tages zu besiegen. Chiang errichtete auf Taiwan eine Diktatur, erst 1996 fanden die ersten freien Präsidentschaftswahlen statt. Auch wenn China das nicht anerkennt: Taiwan ist faktisch unabhängig.

Als Tim im Jahr 2005 auf die Welt kam, war China bereits auf dem Weg zur Weltmacht und rüstete kräftig auf. Taiwan hingegen wurde friedlicher, verkürzte den Wehrdienst. Nun schickt die Regierung in Peking beinahe täglich Militärflugzeuge in die taiwanische Luftverteidigungszone, Chinas Parteisekretär Xi Jinping drängt zunehmend bedrohlich auf eine Wiedervereinigung, der Economist nennt Taiwan den gefährlichsten Ort der Welt, weil hier die beiden Supermächte USA und China aufeinandertreffen könnten. Die Taiwaner nahmen all das lange mit erstaunlicher Gelassenheit. Seit Wladimir Putin seine Armee in der Ukraine einmarschieren ließ, beginnen sich jedoch auch viele bis dahin eher entspannte Menschen Sorgen zu machen. Als die taiwanische Regierung im vergangenen Dezember entschied, die Wehrpflicht von vier Monaten auf ein Jahr zu verlängern, waren fast 80 Prozent der Menschen dafür.

Auch Tim wird seinen Wehrdienst bald ableisten müssen. Sobald er sein Studium beendet hat, muss er für ein Jahr zum Militär. „Die Hälfte der Schüler unserer Klasse ist im Jahr 2004 geboren“, erzählt Tim. „Ich bin 2005 geboren und muss im Gegensatz zu ihnen ein Jahr Wehrdienst machen. Meine Freunde haben mich ausgelacht.“ Tim seufzt. „Wenn der Sinn des Wehrdiensts wäre, fit zu werden und Freunde zu finden, dann gern. Aber Krieg?“ Die Vorstellung, in einem Krieg gegen die Volksrepublik China als Soldat zu dienen, ist nicht nur für Tim Lu furchterregend: eine Insel mit 23,5 Millionen Einwohnern gegen eine technologisch hochgerüstete Supermacht von 1,4 Milliarden Menschen. Die Insel wäre leicht vom Rest der Welt abzuschneiden. Dann stünden die taiwanischen Soldaten dem Gegner allein gegenüber. Taiwans Verbündete könnten Invasionstruppen höchstens von außen angreifen.

„Wir haben mit den Chinesen doch gar keine Probleme, nur mit ihrer Regierung“, sagt Tim. „Ich weiß gar nicht, wie China ist, ich war da noch nie. Wir sollten widerstehen, aber bis zu welchem Punkt? Ja, wenn uns die USA helfen würden und die ganze Welt … Aber was, wenn nicht?“

Salizan, Liugui

Salizan tanzt. Die Arme des 24-Jährigen wirbeln durch die Luft, fahren lasziv seinen Kopf entlang, er dreht den Oberkörper, lässt die Hüften kreisen, als stünde er mitten in einem Club auf einer Bühne, als blitzten dort die Lichter eines Stroboskops – doch er tanzt allein im Wohnzimmer seiner Familie, in Liugui, einer abgeschiedenen Ortschaft mit 13.000 Einwohnern, tief im Süden Taiwans. Er dreht sich vor einer Wand voller Fotos verstorbener Ahnen, vor einem Stickbild des Abendmahls mit der Aufschrift „Christus ist der Herr dieses Hauses“. Die Familie gehört zur christlichen Minderheit in Taiwan; die größten Religionen hier sind Buddhismus und Daoismus. Ein Sammelsurium im Wohnzimmerschrank: Whiskyflaschen des Großvaters, blonde Puppen in Plastikverpackung, der Schädel eines Schweins, „vielleicht ein Wildschwein“, sagt Salizan, „jedenfalls hat es mein Großvater einst gejagt“. Und dazu noch die Pokale, die Salizan als Tänzer gewonnen hat.

Salizan und seine Familie sind vom Stamm der Bunun. Die Bunun und weitere austronesische Völker lebten in Taiwan, lange bevor die ersten Han-Siedler vom Festland kamen. Die verdrängten die Ureinwohner, die Yuanzhumin, manche Stämme verschwanden. Inzwischen machen die Ureinwohner nur noch zwei Prozent der Bevölkerung aus. Salizan hat auch einen chinesischen Namen, Hung Yu-Chun.

„Die Bunun feiern mehr als alle anderen Völker den starken Mann, der bereit ist, allein zu jagen“, sagt Salizan. Er fühlt sich auch als Mann, aber nicht immer. „Heute fühle ich mich mehr als Mann, beim Tanzen mehr als Frau, deshalb liebe ich das Voguing so sehr: Weil ich machen kann, was ich will, weil ich ausdrücken kann, was ich im Innersten fühle.“

Salizan © Manbo Key

Salizan lernte als Kind die traditionellen Tänze und Gesänge der Bunun. Er war acht oder zehn, als er in einem Musikvideo einer taiwanischen Popsängerin das Voguing entdeckte, einen Tanzstil, den schwule Schwarze und Latinos in den Siebzigerjahren in New York entwickelten. Sie ließen sich dabei von den Posen der Models in der Modezeitschrift Vogue inspirieren, daher der Name. „Ich war verzaubert“, sagt Salizan. „Es hat so viel Kraft und ist gleichzeitig so elegant.“ Er lernte den Tanzstil, indem er alle YouTube-Videos dazu ansah, die er finden konnte. „Anfangs war ich allein, dann aber steckte ich meine Freunde an, und auch sie begannen zu voguen.“ Wenig später entdeckte Salizan, dass ihn Männer mehr anzogen als Frauen. Er tanzt jeden Tag, „egal, ob ich traurig, wütend oder glücklich bin“. Der Tanz habe ihm die Fähigkeit geschenkt, seinen Körper zu lieben, „egal, ob dick oder dünn“. Seine Videos, gefilmt im Wohnzimmer oder in Clubs, lädt er auf Instagram hoch.

Salizan hat in verschiedenen Städten gelebt, Tanz studiert und das queere Leben genossen. Doch weil ihm schließlich Taipeh viel zu teuer wurde, ist er vor zwei Jahren wieder zurück zu seiner Familie aufs Land gezogen. Er suchte sich einen Job an der Rezeption eines kleinen Krankenhauses. Er will Geld sparen, denn er möchte im Ausland auftreten, am liebsten in New York, dem Geburtsort des Voguing.

Im Bezirk Liugui spaziert Salizan vorbei an Rentnern, die in der Sonne dösen, und während er geht, tanzen seine Arme weiter durch die Luft. Im Bambuswald über seinem Kopf spielen Affen, Schmetterlinge flattern umher, tropische Sträucher blühen am Straßenrand. Liugui und Umgebung sind paradiesisch schön – wie so viele Orte dieser Insel, die portugiesische Seefahrer einst „Formosa“ nannten, „die Schöne“. Salizan atmet tief ein und sagt: „Fühlt sich soooo gut hier an, oder?“

Niemand in Liugui scheint sich groß an Salizans Auftreten zu stören, an seinen blauen Kontaktlinsen und den blond gesträhnten Haaren. Nie habe er sich hier diskriminiert gefühlt, sagt er.

2019 erlaubte Taiwan Homosexuellen als erstes Land Asiens die Ehe, die jährliche Pride Parade in Taiwan ist die schillerndste des Kontinents. „Für mich persönlich ist das Gesetz nicht so wichtig“, sagt Salizan. „Ich will nicht heiraten. Ich verliebe mich nicht. Ich bekomme viel Liebe von Familie und Freunden. Man kann auf so viele Arten Liebe spüren, durch Malen, Tanzen, Musikhören.“

Salizan kann sich inzwischen vorstellen, die Prüfung für eine Beamtenlaufbahn zu machen. „Meine Freunde fragen: Wie soll das denn gehen: ein voguender Beamter?“ Salizan lächelt: „Aber ich sage: Wieso? Ist doch lustig.“

An den Wochenenden packt er seine Ausgehsachen in eine Tasche, nimmt den Bus zur nächstgelegenen Station der Hochgeschwindigkeitsbahn, immerhin 90 Bushaltestellen entfernt, und fährt zu seiner Tante in Taipeh. Dort verwandelt er sich mithilfe von Make-up und schriller Kleidung, geht zu den balls, den Voguing-Wettkämpfen, zur großen queeren Party. Die Tante begleitet ihn. „In Liugui lade ich meine Batterie auf, in Taipeh aber brenne ich“, sagt Salizan. Es sei wie ein Spiel. „Ich habe mein Gleichgewicht gefunden.“

Salizan tänzelt zwischen den Extremen der Insel hin und her, zwischen Nord und Süd, Stadt und Land, einer Kultur, die den starken Mann feiert, und einer, in der die Grenzen zwischen Mann und Frau verschwimmen. Folgt man Salizan, beginnt man zu begreifen, wie vielschichtig der taiwanische Kosmos ist. Taiwans Lage weckte schon früh den Ehrgeiz fremder Mächte, die Insel ist von vielen Kulturen geprägt. Von Ureinwohnern und Chinesen, von Portugiesen, Niederländern, Spaniern, von der einstigen japanischen Kolonialmacht und den amerikanischen Verbündeten. Und je härter Xi Jinping auf dem Festland durchgreift, desto mehr präsentiert sich Taiwan als das andere China: offen und vielfältig. Folgt man Salizan, begreift man aber auch, dass man hier leben kann, ohne sich im Geringsten Sorgen über einen Krieg zu machen. Politik, sagt er und zuckt die Achseln, interessiere ihn nicht. „Drohen sie nicht schon so lange, dass sie uns einnehmen werden, und nichts ist passiert? Wenn es passiert, dann passiert es eben. Das geht die Regierung an, aber nicht uns normale Leute.“

Bailey Ye, Taipeh

Es ist Samstag, Bailey Ye, 27, könnte in Frieden vor einem der Videogames sitzen, die sie so sehr liebt. Könnte sich ganz in dieses andere Universum fallen lassen, drei Tage und Nächte am Stück kaum schlafen, wie sie es als Jugendliche oft tat, und die Welt da draußen vergessen. Denn was da draußen passierte, so sah sie das früher, ging sie nicht viel an.

Stattdessen sitzt sie nun an einem Tisch im Flur des Informatik-Instituts der Universität Academia Sinica und versucht, Wildfremde dafür zu begeistern, sich für die Demokratie einzusetzen. Sie wirkt ein wenig schüchtern dabei, und doch macht sie ihre Sache gut, lächelt, sucht Gemeinsamkeiten mit den Menschen, die hierhergekommen sind, um sich von ihr aufzuklären lassen.

Politik war ihr lange egal, so wie den meisten Informatikstudierenden um sie herum. Dann kam das Jahr 2019: „Wenn ich den Fernseher anmachte, sah ich die Menschen in Hongkong demonstrieren“, sagt sie. Zwei Millionen der 7,6 Millionen Bewohner Hongkongs gingen damals auf die Straße. Sie versuchten sich dagegen zu wehren, dass Peking ihnen die demokratischen Rechte nahm, die ihnen bei der Übernahme Hongkongs im Jahr 1997 zugesichert worden waren. „Ein Land, zwei Systeme“ hieß die Formel, nach der Hongkong für weitere 50 Jahre seine liberale Gesellschaftsordnung behalten sollte. Nun aber wurden Freiheiten Stück für Stück beschnitten: Pekings Statthalter-Regierung wollte ein Gesetz durchbringen, das es ermöglicht hätte, Bürger Hongkongs nach China auszuliefern. „Es war so schlimm“, sagt Bailey. „Wie die Polizei Demonstranten mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Plastikgeschossen auseinandertrieb, Menschen verhaftete. Wie sie eine Uni umstellten und einige der Studenten versuchten, über die Abwasserkanäle zu fliehen.“ All das könnte auch in Taiwan geschehen, dachte sie. „Auch uns Taiwanern hat Peking die Formel ›Ein Land, zwei Systeme‹ angeboten.“

Taiwan: Bailey Ye, 27, engagiert sich als Informatikerin und Hackerin für eine Organisation, die die Demokratie stärken will. Mit ihren Mitstreitern arbeitet sie an einer Informationsplattform zur Präsidentschafts- und Parlamentswahl im nächsten Jahr.
Bailey Ye  © Manbo Key

Bailey beschloss, etwas zu tun. Ein Studienfreund nahm sie mit zu einem Hackathon von g0v, einem Hackerkollektiv. Mithilfe von Open-Source-Software, deren Quellcode frei verfügbar ist, wollen die bürgerlichen Hacker einen Beitrag zur Demokratie leisten. Indem sie etwa Wahlspenden an taiwanische Politiker öffentlich machen, Nothelfer im Falle eines Zugunglücks organisieren oder Desinformation in sozialen Medien bekämpfen.

Heute, vier Jahre später, ist Bailey noch immer als Hackerin dabei.

Und so saß sie an diesem Samstagmorgen eine Stunde zuvor mit etwa hundert Mitstreitern in einem Hörsaal des Instituts, alle hatten Laptops auf ihrem Schoß und stellten sich reihum vor: KI-Ingenieure und Expertinnen für Maschinenlernen und Robotik, Ärzte, Philosophen, Spezialisten für Datenvisualisierung, Juristinnen, Spiele-Designer, Ökonomen, Finanzexpertinnen. „Software-Ingenieurin“, sagt Bailey, als sie an der Reihe ist. Sie alle sind hierhergekommen, um ihre Zeit und Expertise in den Dienst der Allgemeinheit und der Demokratie zu stellen. Die meisten verdienen gut – so wie Bailey, die für eine Werbefirma Websites entwickelt. Alle zwei Monate treffen sich die Mitglieder von g0v. Sie verbinden Technologie, Bürgersinn und Aktivismus zu einer aufregenden Melange – und weil eine der Hackerinnen, Audrey Tang, Digitalministerin geworden ist, wirkt dieses Denken auch in die Regierung hinein. In den mehr als zehn Jahren ihres Bestehens haben sie über 900 Projekte zu den unterschiedlichsten Themen angestoßen.

Zwei junge Frauen setzen sich zu Bailey Ye an den Tisch. „Wir arbeiten an einem digitalen Wahlführer“, erklärt sie den beiden. „Der soll den Wählern helfen, ihre Entscheidung zu treffen, wenn wir im kommenden Januar den Präsidenten und die Parlamentsabgeordneten wählen.“ In Taiwan, sagt Bailey, würden Wahlkämpfe immer sehr konfrontativ und emotional geführt: „Es gibt sehr wenige objektive Informationen. Wir wollen die Orientierung bieten, die wir selbst vermissen.“ Im Wahlführer sollen so viele Informationen wie möglich über die Kandidaten zugänglich gemacht werden. Dazu durchforsten Bailey und ihre Mitstreiter Websites, Parlaments- und Regierungsdatenbanken, finden heraus, wie Abgeordnete in der Vergangenheit abgestimmt haben. Für all das, erklärt Bailey den beiden Frauen, „brauchen wir freiwillige Rechercheure“.

Die drei Frauen geraten ins Plaudern. Sie landen bei der Sonnenblumenbewegung von 2014, die ihre Generation prägte. Damals besetzten Studenten 24 Tage lang das Parlament, weil sie sich von der Politik verraten fühlten. Präsident Ma Ying-jeou und seine Partei Kuomintang strebten damals ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der Kommunistischen Partei Chinas an. Die Studenten fürchteten, dass China Taiwan schleichend übernehmen könnte. Die Hacker von g0v vernetzten die Studenten, der Protest wurde live gestreamt. Am Ende trugen sie einen Sieg davon, das Freihandelsabkommen wurde gekippt. „Ich wäre damals so gerne hingegangen“, erzählt Bailey den beiden Frauen. „Doch ich war erst 18, und meine Eltern ließen mich nicht hin, sie fürchteten, dass es zu Zusammenstößen kommen könnte.“ – „Ging uns genauso“, sagen die beiden Frauen, die beide in Baileys Alter sind.

Bailey stieß zu dem Projekt kurz vor den Wahlen 2020. „Ich hatte Angst, dass die Kuomintang gewinnt und uns näher an China heranführt.“ Schon damals stellten sie ihren Führer zusammen. „Das Projekt hat mich verändert. Ich frage jetzt alle, ob sie gewählt haben. Ich finde aber nicht, dass wir alle das Gleiche wählen müssen.“

Nur mit zwei Menschen spricht Bailey nicht über Politik: mit ihren Eltern. „Ich habe Angst, dass ich sie verletze.“ Ihre Eltern sind aufgewachsen, als Taiwan noch eine Diktatur war. „Sie haben den Terror miterlebt und wie Nachbarn verhaftet wurden.“ Chiang Kai-sheks verfolgte Kommunisten und Andersdenkende. Er verhängte das Kriegsrecht, das sein Sohn erst 1987 aufhob. „Meine Eltern verhalten sich“, sagt Bailey, „als wären wir noch immer in einer Diktatur.“ Chiang Kai-shek wollte auch die alteingesessenen Taiwaner auf Linie bringen. Viele von ihnen sprachen nach Jahrzehnten japanischer Kolonialzeit kein Hochchinesisch mehr, sondern Taiwanisch, einen südchinesischen Dialekt. Der war von nun an in der Schule verboten. Chiang Kai-shek hoffte, eines Tages China zurückzuerobern. Taiwan war für ihn nur eine winzige Insel des großen Reichs.

„Wir wurden von der Kuomintang gezwungen, uns als Chinesen zu fühlen“, sagt Professor Yu Ching-hsin vom Electoral Study Center an der National Chengchi University in Taipeh. Sobald dieser Druck nachließ, änderte sich das. Noch vor 30 Jahren verstanden sich nur 18 Prozent der Menschen ausschließlich als Taiwaner, inzwischen sind es mehr als 60 Prozent, unter den Jungen sogar über 83 Prozent.

Es sind Zahlen, die die Regierung in Peking nervös machen. Die wenigen, die noch von einer Wiedervereinigung mit China träumen, sterben bald. Nur noch sechs Prozent der Bevölkerung können sich das vorstellen. Weil die Regierung in Peking für den Fall, dass sich Taiwan formell unabhängig erklärt, mit Krieg droht, wollen fast 85 Prozent der Taiwaner den Status quo beibehalten. Gleichzeitig feiern die jungen Taiwaner ihre Identität mit Hingabe. Wenden sich der eigenen Kultur und Geschichte zu, zelebrieren die Küche Taiwans, die Musik, das Theater und die Literatur, das architektonische Erbe, die Teehäuser, Cafés und Bars. Darin schwingt auch Widerstand mit: Wir sind nicht China.

Bailey Ye erzählt, dass sie kürzlich an einem Überlebenstraining teilgenommen habe. Neuerdings werden viele solche Kurse in Taiwan angeboten. Sie lernte Erste-Hilfe-Maßnahmen und erfuhr, wo man im Fall eines Bombenangriffs Zuflucht findet. „Die meisten, die da mitgemacht haben, glauben, dass es keinen Krieg geben wird“, sagt sie. „Die Atmosphäre war recht fröhlich und entspannt. In Taiwan verwenden wir das Wort wan für diese Kurse, das bedeutet ›spielen‹. Wir sagen: Komm, lass uns Überlebenstraining spielen.“

Hung Chün-yü und Hung Chün-chi, Taipeh

Lange war den Brüdern Hung Chün-yü, 33, und Hung Chün-chi, 29, gar nicht bewusst, auf welchem Schatz sie da sitzen: all die merkwürdigen Riten und Kulte, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatten. Die Begräbnisfeier des Großvaters, auf der sich ein Zeremonienmeister auspeitschte, um einen Wasserfluch zu vertreiben. Die professionellen Klagefrauen, die für Geld am Boden kriechend die Toten beweinten. Das Schwein, das Gläubige zu aberwitziger Größe mästeten, um die Götter zu erfreuen. Die Stripperinnen, die engagiert wurden, um zu Ehren dieses Schweins eine Stripshow aufzuführen. Der wabernde Sound der Keyboards, der damals aus vielen Tempeln drang und der heute in die Musik einfließt, die sie mit ihrer Band Mong Tong machen.

Mong Tong © Manbo Key

Das überbordende religiöse und mystische Leben, das sich mit dem Wirtschaftswachstum im Taiwan der Achtziger und Neunziger entfaltete, erschien den Brüdern damals normal. „Erst als wir nach Taipeh zogen und unseren ausländischen Freunden davon erzählten, merkten wir, wie extrem das alles ist“, sagt Chün-yü.

Mit seinem Bruder Chün-chi sitzt er in dessen Laden, einem winzigen Blumengeschäft, auf dessen Regalen sich Terrarien aneinanderreihen. Jedes von ihnen beherbergt ein winziges Universum aus Farnen, Schlingpflanzen, Bambus und Moosen. Kleine Wälder und Berge, verwunschene Dickichte, geheimnisvolle Feenwelten. Noch können die Brüder nicht von ihrer Musik leben. Deshalb betreibt Chün-chi, der Finanzwissenschaften studiert hat, mit einem Freund diesen Blumenladen. Chün-yü, der einen Abschluss in Anglistik hat, jobbt in einem Geschäft, das Teleskope verkauft. Ihre Leidenschaft ist Mong Tong, ihre Psychedelic-Rock-Band. Chün-yü, Locken, Brille, wacher Blick, ist Produzent und spielt Bass. Chün-chi, lange Haare, offenes Lächeln, spielt Gitarre und Keyboard. Beide spielen Synthesizer. Mong Tong ist eine Feier des Mysteriums. Was die Brüder bewegt, ist nicht so sehr Religion an sich, sondern das Schräge, Absurde, Geheimnisvolle in einem Land, dessen Volksreligion, der Taoismus, unzählige Götter, Geister und Kulte kennt.

In den Achtziger- und Neunzigerjahren, erzählt Chün-chi, liefen in Taiwans Fernsehen Shows, in denen Geisterbeschwörer vor laufender Kamera mit Toten kommunizierten. Mong Tong sampeln Video- und Tonspuren der alten Sendungen. „Unsere Rache am Kapitalismus“, sagt Chün-yü und lacht: „Wir nutzen das billigste Unterhaltungsfernsehen und recyceln es.“ Die Band ist ein Gesamtkunstwerk. Bei Auftritten tragen die Brüder Augenbinden, eine Hommage an einen Kult, dessen Anhänger mit verbundenen Augen mit Toten sprechen.

Als sie 2019 eine Tour durch Europa machten, erzählt Chün-chi, „kannten viele Leute Taiwan nicht. Bei unserer Tour im vergangenen Jahr kannten es alle. Viele sprachen uns Mut zu.“ Die Zukunft sehen beide Brüder pessimistisch, ein Gutes aber habe die internationale Aufmerksamkeit: Taiwanische Künstler könnten sie nutzen, um die Musik, Literatur und Kultur ihres Landes bekannt zu machen. Und das ist ziemlich wichtig für ein Land, das nur von zwölf Ländern weltweit und dem Vatikan offiziell anerkannt wird.

Mong Tong erzählen mit ihrer Musik und ihren Inszenierungen indirekt auch etwas über China, denn die meisten Götter des taiwanischen Pantheons, die Kulte, die Bräuche stammen ursprünglich vom Festland. Doch viele von ihnen findet man dort gar nicht mehr. Tempel und Statuen wurden in der Kulturrevolution zerstört, Mönche und Nonnen geschlagen und umerzogen. Heute wird das religiöse Leben in der Volksrepublik streng kontrolliert. In Taiwan aber, wo an unzähligen Ecken alle möglichen Tempel stehen, erscheint das religiöse Leben selbst im Vergleich zu Europa überraschend vielfältig. Auch in anderen Bereichen hat Taiwan Elemente traditioneller chinesischer Kultur bewahrt. Im Gegensatz zu den Chinesen schreiben die Taiwaner zum Beispiel noch immer mit traditionellen Langzeichen. Doch die Taiwaner konservieren das chinesische Erbe nicht einfach nur. Unter den Bedingungen einer Demokratie und im Austausch mit anderen Kulturen entwickelt es sich auf eine eigene Weise weiter.

Chen Chao-Jung, Neu-Taipeh

Als Chen Chao-Jung, 29, am Park angekommen ist, beugt sie sich über etwas, das aussieht wie ein Kinderwagen, und holt ihren Schnauzer Ah-Mei heraus. Gemeinsam spazieren sie durch den Park. Sie sehen toll dabei aus, sympathisch, gut gelaunt – und sie sind gut gekleidet: Chen Chao-Jung trägt eine schwarze Bluse, Ah-Mei einen hübschen Strickpullover. Das Licht ist weich, perfekt für die Fotos, die Chao-Jungs Partner Chiu Yen-Chieh von ihnen macht. Später werden sie die Fotos auf Instagram stellen.

Chao-Jung ist Hunde-Influencerin. Gemeinsam mit ihrem Schnauzer Ah-Mei besucht sie Hotels, Restaurants und Hunde-Spas, testet die neuesten Hundewagen und geht in Hundegeschäften einkaufen. Yen-Chieh hat sich als Fotograf auf Haustiere und deren Besitzer spezialisiert. In gewisser Weise wirkt das Paar mit Hund wie die perfekte Familie. Manchmal ist auch ihre Katze Mili dabei. Auf Fotos sitzt sie neben Ah-Mei im Hundewagen.

Chen Chao-Jung mit ihrem Schnauzer Ah-Mei  © Manbo Key

Chao-Jung hat die Stelle des Parks erreicht, an der sich die Hundebesitzer treffen. Zwei Französische Bulldoggen in Jeanskutten sitzen in ihren Wagen. Ventilatoren blasen ihnen kühle Luft ins Gesicht. Ein kleiner Malteser mit einem Smiley-Trikot sitzt auf dem Schoß seiner Besitzerin. Ein Spitz trägt ein glitzerndes Collier. Zwei Pudel, frisch vom Friseur, tollen umher, sie tragen gelbgrüne Spitzenoutfits mit Haarspange. Auf die Menschen- und Hundegruppe blickt ein Publikum: die Alten. Sie stehen auf Rollatoren gestützt oder sitzen eingewickelt in Decken in Rollstühlen. Hinter ihnen stehen ihre indonesischen Pflegerinnen. Experten schätzen, dass die Zahl der Haustiere in Taiwan mittlerweile jene der Kinder übertrifft. Das Land hat eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit – bekam jede Frau im Jahr 1951 durchschnittlich noch sieben Kinder, liegt die Zahl heute unter eins.

Chao-Jung und ihr Partner sind seit elf Jahren zusammen, sie haben sich noch in der Schule ineinander verliebt. In letzter Zeit drängelten ihre Eltern, erzählt Chao-Jung, „sie wollen, dass wir ein Kind bekommen. Ich antworte dann immer: Aber ich bin doch schon Hundemama.“

Chao-Jung hat sich für das Interview extra aufgeschrieben, warum sie und ihr Partner keine Kinder wollen. Es ist eine lange Liste, ganz oben steht: Geld. Obwohl Taiwan ein reiches Land ist, sind die Gehälter der Jungen niedrig. Für sie ist es viel schwieriger, sozial aufzusteigen, als es für ihre Eltern war. Immobilienpreise und Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen.

Bei einer Studie, die das taiwanische Gesundheitsministerium 2019 durchführte, sagten 38,6 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64, dass sie keinerlei Interesse an einer Heirat hätten. Und in Taiwan gilt eine Heirat noch immer als Grundvoraussetzung fürs Kinderkriegen. Eine Gesellschaft, in der so viele Menschen keine Kinder wollen, verändert sich: Sie lebt mehr im Jetzt.

Wenn der Weg zu einer wirklichen Unabhängigkeit ausgeschlossen ist und die Zukunft den Krieg bringen könnte, ist der jetzige Schwebezustand das Beste, was die Menschen in Taiwan erhoffen können. Dann müssen sie sich wünschen, dass so lange wie möglich alles bleibt, wie es ist.

Salizan, Kaohsiung

Der Voguing-Tänzer Salizan hat Liugui verlassen, nun wogt er durch einen Club in Kaohsiung, einer Großstadt im Süden mit 2,8 Millionen Einwohnern. Er trägt eine verspiegelte Brille, ein bauchfreies Wickeltop und eine Schlaghose. Er bahnt sich den Weg durch ein Meer gut gelaunter Menschen, darunter einige von geradezu außerirdischer Schönheit: Glitzer, Schimmer, endlose Wimpern, Netz, viel Haut, falsches Haar, Ekstase, Lachen, Mann, Frau, alles im Fluss.

In einem Boxring in der Mitte des Clubs treten Besucher zu Tanzwettbewerben an, schwingen die Hüften, die Arme, lassen sich mit einem Krachen rücklings auf den Boden knallen. Die Battles sind überbordend, sinnlich, ekstatisch. Bier und Shots gibt’s umsonst an der Bar, die Veranstaltung steigert sich zu einem wild gewordenen Karussell. Und Salizan scheint überall zugleich zu sein, jeden hier zu kennen. Er greift sich das Mikrofon, um die anderen Tänzer anzufeuern. Später stürmt er selbst in den Ring, springt in einen Spagat, steht auf, breitet die Arme aus, tanzt voller Kraft. Das Publikum kreischt.

Am Ende tanzen alle, sie singen lauthals die Hits mit, schütteln synchron ihre Glieder, ein einziger tanzender, jubelnder Körper. Das sind ihre Lieder. Das ist ihre Zeit.

Taiwan war nie Teil der 1949 gegründeten sozialistischen Volksrepublik China, trotzdem erhebt diese Anspruch auf das Staats- gebiet, das aus der Hauptinsel Taiwan und zahlreichen kleineren Inseln besteht; es ist etwas größer als Baden-Württemberg. Tai- wan ist de facto ein unabhängiger Staat, wird auf Druck Chinas hin weltweit nur von zwölf Ländern und dem Vatikan offiziell anerkannt.
Die Volksrepublik China sieht Taiwan als abtrünnige Provinz an. Ihr Anspruch geht darauf zurück, dass die chinesische Qing- Dynastie ab Ende des 17. Jahrhunderts zwei Jahrhunderte lang über die Insel herrschte, die längste Zeit allerdings nur über einen Teil von ihr. Einige Jahrzehnte zuvor hatte die Dutch East India Company einen Stützpunkt auf Taiwan errichtet. Sie hatte Siedler vom chinesischen Festland auf die Insel geholt, die bis dahin von indigenen Völkern bewohnt gewesen war. Nach dem Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1895 musste China Taiwan an Japan abtreten. Bis 1945 war Taiwan japanische Kolonie.
Nach dem Ende des Chinesischen Bürgerkriegs 1949 zogen sich die Regierung und die Truppen der „Republik China“ nach Taiwan zurück, das amtlich nach wie vor die- sen Namen trägt. Nach einer langen Einparteienherrschaft unter Kriegsrecht setzte in den Achtzigerjahren eine Demokratisierung ein. Trotz des Konflikts ist China der wichtigste Handelspartner des Hightech-Lands.

Erschienen am 28. Juni 2023 im ZEIT Magazin