Sie haben Miao

Wie meine Assistentin in die Mühlen von Pekings Staatssicherheit geriet und ich die chinesischen Behörden kennenlernte

An einem Tag vor drei Monaten, am 1. Oktober 2014, sah ich meine Freundin und Assistentin Zhang Miao zum letzten Mal. Es war neun Uhr morgens, als sie an die Tür meines Hotelzimmers in Hongkong klopfte, ich war noch im Pyjama, wir waren bis spätnachts unterwegs gewesen, um über die Occupy-Central-Proteste zu berichten. Miao war auf dem Weg zurück nach Peking, ich wollte länger bleiben. Wir umarmten uns. »Pass gut auf dich auf«, sagte ich. »Das werde ich«, versicherte sie und lächelte. »Du auf dich auch. Wir sehen uns eh bald wieder.«

Seither ist Miao verschwunden. Sie ist in Haft.

In meiner vierjährigen Korrespondentenzeit habe ich mich oft mit Recht und Unrecht in China befasst. Ich habe Pressekonferenzen besucht, auf denen uns die Regierung erklärte, China sei ein Rechtsstaat. Habe Bauern gesprochen, die enteignet wurden, die versuchten, zu ihrem Recht zu kommen, es nicht bekamen, dafür aber geschlagen und in Gefängnisse verschleppt wurden, weil sie als Unruhestifter galten. Habe Bürgerrechtler interviewt, die mit unendlicher Hartnäckigkeit versuchen, China zu dem zu machen, was es vorgibt zu sein: ein Rechtsstaat. Habe Andersdenkende besucht, die bedroht wurden und eines Tages verschwanden. Gehe ich durch mein Telefonbuch, sind viele Menschen darin einfach weg. Als ich einem chinesischen Bekannten davon erzählte, zuckte er mit den Schultern, so was passiere eben Dissidenten, normalen Bürgern aber nicht. Doch noch der Unbedarfteste kann durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in die Mühlen der Justiz und der Sicherheit geraten. Es ist wie mit Krebs: Jeder glaubt, es werde ihn nicht treffen. Ins Gefängnis kommen immer die anderen.

Diesmal traf es Miao. Und damit auch mich. Dass das Recht in China nur dann gilt, wenn es den Interessen der Regierung nutzt, wusste ich vorher. Etwas anderes ist es, das selbst zu erleben.

Miao ist 40 Jahre alt, ich kenne sie seit sechs Jahren. Sie hat lange in Deutschland gelebt, in Hamburg war sie meine Chinesischlehrerin, sie hat die deutsche Aufenthaltserlaubnis. Wir freundeten uns an. Als sie vor zwei Jahren nach Peking zurückkehrte, begann sie im Büro der ZEIT zu arbeiten. Die Rückkehr fiel ihr nicht leicht, vieles erschien ihr fremd, mit einigen alten Freunden konnte sie nichts mehr anfangen. In Songzhuang, dem Künstlerdorf in der Nähe von Peking, wo sie lebt, fand sie bald neue Freunde. 

Für die Zeitung sind Miao und ich oft gereist, wir haben viel gemeinsam erlebt. Mit unserer Fotografin nannten wir uns manchmal zum Spaß san jian ke, drei Musketiere. 

Miao und ich waren am 24. September 2014 nach Hongkong geflogen, wir hatten verfolgen können, wie sich die Proteste veränderten. Am Sonntag, dem 28. September, schoss die Polizei erstmals mit Tränengas, in dieser Nacht liefen wir bis fünf Uhr morgens durch die Straßen.

Aufgewühlt von der Nachricht, dass die Polizei Tränengas einsetzte, trieb es die Hongkonger auf die Straße. Von Minute zu Minute wurden es mehr. Sie füllten die Stadtautobahn, die Straßen, Fußgängerüberwege und Brücken. Keiner hätte im Traum daran gedacht, dass es so viele werden würden. Viele glaubten in dieser Nacht, Peking werde Panzer schicken, auch Miao. Sie schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. »Es ist genau wie damals. Auch 89 hätten wir nie gedacht, dass Panzer kommen würden.«

Miao war Schülerin gewesen, als die Studenten 1989 auf dem Pekinger Tiananmen-Platz demonstrierten. Sie wohnte in der Nähe, kam oft vorbei, um ihnen Wasser zu bringen. Als in der Nacht zum 4. Juni die Panzer auffuhren, passierten sie ihr Wohnhaus, noch heute kann man die Einschusslöcher in der Hauswand erkennen.

In dieser Nacht in Hongkong aber kamen keine Panzer. Auch nicht in der nächsten oder übernächsten. Stattdessen drängten in den folgenden Tagen immer mehr Menschen auf die Straßen. Die Angst wich der Euphorie. Unbekannte lachten sich an, machten unzählige Fotos, weil sie es nicht fassen konnten: Menschenmassen, wohin man nur sah. Die größten Demonstrationen auf chinesischem Boden seit 1989. »Wahnsinn«, sagte Miao immer wieder. Sie war aufgekratzt, glücklich. Ein Mädchen reichte ihr eine gelbe Schleife, das Symbol der Bewegung, sie steckte sie an. Ich konnte sie verstehen und bat sie doch, sie abzunehmen. »Wir sind Journalisten.« Sie lächelte und nahm sie ab. Wenige Stunde später hatte sie sie an anderer Stelle wieder angebracht.

Miao hatte sich in Hongkong ein iPhone 6 gekauft, wie so viele Festlandchinesen, sie machte Fotos damit. Sie postete sie auf Wechat, einem chinesischen Sozialen Netzwerk. Miao ist ein Netzjunkie, ich habe noch nie jemanden erlebt, der so viel postet und kommentiert wie sie. Wir hatten aber erfahren, dass die chinesische Polizei Festlandchinesen, die in Hongkong Fotos gemacht und auf Wechat weitergeleitet hatten, bei ihrer Rückkehr verhört und eingesperrt hatte. »Miao, hör bitte auf damit«, bat ich sie wieder und wieder. Sie lächelte dann, legte das Telefon zur Seite. Und machte kurz darauf weiter.

Nach einer Woche war Miaos Visum für Hongkong abgelaufen, sie musste nach Peking zurückkehren, ich aber wollte bleiben. Sie verließ Hongkong am 1. Oktober, dem chinesischen Nationalfeiertag.

Am nächsten Vormittag, ich war gerade in einem Interview, erhielt ich eine Wechat-Nachricht von Miao. Es war ein Foto, das am Abend zuvor aufgenommen worden war. Es zeigte Miao und drei Männer, sie hatten alle die gelben Schleifen angesteckt und hielten die Arme vor der Brust gekreuzt. So wie es der Studentenführer Joshua Wong am Morgen des 1. Oktober getan hatte, als in Hongkong die chinesische Flagge gehisst wurde. »Der links ist festgenommen worden«, hatte Miao daruntergeschrieben. »Ein Dichter.«

»Oh Gott«, dachte ich. Ich schaute nach, sie hatte das Foto in ihrem öffentlichen Account gepostet. Sie hatte auch ihr Profilbild geändert, es zeigte die gelbe Schleife.

Die nächste Dreiviertelstunde würde ich gerne zurückdrehen. Irgendwann in dieser Zeit muss Miao in Peking aus einem Auto ausgestiegen sein, obwohl sie Polizisten am Wegesrand sah. Ich weiß nicht, ob ich sie hätte stoppen können. Zumindest hätte ich es gerne versucht.

In der Dreiviertelstunde beendete ich das eine Interview und eilte zum nächsten, der Tag war mit Gesprächen vollgepackt. In der U-Bahn war das Netz schlecht, ich fand den Ort nicht, an dem ich mit der nächsten Interviewpartnerin verabredet war, irrte durch ein riesiges Kaufhaus. Ich wollte unbedingt mit Miao sprechen, doch ich fand keine Zeit. Im Nachhinein kommt es mir vor, als sei mein Gehirn mit den blödesten Nebensächlichkeiten belegt gewesen. Als hetze einer durch die Stadt zu einer Reinigung, um ein sauberes Hemd abzuholen, während sich über ihm eine Tsunamiwelle erhebt, die er gar nicht bemerkt.

Endlich stand ich vor dem Café, vor dem wir verabredet waren. Ich suchte Miaos Nummer, da eilte die Interviewpartnerin auf mich zu. Wir hatten uns kaum zum Kaffeetrinken hingesetzt, als mich beinahe gleichzeitig über zwei Kanäle die Nachricht von Miaos Verhaftung erreichte. Die Redaktion in Hamburg war dran: »Ein Herr Zhang von den chinesischen Sicherheitsbehörden hat angerufen. Er sagt, Miao sei festgenommen worden.« Miaos Bruder schickte mir eine Nachricht gleichen Inhalts. Keiner wusste genau, was geschehen war.

Ich hänge mich ans Telefon. In den darauffolgenden Tagen mache ich kaum etwas anderes. Esse kaum, schlafe kaum. Ich muss Miao rauskriegen, irgendwie. Ich kontaktiere die deutsche Botschaft, den Foreign Correspondent’s Club, Miaos Familie, Freunde, die Redaktion, Herrn Zhang von der Sicherheit. Herr Zhang arbeitet bei der Polizeibehörde, die Ausländern Visa erteilt. Bisweilen lädt sie ausländische Journalisten vor und droht ihnen, ihre Visa nicht zu verlängern, wenn der Regierung deren Berichte nicht gefallen. Ich habe bislang noch keinen Ärger mit ihnen gehabt.

»Herr Zhang, was ist los?« – »Ich weiß es nicht genau. Sie war in eine Dorfstreiterei verwickelt. Erregung öffentlichen Ärgernisses oder so was.« – »Dorfstreiterei? Das kann ich mir nicht vorstellen. Könnten Sie mir bitte die Nummer der zuständigen Polizeistation geben?« – »Das kann ich nicht.« – »Wo bekomme ich die?« – »Kann ich auch nicht sagen.« – (In der Folge verfallen wir beide in das im Mandarin übliche Du.) »Aber irgendwer muss dich doch angerufen haben?« – »Weißt du was, ich erkundige mich. Dann rufe ich wieder an.«

In der Zwischenzeit telefoniere ich wieder herum. Erfahre, dass Miao im Künstlerdorf auf dem Weg zu einer Dichterlesung festgenommen wurde, auf der die Demonstrationen in Hongkong unterstützt werden sollten. Mehr kann mir erst einmal niemand sagen.

Herr Zhang ist wieder am Apparat. Er klingt triumphierend. »Zhang Miao ist chinesische Staatsbürgerin, sie hat keinen deutschen Pass. Und sie war nicht offiziell bei dir als Assistentin angemeldet.« – »Nein, das war sie nicht.« Etliche Redaktionen haben ihre Assistenten nicht angemeldet, weil das mehr Überwachung durch die Staatssicherheit bedeutet hätte. Hätte sie das womöglich geschützt, frage ich mich jetzt. Die Behörden werden das mit Sicherheit benutzen. Ich habe diese Entscheidung nicht getroffen und fühle mich trotzdem schuldig.

»Was vorgefallen ist, hat nichts mit dir zu tun«, sagt Zhang. »Doch, sie ist meine Assistentin, ich bin verantwortlich.« – »Der Fall hat nichts mit journalistischer Arbeit zu tun. Man hat mir gesagt, sie sei ausfallend geworden. Habe Polizisten geschubst, sie wild beschimpft. Schrecklich.« Er klingt empört. »Entschuldigung, Herr Zhang, aber das kann ich mir nicht vorstellen.« – »Zhang Miao ist jedenfalls eine ganz gewöhnliche chinesische Staatsbürgerin. Und wir werden sie behandeln, wie wir mit chinesischen Staatsbürgern umgehen.«

Am nächsten Tag fliege ich spätabends nach Peking, ich komme um vier Uhr morgens zu Hause an, es ist Samstag, der 4. Oktober. Als ich mittags aufstehe, habe ich bereits viele Anrufe von Herrn Zhang auf dem Display. »Komm vorbei«, sagt er. »Wir wollen plaudern.« Er benutzt das Wort liaotian. Plaudern. Als träfe man sich mit Freunden in einem Café. 

Inzwischen weiß ich, wer von Miaos Freunden über den Tathergang informiert ist. Ich rufe sie an, ich will vorbereitet in das Verhör gehen. Drei Zeugen erzählen mir Folgendes: Am Vormittag des 2. Oktober geht Miao mit ihren Freunden zum Haus des Dichters, der am Tag zuvor festgenommen wurde. Sie wollen die Familie besuchen. Dort wartet bereits die Polizei, es kommt zu einem erregten Wortwechsel. Danach wollen Miao und eine Freundin, eine Assistentin der BBC, zu der Lesung für die Hongkonger Proteste. Ein Künstlerfreund fährt sie hin und setzt sie dort ab, am Wegeingang stehen bereits Polizisten. Miao und ihre Freundin steigen aus, der Freund beobachtet, wie sie auf den Veranstaltungsort zulaufen, die Polizisten rennen hinterher, sie fliehen, die Polizei holt sie ein, man stößt sie gegen den Dienstwagen. Alles Weitere kann er nicht beobachten, Polizisten drängen ihn weiterzufahren. Offenbar gelingt es Miao zu entkommen, wenige Minuten später ruft sie bei einem anderen Freund an. Das Gespräch wird mehrmals unterbrochen. Sie ruft: »Sie wollen uns festnehmen, sie haben uns geschlagen.«

Dann bricht das Gespräch ab, Miao ist nicht mehr zu erreichen. Ihre Begleiterin wird am Ortseingang von Songzhuang freigelassen, von Miao verliert sich jede Spur.

In den nächsten Monaten werden in ganz China immer mehr Menschen wegen der Unterstützung von Occupy Central festgenommen, nach Informationen von Bürgerrechtlern sind es mehr als 200. In Songzhuang sind es zehn, alle standen in irgendeiner Verbindung zu der Dichterlesung, vier davon kenne ich.

Ich fahre zu Herrn Zhangs Polizeistelle. Er geleitet mich in einen fensterlosen Raum. Dort sitzen bereits zwei jüngere Kollegen, ein Herr Xu und ein Schriftführer. Sie haben Notizbücher vor sich liegen. Ich hole meines hervor und schreibe mir ihre Dienstnummern auf. »Was soll das werden«, sagt Zhang, »das hier ist kein Interview!« Sie sprechen Mandarin mit mir. Ich antworte: »Ich möchte diesen Fall dokumentieren. Ich lese viel vom Aufbau des chinesischen Rechtsstaats, jetzt erlebe ich ihn selbst. Ich hoffe, einen optimistischen Bericht schreiben zu können.« – »Ja«, sagt Herr Xu, »sei optimistisch. Du wirst sehen, der chinesische Rechtsstaat wird dir allen Grund dazu geben.«

Sie verhören mich. Woher kenne ich Miao, was haben wir in Hongkong getan, wen haben wir interviewt, wusste ich von den Veranstaltungen in Peking? Im Laufe des Verhörs wird aus der mutmaßlichen Unruhestifterin Miao die tatsächliche Unruhestifterin Miao.

»Warum sagt ihr immer: die Unruhestifterin?«, frage ich. »Es gab noch kein Gerichtsurteil.« Zhang herrscht mich an: »Ich sagte bereits: mutmaßlich. Soll ich das jetzt jedes Mal wiederholen oder was? Das hier ist ein Gespräch unter Freunden. Du aber verhältst dich nicht so. Und hör endlich auf mitzuschreiben. Dies ist kein Interview!« – »Entschuldigung, aber das Wort mutmaßlich ist ein sehr wichtiges Wort.«

Zhang wird nun noch wütender. »Was soll das? Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Bist du wirklich deutsch? Du bist ganz anders als andere Deutsche!« – »Wirklich?« – »Die sind ehrlich.« – »Und ich nicht?« – »Nein, du nicht. Du bist komisch. Sehr komisch. Mit den anderen deutschen Journalisten war es immer sehr angenehm.« – »Da haben die mir anderes erzählt.« – »Mit dir ist es gar nicht angenehm. Ich an deiner Stelle würde mich zusammenreißen.«

Während Xu in dem Gespräch allmählich die Rolle des good cop übernimmt, mutiert Zhang zum bad cop. Als ich die beiden darauf anspreche, rastet Zhang aus: »Du wirst noch öfter mit uns zu tun haben. Wenn du zum Beispiel dein Visum für das nächste Jahr beantragst. Das könnte Probleme geben. Reiß dich zusammen!« 

»Ich würde gerne wissen, wo Miao ist. Nach der chinesischen Strafprozessvollzugsordnung muss die Familie 48 Stunden nach Festnahme informiert werden. Noch haben wir nichts gehört.« Herr Xu lächelt mich strahlend an. »Ihr Fall hat gar nichts mit dir zu tun. Kümmere dich nicht darum. Vertraue auf den chinesischen Rechtsstaat. Er ist perfekt.« Zhang geht wütend aus dem Zimmer, Xu begleitet mich raus. Er schüttelt meine Hand, er lässt sie gar nicht mehr los. »Denk dir nichts über Zhang, er ist manchmal emotional, wo er doch in Deutschland studiert hat. Er hat so eine hohe Meinung von den Deutschen. Ich lade dich nächstes Mal zum Kaffee ein, ja? Ein bisschen plaudern?«

Am nächsten Tag wissen wir immer noch nichts von Miao. Miaos Bruder erhält den Tipp, dass sie sich im Ersten Untersuchungsgefängnis von Peking befinden könnte. Ein paar Stunden später stehen wir davor, Bruder, Stiefmutter und ich, sie hat eine Tasche voll warmer Kleidung dabei, über Nacht ist es kalt geworden. Das Gefängnis liegt am Stadtrand von Peking, eintönig schmutzig gelbe Wohnblocks stehen davor. Hinter einer hohen Mauer wachsen hohe Bäume, wir sehen nicht viel.

Der Wachmann ist ein junger Typ in abgerockter Uniform. »Wir möchten uns über den Verbleib einer Gefangenen erkundigen.« – »Kommt nach den Ferien wieder.« – »Nach den Ferien?« – »Ja, in ein paar Tagen.« – »Aber im Gefängnis gibt es doch keine Ferien?« – »Doch.« – »Sind die Gefangenen im Urlaub?« – »Nein.« – »Und die Wärter?« – »Auch nicht.« – »Dann müsste uns doch jemand weiterhelfen können.« Er gähnt. »Kommt irgendwann anders wieder.« – »Ich schreibe an einer Geschichte über den chinesischen Rechtsstaat. Willst du, dass ich dich so mit deiner Dienstnummer zitiere?«

Der Wachmann kommt in Bewegung, er lässt uns zum Pförtner vor. Auch der verweist auf die Ferien. Nach einer halben Ewigkeit ruft er seine Vorgesetzten, zwei Männer und eine Frau. Umständlich nimmt einer von ihnen unsere Personalien auf. Er blättert lange in seinem Notizbuch, dann schließt er es mit gewichtiger Miene. »Ich könnte nachschauen, ob sie da ist, doch es sind Ferien.« Er will sich umdrehen. «Aber«, sage ich, »gemäß der chinesischen Strafprozessvollzugsordnung sind Sie verpflichtet, uns 24 Stunden nach der Festnahme Bescheid zu geben. Die 24 Stunden sind um.« Er mustert mich gelangweilt. »Es sind Ferien.« – »Und der Rechtsstaat? Ist der auch in Ferien?«

Er schaut jetzt fast angeekelt. »Dir habe ich überhaupt nichts zu sagen. Du bist kein Familienmitglied und auch keine Anwältin. Geh weg.« Ich rufe Herrn Xu an. »Sagtest du nicht, der chinesische Rechtsstaat sei perfekt? Ich erlebe hier gerade eine Situation, die mir nicht so perfekt erscheint. Ich stehe vor dem Gefängnis und …« – »Pass auf, lass das einfach, ja? Das geht dich nichts an. Wir regeln das schon.« – »Es geht mich etwas an, ich möchte jetzt gerne einen zuständigen Vorgesetzten sprechen.« – »Wir können dir nicht helfen. Wir haben keinen Namen und keine Nummer.« – »Es muss doch eine Abteilung geben. Welche Abteilung ist mit ihrem Fall betraut? Welche Staatsanwaltschaft?« – »Wir wissen es nicht. Geh einfach nach Hause.« Er legt auf. Die Polizisten vor dem Gefängnis sprechen nicht mehr mit mir, Miaos Familie behandeln sie von oben herab. Wir gehen. Als wir im Auto sitzen, bin ich außer mir vor Wut. »Diese Typen …« Miaos Bruder zuckt mit den Schultern: »Die waren nicht mal so schlimm. Immerhin haben sie uns nicht angeschrien wie sonst immer …«

Miaos Anwalt Zhou Shifeng bemüht sich unterdessen fieberhaft, einen Termin mit der Inhaftierten zu bekommen. Der Termin wird nicht genehmigt, der Anwalt bemüht sich weiter, reicht Beschwerde ein. So wird es Monate gehen. »Wie kann das sein?«, frage ich ihn. Im Gesetz steht, dass die Sicherheit die Familie 48 Stunden nach der Festnahme benachrichtigen muss. Doch dann folgt der Passus, »es sei denn, nähere Untersuchungen sind erforderlich«. – »Das heißt, die Polizei kann sich immer eine Ausnahme vorbehalten?« – »Wenn die Gesetzgeber die Gesetze machen, dann tun sie es für ihre eigenen Interessen, nicht weil es ihnen um die der Öffentlichkeit geht.« – »Müssen denn die Sicherheitsbehörden die Ausnahme erklären oder genehmigen lassen?« Nein, sagt Zhou. Im Prinzip könne die Sicherheit zu jedem Gesetz einen Ausnahmepassus finden. Es gebe keinen verbindlichen Schutzanspruch des Bürgers gegen den Staat und seine Vertreter.

Am Mittwoch, dem 8. Oktober, bekommt die Familie den formellen Haftbefehl zugestellt. Miao befindet sich demnach im Ersten Untersuchungsgefängnis von Peking. Es bestehe Verdacht auf Erregung öffentlichen Ärgernisses. Diesen Straftatbestand verwendet die Sicherheit gerne, wenn sie sich gegen Andersdenkende richtet, im schlimmsten Fall kann er mit bis zu zehn Jahren Gefängnis geahndet werden. Wir hoffen noch immer, dass Miao in ein paar Tagen freikommt.

In dieser Woche bereiten sich die deutsche und die chinesische Regierung auf den Deutschlandbesuch von Premier Li Keqiang vor, er wird am Donnerstag, dem 9. Oktober, mit vielen seiner Minister nach Berlin reisen, es sollen die größten Regierungskonsultationen in der Geschichte beider Länder werden. In den Tagen zuvor haben mich viele Medien angerufen, darunter die South China Morning Post und die New York Times, sie wollen über Miao berichten. Ihre Familie bittet darum, nur wenig publik zu machen. Nun stellt sich die Frage: Soll ich über den Li-Keqiang-Besuch berichten? Jeder rät mir etwas anderes. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass niemand vorhersehen kann, was eine Veröffentlichung bewirkt. Dies ist ein Willkürstaat. Die Unsicherheit, die mich belastet, ist beabsichtigt. 

Die Deutsche Botschaft in Peking setzt sich intensiv für Miao ein. Ich lerne den diplomatischen Dienst sehr schätzen. Miaos Fall liegt jetzt beim Bundeskanzleramt und beim Außenministerium, alle deutschen Minister sind darüber informiert. An diesem Donnerstagabend wird die dpa über Miao berichten, ich selbst werde für ZEIT ONLINE einen kleinen Text schreiben. 

Am Donnerstagmorgen ruft mich Herr Xu erneut an. Ich soll vorbeikommen – zum Plaudern. Als ich den kleinen fensterlosen Raum betrete, sitzen dort bereits drei Männer, zwei Ermittler und ein Schriftführer. Sie sind von anderem Kaliber als Zhang und Xu, älter, erfahrener. Die Ermittler sagen, sie hießen Li und Guan. Li ist der Wortführer. Er hat dunkle Augenringe und ein ungewöhnliches Gesicht, sein Ausdruck kann sich in Sekunden verändern, locken, schmeicheln, drohen. Guan ist eher der Typ Bulldogge, hart, einsilbig, ausdauernd. Li sagt, er sei Vizechef der Abteilung, ich schätze aber, er ist vom Staatsschutz. Ich habe keine Möglichkeit, seine Identität zu überprüfen.

Li will das Gespräch offensichtlich locker beginnen. Er will über Hobbys sprechen, über Philosophie und Kultur. Mir ist nicht ganz klar, warum wir das in einem fensterlosen Raum auf der Polizeiwache tun müssen, außerdem weiß die Sicherheit ohnehin, wie ich meine Freizeit verbringe.

»Ich bin passionierter Reiter«, sagt Li. »Was macht deiner Meinung nach einen guten Reiter aus?«, fragt er mich. »Einfühlungsvermögen, schätze ich.« – »Ein guter Reiter weiß sein Pferd absolut unter Kontrolle zu bringen.« Er schaut mich intensiv an. »Es macht dann alles, was er will.« Herr Li liebt Reitmetaphern. Er wird sie im Gespräch oft gebrauchen, und stets sieht er mich dabei an, als wolle er sagen: Ich Reiter, du Pferd. Herr Li plaudert ein wenig, dann droht er mir, dass mein Journalistenvisum nicht mehr verlängert würde. Ich zucke mit den Schultern und sage: »Dann gehe ich eben nach Hongkong und berichte von dort.« Seine Stimme wird scharf. »Dann suche ich dich dort auf. Glaube ja nicht, dass du mir entkommen kannst.« Immer wieder fragt er mich, wie ich Miao kennengelernt habe. Ob ich ihr vertraue.

Er verfolgt mehrere Gesprächsebenen gleichzeitig, er spielt in unterschiedlichen Gefühlstonlagen. Er versucht, mich emotional aus der Reserve zu locken. Ich frage ihn, warum unser Anwalt Miao nicht sehen darf. »Du solltest dir nicht übertrieben Sorgen machen. Wir untersuchen den Fall. Das braucht ein bisschen Zeit.«

Herr Li will wissen, wie ich die Wiedervereinigung erlebt habe. Ob ich glücklich gewesen sei, als die beiden Deutschlands zusammenwuchsen. Ob ich Patriotin sei. Er selbst sei glühender Patriot. »Die Einheit des Vaterlands geht mir über alles.« Ich versuche ihm zu erklären, dass die meisten Deutschen seit Hitler ein Problem mit dem Begriff Patriotismus hätten. Dass es Dinge an Deutschland gebe, die ich liebte, und andere, die ich problematisch fände. »Ich liebe alles an der chinesischen Kultur«, sagt Li inbrünstig. »Alles?«, frage ich. »Alles«, sagt er bestimmt. »Auch den Großen Sprung nach vorn? Auch die Kulturrevolution?«

Li klappt wortlos sein Notizbuch zu und geht aus dem Raum, ich glaube, er ist sauer.

Die Bulldogge übernimmt. Er will nicht über Philosophie plaudern, er stellt harte, knappe Fragen. Am Ende des Verhörs besteht er darauf, dass ich ein Protokoll unterzeichne. Es ist auf Chinesisch, vier, fünf Seiten lang. Ich weigere mich, er besteht darauf, eine Ewigkeit geht es hin und her.

Ich lese das Protokoll langsam durch, drei, vier Mal, der nette Herr Xu kommt herein. Überhaupt kommt Herr Xu immer herein, wenn die Stimmung am Boden ist, er ist der Sonnenschein der Polizeistation. Er trägt jetzt keine Uniform mehr. Er redet auf mich ein, während ich lese, er will mich ablenken.

Ich sage Polizist Guan, dass es zum Li-Keqiang-Besuch Berichterstattung über Miao geben werde. Er sagt: »Das könnte negative Konsequenzen haben. Berichte lieber nicht. Das rate ich dir als Privatmann.« – »Was für negative Konsequenzen?« – »Negative Konsequenzen. Denke darüber nach.«

Das Verhör hat viereinhalb Stunden gedauert. Erschöpft trete ich aus dem Zimmer, in der Halle warten alle Polizisten.

Sie lachen, scherzen, sind mit einem Mal unglaublich nett.

Herr Li sagt, er würde mich gerne mal privat zum Essen einladen. »Man kann so schön mit dir plaudern.« – »Ehrlich gesagt, die Verhöre mit euch reichen mir.« – »Trotzdem würden wir dich morgen gerne sehen. Wir möchten mit dir über die Berichterstattung sprechen.« Er lacht dabei. Xu nimmt wieder meine Hand. »Wir sind doch alle alte Freunde.«

An Nachmittag deutscher Zeit landet Li Keqiang in Berlin. In diesem Moment läuft der Text der dpa über den Ticker. Weitere Medien nehmen den Fall auf. Amnesty International fordert Miaos Freilassung. Am nächsten Morgen wird ein deutscher Journalist Li Keqiang auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Angela Merkel nach dem Fall fragen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht den Fall bei Li an.

Aber Miao kommt nicht frei.

Am Morgen des Freitags, 9. Oktober, erhalte ich gleich zwei Anrufe. Die Sicherheit will mich sehen, das chinesische Außenministerium ebenso. »Wie soll ich das machen?«, frage ich den Mitarbeiter vom Außenministerium. »Gestern hat mein Verhör viereinhalb Stunden gedauert.« – »Komm gleich danach zu uns«, sagt er. »Es ist dringend.«

Ich mache mich auf den Weg zur Polizeistation. Herr Li hat noch dunklere Augenringe als gestern. »Wir saßen bis zwei Uhr nachts hier. Haben viel über dich nachgedacht. Wir haben uns gefragt, wer du bist. Also, wer du wirklich bist.« Wir sind alleine im Raum. »Heute reden wir nicht um den heißen Brei herum«, sagt er. »Kommen wir zur Sache.« Ich nicke. »Was ist das Wichtigste bei Rennpferden?« – »Keine Ahnung.« – »Der Jockey muss innerhalb kürzester Zeit ihr Vertrauen gewinnen.« – »Aha.« – »Vertraust du mir?« – »Nimm’s nicht persönlich, aber nein.« – »Du hast gesagt, du vertraust Miao?« – »Ja.« – »Was, wenn sie ganz anders ist, als du denkst?« – »Das glaube ich nicht.« – »Miao hat ausgesagt, dass du alles organisiert hast. Die Veranstaltungen zur Unterstützung von Occupy Central. Dass ihr nach Hongkong gefahren seid, um dort Protest zu organisieren. Dass sie privat für dich gearbeitet hat. Nicht für die Zeitung.« – »Das hat sie nicht gesagt!« – »Hat sie doch. Wir haben Beweise.« – »Ich würde das gerne persönlich aus Miaos Mund hören. Wir wissen alle, dass Geständnisse in chinesischen Gefängnissen oft nicht freiwillig sind.« – »Du hast alles organisiert.« – »Habe ich nicht.« – »Wir wissen es.« Ich sage: »Es gibt für mich drei Möglichkeiten: Entweder Miao wurde zu dieser Aussage gezwungen, oder sie sagte nicht die Wahrheit. Oder du sagst nicht die Wahrheit.« – »Es gibt noch eine vierte Möglichkeit«, sagt er ganz leise. Dann schreit er plötzlich: »Du lügst, du lügst, du lügst!« Er steht auf, wird immer lauter: »Du lügst, du lügst, du lügst.« Er wirkt bedrohlich. »Du lügst!«

Ich drehe mich zur Seite. Meint er das ernst? Will er mich zum Agent Provocateur, zur Spionin erklären?

Möglichkeit eins: Er will mich einschüchtern, das Vertrauen zwischen Miao und mir zerstören.

Möglichkeit zwei: Sie wollen mich wirklich als Spionin abstempeln. Einiges spricht dagegen: Das Verhältnis zu Deutschland ist China wichtig, würden sie einen Sündenbock suchen, dann wahrscheinlich eine andere Nationalität, einen Japaner zum Beispiel. Andererseits sind dies besondere Zeiten. Die Staatssicherheit ist im Alarmzustand. Die Führung ist im Begriff, ein großes Anti-Spionage-Gesetz zu verabschieden. Von Anfang an erklärte sie, bei Occupy Central handele es sich um eine »Farbenrevolution«, unterstützt von ausländischen Kräften. Ihr Argument wäre glaubwürdiger, wenn sie einen angeblichen Spion präsentieren könnte. Vielleicht mich?

Beweise haben sie nicht. Doch der chinesische Sicherheitsapparat hat viele Möglichkeiten. Er kann auf andere Gesetze zurückgreifen, Beweise hinbiegen, Rufmordkampagnen initiieren, zu Mafiamethoden greifen. Einem amerikanischen Journalisten wurde über Umwege bedeutet, er und seine Familie seien in Peking nicht mehr sicher.

»Ich möchte dieses Gespräch jetzt abbrechen«, sage ich. »Ich werde nur noch in Anwesenheit eines Botschaftsmitarbeiters mit Ihnen reden. Ich rufe jetzt den Presseattaché an.« Der erste Presseattaché verspricht, den zweiten vorbeizuschicken. »Wir werden ihn nicht reinlassen«, sagen die Polizisten. – »Egal, er kommt jetzt.«

Li ist rausgegangen, Guan übernimmt. Er will alles über Miaos Wechat-Verhalten wissen, er will, dass ich Namen nenne. Ich verweigere die Aussage, er wird stocksauer. Ich gehe zur Tür, die Polizisten stürzen herbei und hindern mich daran. Das Außenministerium ruft an, sie wollen jetzt mit mir sprechen. »Jaja«, sagt Guan, »ich weiß, euer Anliegen ist auch wichtig«, es klingt, als ob der große Bruder mit dem kleinen spricht. Er ist genervt, wieder will er, dass ich ein Protokoll unterzeichne, ich weigere mich. Draußen erwartet mich Sonnenschein Xu in bester Laune. »Du bist einfach zu empfindlich.«

Der Termin mit den chinesischen Diplomaten ist im Gegensatz dazu richtig wohltuend. Es gefällt ihnen nicht, dass ausgerechnet zu einem Staatsbesuch über Miaos Fall berichtet wurde, doch sie bleiben höflich, kultiviert. Der Unterschied zu meinen neuen Bekannten von der Sicherheit könnte nicht größer sein. Im Außenministerium sitzen die Tauben, weltgewandte Menschen, doch es ist das schwächste Ministerium Chinas. Die Sicherheit hingegen ist übermächtig.

Am nächsten Tag, Samstag, den 11. Oktober, erhalte ich erneut einen Anruf von Xu. Ich soll zum Verhör kommen. Plaudern. »Ich bin krank«, sage ich. »Komm trotzdem.« – »Das geht nicht. Ich würde euch anstecken.« Am Sonntag schreibt er mir eine Nachricht: »Zieh dich warm an, es gibt einen Wetterumschwung. Vergiss nicht, dich auszuruhen. Dein Polizist Xu.«

Am Wochenende lese ich in der Zeitung Elogen auf den chinesischen Rechtsstaat. Bald wird das dritte Parteiplenum stattfinden, es steht unter dem Motto »Rechtsstaatlichkeit«. Wir haben noch immer nichts von Miao gehört.

Am Montag, 13. Oktober, ist Xu wieder am Apparat. Er will plaudern. Diesmal bestehe ich darauf, nicht mehr Chinesisch zu sprechen. Begleitet werde ich von einem Presseattaché der Botschaft und einem Übersetzer. »Du solltest dir jetzt einen Anwalt nehmen«, sagt der Diplomat auf dem Weg. »Sollten die dich in Untersuchungshaft nehmen wollen, können wir nichts dagegen tun – außer protestieren.«

Im Verhörraum warten drei Männer, einer ist der Ermittler, der Miao verhört. Kurzhaarschnitt, breites fleischiges Gesicht, die Haut des Kettenrauchers. Rechts von ihm sitzt ein Mann in Nappalederjacke, der sich nicht vorstellt. Wir fragen, wer er sei. Er lächelt geheimnisvoll. »Ich bin überall. Ich kenne Sie alle. Man sieht mich auf vielen Fotos.« Er sagt wenig, doch er ist derjenige, der droht. Er muss der Ranghöchste sein. Keiner der Männer sagt, welcher Abteilung sie angehören. Als ich den Bulligen danach frage, lächelt er so geschmeichelt bescheiden, dass es nicht wahr sein kann: »Ich bin ein einfacher Polizist.«

Er fragt knapp und hart. Vor ihm liegen seitenweise Auszüge aus Miaos Wechat-Account, ein ganzer Stapel. Seine Fragen zielen in folgende Richtung: Miao war meine private Assistentin. Ich bin mehr als Journalistin, ich verfolge eine ganz andere Agenda. Wir haben Regimekritiker getroffen. Separatisten. Ihnen Geld gegeben.

Ich merke, wie er die Schlinge um meinen Hals enger und enger zieht. Seine Fragen stützen sich auf Tatsachen. Ja, ich habe Regimekritiker getroffen. Ja, ich habe einer schwer kranken Bürgerrechtsanwältin, die von der Sicherheit rollstuhlreif geschlagen worden war, nach einem Interview umgerechnet 70 Euro für Medikamente gegeben. Doch war ich immer als Journalistin unterwegs, nicht, wie der Bullige insinuiert, als Spionin oder Agent Provocateur.

Ich habe viel darüber gelesen, jetzt erlebe ich es selbst: ihr Geschick, alles in ihrem Sinne zu drehen. Sie dürften genug Material haben. Seit vier Jahren hören sie mich ab, am Telefon und in der Wohnung, sie lesen meine E-Mails und kontrollieren, was ich in Sozialen Netzwerken poste. Wenn sie mein Haus durchsuchen, lassen sie mich das manchmal wissen. Die Visitenkartenbox, die auf meinem Bürotisch lag, steht dann etwa draußen auf dem Briefkasten. Die Tür, die abgesperrt war, ist offen. Anderen Korrespondenten geht es auch so.

Es ist eine hässliche Vorstellung, doch meist machte ich mir nicht allzu viele Gedanken darüber, wie hätte ich sonst hier leben können? Jetzt, wo ich weiß, dass sie nicht nur sammeln, sondern es auch verwenden, sieht alles anders aus. Ich denke an all die sensiblen Arbeitsinformationen aus Miaos Handy und ihrem Mail-Account. Jetzt hat sie die Staatssicherheit. Mir wird schlecht. Das Netz macht den Bürger für die chinesischen Behörden gläsern.

Ich frage, wie es Miao geht. Warum die Strafprozessvollzugsordnung ignoriert werde. »Mach dir keine Sorgen. Es geht ihr gut.« – »Das bezweifle ich.« – »Ihr Journalisten glaubt, Occupy Central sei der Grund. Doch es geht um mehr als das, es geht um die Sicherheit des Staates, die Integrität des Territoriums, daher greift die Strafprozessordnung nicht.« – »Man sagte mir, sie sei nur in eine Dorfschlägerei verwickelt gewesen.« – »Es geht um Unruhestiftung, und das betrifft Staatsinteressen.«

Der Bullige fragt immer hartnäckiger nach Miao. Ich bestehe auf einem Anwalt. Sie wollen jetzt, dass ich das zehnseitige chinesische Protokoll unterschreibe. Eine übersetzte Version liefern sie nicht, wir dürfen das Original auch nicht zum Übersetzen mitnehmen. Wir weigern uns. »Übersetzt es hier. Mündlich. Wir haben Zeit. Wir können über Nacht hierbleiben.« Eine Stunde lang streiten wir, am Ende lassen sie uns wütend gehen.

»Puh«, sagt der Übersetzer beim Rausgehen. »Die haben dir ja alles mit reingepackt. Separatismus, Widerstand, Hongkong. Sieht gar nicht gut für dich aus.« – »Ich will morgen ausreisen.« – »Hoffentlich kommst du morgen überhaupt raus«, sagt der mich begleitende Attaché. »Wir sollten dich zum Gate begleiten. Nicht dass die dich noch abfangen.«

In der Nacht packe ich wie wild zusammen. Notizbücher, Informationen, Briefe. Ich weiß, es wird eine Durchsuchungsorgie geben, wenn ich weg bin. Am nächsten Tag bringen mich zwei Mitarbeiter der Botschaft zum Gate, der chinesische Botschafter hat auf Nachfrage des deutschen versichert, mir werde nichts passieren. Am Flughafen ruft mich eine Kollegin an, sie sagt mir, dass im Hongkonger Sender Phoenix TV ein deutscher Journalist erwähnt wurde, der in Hongkong als Agent Provocateur unterwegs war (das Chinesische hat keine Weiblichkeitsform). Ich habe gerade aufgelegt, da erhalte ich eine SMS von Polizist Xu: »Wie ist deine Wechat-ID? Schick sie doch, damit wir auch in Zukunft noch lange in Kontakt bleiben können. Willkommen zurück in Peking.«

Lange hören wir nichts von Miao, trotz unzähliger Versuche des Anwalts. Bei seinen Nachfragen erfährt er, dass sie sich nicht mehr im Ersten Untersuchungsgefängnis befindet. Wir fürchten, sie ist in einem schwarzen Gefängnis gelandet. Diese illegalen Gefängnisse sind rechtsfreier Raum, dort können Sicherheitsleute tun, was sie wollen. Erst Tage später erfahren wir, dass sie ins Gefängnis von Tongzhou überstellt wurde, einem Vorort von Peking. Laut Gesetz dürfen Polizei und Wärter dort nicht schlagen, oft bedienen sie sich aber bestimmter Zellengenossen, die die anderen Häftlinge im Wissen oder Auftrag der Wärter malträtieren.

Am 10. Dezember darf der Anwalt Miao endlich sehen. Er gibt mir zu verstehen, dass wir nicht frei am Telefon sprechen könnten, teilt mir aber mit, dass Miao körperlich und seelisch leide. Ihr Geist sei stark, sagt er. Die Sicherheit wolle sie zwingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der sie unsere Beziehung als beendet erklärt.

Sie hat es nicht getan.

13. Januar 2015