Sammeln, was sonst untergeht

Eine kleine Revolution: Der chinesische Millionär Fan Jianchuan baut Museen, in denen er die Geschichte der Volksrepublik neu erzählt

Fan Jianchuan ist ein Jäger. Er wildert im ganzen Land, auf Bergen und in Tälern, in Hütten und Palästen. Fan, 54, strotzt vor Kraft und Tatendrang. Die Beine stecken in grünen Cargohosen, die Füße in schweren Militärstiefeln, er trägt eine schwarze Lederjacke und auf dem Kopf die grüne Mütze mit dem roten Stern darauf, wie einst die Rotgardisten. Wenn er geht, dann mit riesigen Schritten, wenn er spricht, dann mit ausladenden Gesten und donnernder Stimme. Er redet schnell, es gibt so viel zu sagen, das Leben ist kurz und die Aufgabe groß.

Die Beute seiner Jagd schafft Fan in seine Museen und Archive in Anren, Provinz Sichuan, Südwestchina. Fan öffnet uns die Tür zu einem Archiv, er ist aufgeregt. „Hier, die alte Popcornmaschine, wusstet ihr, dass die Bauern früher Popcorn machten?“ Er streicht über alte Buddhastatuen und Militärhelme, öffnet Fotoalben, er besitzt Zehntausende davon. Er zeigt die Tagebücher, Unzählige haben ihre Leben aufgeschrieben, die kleinen Dramen und großen Katastrophen. Fan greift mit beiden Händen in einen Eimer voller Essensmarken, Relikte aus der Zeit der Planwirtschaft. Er lässt sie durch seine Finger rieseln wie ein Bauer seine Ernte. Was für den Bauern Getreide ist, ist für Fan: Geschichte.

100 Jahre chinesischer Geschichte will er dokumentieren. Das Offizielle und das Okkulte, das Besondere und das Banale. Den Milchpulverskandal und Sars, das Binden der winzigen Lotusfüße, die geheimen Rituale der Mafiosi zur Zeit der Republik. Das Tagebuch eines japanischen Soldaten, der mit seiner Armee in China [https://www.zeit.de/schlagworte/themen/China] einmarschierte. Die Zufälle, Taten und Tragödien, die China zu dem machten, was es heute ist. „Eines Tages“, sagt er, „werden wir Geschichte sein. Wie die Dynastien der Ming oder der Qing.“ Das Sammeln sei mehr als ein Hobby, sagt Fan. „Es ist eine Sucht.“

Der Immobilientycoon hat schon 15 Museen gebaut, 30 sollen es werden

Fan ist in allem, was er tut, ein Gigant. Der Immobilientycoon zählte einst zu den 200 reichsten Männern Chinas, besaß ein Vermögen von 1,5 Milliarden Yuan, umgerechnet 165 Millionen Euro. Das meiste davon hat er nicht mehr. „Geld an sich interessiert mich nicht.“ Er hat damit hier, in Anren, den größten Museumskomplex Chinas gebaut. 15 Museen sind es schon, bald sollen es 30 sein. Museen für Teekultur und chinesische Medizin, Volkskunst und Seide, Maos „Großen Sprung nach vorne“, der das Land über Nacht zu einer führenden Industrienation machen sollte, und den „Großen Hunger“, der im Anschluss Millionen den Tod brachte. Acht Millionen Ausstellungsstücke hat Fan gesammelt, darunter 121 Nationalschätze. Was er nicht zeigen kann, lagert in vier Archiven. Nach seinem Tod, sagt er, möchte er die Museen dem Land vermachen. „Meiner Tochter habe ich eine erstklassige Ausbildung ermöglicht. Das muss reichen.“

Seine Museen sind eine kleine Revolution. Privatleute, die Kunstmuseen eröffnen, gibt es in China einige. Doch hier baut einer ein privates Geschichtsmuseum in einem Land, in dem die Partei die Geschichte für sich beansprucht. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“, schrieb George Orwell in seinem Buch 1984. Aber wer mit eigenen Augen auf die Geschichte schaut, findet seine eigene Erzählung. Und damit auch seine eigene Wahrheit.

Wer Fan Jianchuans Museen zum ersten Mal besucht, ist so verwirrt wie überwältigt. In einem Park von gewaltigen Ausmaßen reiht sich ein Museum an das nächste, dazwischen Statuen von Soldaten, Kriegsgerät, aus Lautsprechern plärrt patriotische Musik aus der Zeit des chinesischen Widerstands gegen die japanischen Besatzer. Im Museumsshop gibt es T-Shirts mit dem Konterfei Wen Jiabaos oder Hu Jintaos. Hier klimpert, so meint man, einer auf der Tastatur der Partei, spielt die altbekannte Melodie eines gedemütigten Volkes, dem die Partei zu Wohlstand und Würde verhalf. Erst auf den zweiten Blick, nach einem langen Spaziergang, erkennt man die feinen Botschaften. Erkennt den Schatz, der sich hinter dem Getöse verbirgt.

Als Fan zu sammeln begann, in den späten sechziger Jahren, als die Kulturrevolution begann, war er noch ein Kind. Der Vater, ein Soldat, als Rechtsabweichler abgestempelt, hatte es schwer. Fan sammelte, es war seine Weise, die Geschichte zu greifen, sich an ihr abzuarbeiten, man spürt es überall in seinem Museum. Wie sie ihn emporhob, um ihn wieder fallen zu lassen, ihn mit sich riss wie ein mächtiger Fluss.

„Meine Zunge ist zu schnell für die Politik“

Fan war Rotgardist, er sammelte die Reliquien der Kulturrevolution. Eines seiner Museen stellt die Mao-Anstecker aus, die damals in hundertfacher Ausführung zirkulierten. Man spürt die Ekstase der Propaganda, der Verführung durch einen großen Führer. Doch ein Stockwerk tiefer hängen die Fotos der Gedemütigten und Verlachten, sieht man die Fratze der Gewalt. Da steht nicht viel geschrieben, Fan will nicht erklären oder urteilen. Dieses Museum ist das Zeugnis eines Verführten, der immer noch nicht begreifen kann, wie es geschah.

In China gibt es keine Museen der Kulturrevolution. Keinen Ort, an dem die Millionen, die durch diese Zeit der politischen Raserei getrieben wurden, innehalten können. Ein anderes Museum zeigt die Spiegel jener Zeit, in der Kulturrevolution ein beliebtes Mittel der Propaganda, verziert mit revolutionären Parolen. Das Museum ist ein Labyrinth. Spiegel allerorten, es geht treppauf, treppab, Ecken und Geraden verschwinden. Alles verschwimmt im eigenen Bild. Getäuscht, geblendet.

Immer wieder begegnet man in Fans Museen seinem Vater, dem Mann, der mit 15 sein Dorf in der Provinz Shanxi verließ und in den dreißiger Jahren Soldat der Guomindang, der Nationalisten, wurde. Die japanischen Besatzer fingen ihn und machten ihn zum Wachposten eines Bergwerks, bis ihn sich die Kommunisten schnappten und in ihr Heer einverleibten. Fans Guomindang- Museum ist das einzige des Landes. Eine Sensation, rührt es doch an einem chinesischen Trauma: dem der Spaltung und Teilung. Eine Zeitlang bekämpften Guomindang und Kommunisten gemeinsam die japanischen Besatzer, danach zerfleischten sie sich in jahrelangem Bürgerkrieg. 1949 vertrieben die siegreichen Kommunisten die Guomindang auf die Insel Taiwan, jede der Parteien gründete ihren eigenen Staat. Unten in der Halle hängt ein Foto des Präsidenten Taiwans. Fan betreibt mit diesem Museum seine persönliche Versöhnungspolitik über die Meeresstraße hinweg.

Die Zensoren haben Fan dazu aufgefordert, dem Museum einen anderen Namen zu geben, es heißt jetzt nicht mehr „Guomindang-Museum“, sondern „Museum der Frontlinie“. Unter der neuen Aufschrift am Eingang kann man aber immer noch die alten Zeichen erkennen. Spricht man Fan darauf an, sagt er nur: „Das ging einfach nicht weg.“ Solche Sätze lässt er im Gespräch ganz nebenbei fallen. Auch, dass er gerne das Museum des korrupten Kaders eröffnet hätte, „aber das wollte die Partei nicht“.

Es gibt in seinen Archiven vermutlich noch so einiges, was die Partei nicht gezeigt haben will, Fan würde darüber nie offen sprechen. Seine Botschaften kommen leise daher. Zum Beispiel durch jenen Platz zwischen den Museen, auf denen Statuen der Widerstandskämpfer gegen die japanischen Besatzer stehen, chinesische Kommunisten und Nationalisten Seite an Seite. Mittendrin steht Mao Tse-tung, der Große Vorsitzende, nicht größer und nicht kleiner als die anderen, ein Soldat wie sie.

„Meine Zunge ist zu schnell für die Politik“, sagt Fan Jianchuan

Fan ist keiner, der die Partei bekämpft. Er ist Mitglied und umarmt sie, um ihr hintenrum seine Ideen unterzuschieben. Abends wird man ihn bei einem Bankett erleben, den Parteisekretär zur Rechten, den Bürgermeister zur Linken. Er wird ihnen auf die Schultern klopfen, sie Brüder nennen, und sie werden ihm antworten: „Von dir haben wir gelernt, Politik zu betreiben wie ein Geschäft.“ Fan war lange Soldat, er ist Patriot und stolz darauf. Er studierte marxistische Ökonomie an einer Militärakademie und lehrte das Fach auch, ein paar Jahre diente er als Vizebürgermeister seines Heimatorts. „Doch da gehöre ich nicht hin, meine Zunge ist zu schnell für die Politik.“

Ohne die Partei, glaubt Fan, würde China im Chaos versinken. Er hat der Partei zwischen seinen Museen Platz gemacht, ihr eigenes Museum zu eröffnen. Stählerne heroische Statuen stehen davor, Fan läuft vorbei, und dann kommt wieder so ein beiläufiger Satz: „Mmh, anderer Stil, ein bisschen wie bei Stalin oder Hitler.“ Dem Reformer Deng Xiaoping hat er eine Halle eröffnet. Er steht davor, sagt: „Die Reformen müssen weitergehen“, und man weiß, dass er politische Reformen meint.

Oft bewegt sich Fan an der Grenze des Erlaubten, ohne sie überschreiten zu wollen. Manchmal tut er es doch, dann wird ein Teil seines Museums „harmonisiert“, also zensiert. Wie der Platz, auf dem die Besucher zwischen Statuen der Politiker sitzen, spielen, picknicken sollten. Politiker zwischen Menschen, das ging der Partei dann doch zu weit. Jetzt ist der Platz von blickdichten Hecken umstellt. Gegen solche Eingriffe protestiert er nicht, zitiert nur einen Satz aus seinem Lieblingsfilm: „Wenn die Schritte zu groß werden, tun die Eier weh.“ Und er sagt auch: „In Peking wäre so ein Museum nicht möglich.“

Auf eines seiner Museen ist Fan besonders stolz: das Museum für das Erdbeben, das 2008 weite Teile von Sichuan zerstörte. Fan und sein Team brachten Essen und Medizin ins Katastrophengebiet und bargen Relikte: Lkw, im Beben verbogen, als seien sie Spielzeugautos. Zerstörte Brücken. Das Hochzeitskleid einer Braut, die mit ihrem Mann am Tag ihrer Trauung umkam. Die Colaflasche des Jungen, der nach 80-stündigem Ausharren unter Trümmern als Allererstes sagte: „Ich brauche jetzt ein Coke.“ Die Brille des Lehrers, der beim Beben losrannte, seine Schulkinder im Stich ließ und später sagte: „Ich hätte auch meine Mutter zurückgelassen.“ Und schließlich: ein lebendes Schwein. Piggy Determined, das 36 Tage eingeklemmt in Ruinen überlebte.

Veröffentlicht am 22. September 2011 in Die Zeit