Emanzipation auf Afrikanisch: Ausgerechnet im autoritär regierten Ruanda gibt es mehr Gleichberechtigung als irgendwo sonst auf dem Kontinent
Eine schöne Frau sitzt in einem schönen Café, schwerelos schmiegt es sich an einen Hügel in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Dida Nibagwire, 31, groß die Augen, fein geschnitten das Gesicht, hat ihre Dreadlocks oben zu einem Dutt gebunden, ihre schmale Gestalt in eine leichte Strickjacke gewickelt. Sie strahlt etwas Zartes aus. Vom Café blickt sie weit über die Stadt, die Straßen so sauber, die Hügel so grün. Abendidylle. Bis Nibagwire von den Toten erzählt.
Und während man ihr zuhört, kann man es kaum fassen: die Kluft zwischen dem, wo sie und ihr Land einmal standen. Und wo sie heute gelandet sind. Nibagwire arbeitet als Schauspielerin und Produzentin, sie hat ihre eigene Firma, Iyugi, mit der sie Radiodramen, Theaterstücke, Videos und Werbespots produziert. Sie beschäftigt drei Festangestellte, je nach Produktion gibt sie vielen Menschen Arbeit: Schauspielern, Sängern, Tänzern, Tontechnikern, Kameraleuten. Nibagwire ist recht nah dran an einer Welt, die seit Harvey Weinstein als eine ziemlich sexistische gilt. Sie streicht sich über die ausrasierten Seiten ihres Kopfes. „Patriarchat? Das ist nichts, was mich im Alltag besonders beschäftigen würde. Es sind Frauen, die bei uns die Castings machen. Manchmal bin es ja sogar ich.“ Sie lacht. „Immer war ich von starken Frauen umgeben, wurde ich von starken Frauen beschützt.“
Knapp zwölf Millionen Einwohner leben in Ruanda, einem kleinen hügeligen Land mitten in Afrika. Man würde es nicht vermuten, doch in nur wenig anderen Ländern weltweit haben Frauen mehr Einfluss als in Ruanda. Sie stellen 64 Prozent der Delegierten im Unterhaus, besetzen 40 Prozent der Ministerposten, stellen die Hälfte der Richter am Obersten Gerichtshof. Die Chefsessel des Außenamts, der Fluglinie Air Ruanda und der größten Bank, der Bank of Kigali, besetzen Frauen.
Eine Quote schreibt einen Anteil von 30 Prozent Frauen der Delegierten auf allen Verwaltungsebenen vor. Genderfragen werden nicht nur im Genderministerium behandelt, sondern auch in Angelegenheiten von Budget, Bildung, Landwirtschaft und Infrastruktur berücksichtigt. Wen immer man zu Equal Pay befragt, der ebenbürtigen Bezahlung von Mann und Frau, stets heißt es, dass das hier kein Thema sei. Laut Weltwirtschaftsforum liegt Ruanda in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter auf Platz fünf, noch vor Deutschland auf Platz zwölf.
Das klingt, als sei Ruanda ein Schweden in Afrika. Doch das ist es nicht. Denn die Frauen in Ruanda gewannen nicht an Einfluss, weil die Männer eines Tages beschlossen hätten, ihre Macht mit ihnen zu teilen. Sondern weil es nach den 100 Tagen des Mordens nur noch so wenige von ihnen gab.
Nibagwire war sieben Jahre alt, als es begann. Ihre Familie lebte in einem Dorf im Süden, seit Generationen schon. Sie gehörten zur Volksgruppe der Tutsi. Vater, Mutter, zehn Geschwister. Fast alle starben.
Das Morden begann in den Tagen des Frühlings 1994. 100 Tage, in denen Angehörige der Hutu-Mehrheit Tutsi abschlachteten, während die Welt einfach zuschaute.
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Nibagwire will nicht beschreiben, wie es geschah. Es tut weh, außerdem hasst sie es, als Opfer gesehen zu werden. Hutu töteten Tutsi-Nachbarn, mit denen sie Tür an Tür gelebt hatten. Meist taten sie es mit Macheten und einer Selbstverständlichkeit, die Jean Hatzfeld in seinem Buch Zeit der Macheten beschrieben hat: „Regel Nummer eins war zu töten“, sagte einer der befragten Mörder. „Eine zweite Regel gab es nicht. Es war eine Operation ohne Komplikationen.“ Ein anderer: „Das Eisen sagt keinen Ton, ob du es nun benutzt, um einen Zweig, ein Tier oder einen Menschen zu zerschneiden. Letztlich ist ein Mensch ja auch nur ein Tier, du führst den Schnitt gegen den Kopf oder Hals, und er fällt von selbst um. Während der ersten Tage waren die im Vorteil, die schon mal Hühner und Ziegen geschlachtet hatten. Später hatte sich dann jeder an diese neue Tätigkeit gewöhnt und seinen Rückstand eingeholt.“
Am Ende waren etwa 800.000 Menschen tot. Und 70 Prozent der Bevölkerung weiblich. Viele der Männer, die nicht geflohen waren, wanderten ins Gefängnis, verurteilt als génocidaires, als Völkermörder. Viele der Frauen, die ihre Angriffe überlebt hatten, waren vergewaltigt, verstümmelt oder wissentlich mit Aids infiziert worden.
Nibagwire überlebte. Ein Hutu-Nachbar hatte sie in seinem Haus versteckt, sie war in den Kongo geflohen. Als sie zurückkehrte, nahm ihre Tante sie auf. Die Tante war eine der wenigen der Familie, die am Leben geblieben waren, auch sie hatte ihren Mann und ein Kind verloren. „Jeder, der nicht wusste, wohin mit den Waisen, brachte sie zu ihr. Sie zog zehn Kinder auf, zeitweise sogar mehr“, sagt Nibagwire. Als Lehrerin in einer technischen Schule verdiente die Tante umgerechnet knapp 20 Euro, dazu kam das wenige, was ein Onkel beisteuern konnte.
Das Land begann praktisch von null
Die Frauen begruben die Toten, übernahmen die Jobs, die einst Männer erledigt hatten. Von den 785 Richtern, die vor dem Genozid tätig gewesen waren, waren nur noch 20 geblieben. Frauen, die laut Gesetz weder erben noch Land besitzen durften, bauten das Land wieder auf, so wie einst die deutschen Trümmerfrauen. Doch während man diese in den 1950er-Jahren wieder heim an den Herd schickte – zumindest in Westdeutschland –, zementierte die ruandische Regierung den neuen Status der Frau.
2003, neun Jahre nach dem Völkermord, gab sich das Land eine neue Verfassung, fortan waren Frauen den Männern gleichgestellt und wurden durch Quoten in der Politik gefördert. Im neuen Ruanda sollte keiner mehr sagen, ob er Hutu oder Tutsi sei, der Konflikt sollte ein für alle Mal überwunden werden. Ruanda ist klein, oft leben die Täter noch immer in denselben Dörfern wie die Opfer. „Wenn du beschließt, dich zu versöhnen, dann ist das wie ein Opfer, das du bringst, damit die Gesellschaft funktionieren kann“, sagt Nibagwire.
Das Land begann praktisch von null – und setzte zu einem erstaunlichen Wirtschaftswachstum an. Im ersten Quartal dieses Jahres lag es bei 10,6 Prozent. Es ist auch ein Grund dafür, dass Francine Munyaneza zurückgekehrt ist.
Munyaneza, eine elegante Frau in den Fünfzigern – genauer will sie sich da nicht äußern –, ist in Belgien geboren, in Ruanda und im Kongo aufgewachsen. Eine Exilexistenz, wie sie viele Tutsi aufweisen. Sie arbeitete bei den Vereinten Nationen, auf verschiedenen Posten rund um die Welt. Bei ihren jährlichen Heimatbesuchen in Ruanda dachte sie sich: „Wow, das Land verändert sich in rasendem Tempo.“ 2013 kündigte sie ihren Job, um in Kigali ihr Solarunternehmen Munyax aufzubauen. Inzwischen gibt sie elf Angestellten Arbeit und plant zu expandieren. „Meine Branche ist eigentlich eine klassische Männerbranche“, sagt sie. Doch als sie in den Berufsverband eintrat, sagten die Kollegen: „Wir brauchen hier mehr Geschlechtergleichheit. Du kommst in den Ausschuss.“
Wie so viele Ruander ist auch Munyaneza bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Das habe sie alle geprägt, sagt sie, hätte allein aber die Gesellschaft Ruandas nicht verändert. „Schau dich in Afrika um, in vielen Ländern ziehen Frauen ihre Kinder ohne Mann groß, doch ihre Rolle bleibt trotzdem die gleiche.“ Und dann sagt Munyaneza den erstaunlichen Satz, in dem sich das ganze Paradox des ruandischen Projekts spiegelt: „Die Genderpolitik war so erfolgreich, weil es eben nicht die Frauen waren, die nach Gleichberechtigung gerufen hätten, oder weil der Westen dies gefordert hätte. Sondern weil sie ein afrikanischer Mann implementiert hat. Von oben nach unten.“
Ruanda ist ein autoritärer Staat, der Staat Paul Kagames. 1994 kämpfte sich der Tutsi aus dem Exil zurück und vertrieb die radikalen Hutu, wobei auch Soldaten, die auf sein Kommando hörten, damals aus Rache Zehntausende Hutu massakrierten. Seit 2000 ist Kagame Präsident, de facto regiert er das Land seit 1994. Vor einem Jahr ließ er sich in einer nicht sehr freien Wahl ein drittes Mal zum Präsidenten küren, er ist jetzt 61 Jahre alt. Nach einer Verfassungsänderung darf er bis 2034 im Amt bleiben.
Christopher Kayumba, Professor an der Universität für Journalismus, hat ein Buch über Kagames Genderpolitik geschrieben. Auch Kagame war im Exil in Uganda von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen worden, sagt Kayumba, und Uganda verfolgte schon damals eine progressive Frauenpolitik. „Kagame war damit von keinem patriarchalischen Umfeld geprägt.“ Als er an die Macht kam, wollte er die Polarisierung entlang ethnischer Linien überwinden, suchte nach einem neuen Begriff und fand ihn in der Genderpolitik. Das hatte drei Vorteile. „Zum einen brauchte er ganz pragmatisch die Arbeitskraft der Frauen, sie hatten ja bereits gezeigt, wozu sie fähig waren. Außerdem sprach er damit die Bevölkerungsmehrheit an.“ Und schließlich ist Frauenförderung genau das, was Geberländer seit Langem in Afrika fordern. Laut einer McKinsey-Studie von 2015 könnte die Wirtschaft in Subsahara-Afrika bis zum Jahr 2025 um zusätzlich zwölf Prozent wachsen, wenn mehr Frauen in den Arbeitsmarkt einträten.
„In der Familie ist der Mann ein Diktator“
Die Frauenpolitik verleiht Kagames Regierung progressiven Glanz, und es ist das erklärte Ziel der Regierung, nach dem Genozid eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Kagame wird dabei so leidenschaftlich bewundert wie kritisiert.
Erstaunlich viele Afrikaner – selbst in Ländern, in denen es relativ friedlich zugeht, zum Beispiel im Senegal – erklären, sie wünschten sich einen Entwicklungsdiktator wie ihn. Einen, der durchregiert, die Korruption bekämpft, hohe Wachstumsraten erzielt, eine Vision verfolgt. Einen Staat, der ethnische Spannungen überwindet. Ein Land, das sich als Zentrum von Start-ups, Forschung und Kongresstourismus etablieren soll; Kigali wird von Singapur beraten. Auch im Umweltschutz will die Regierung punkten, Ruandas Städte sind makellos sauber, Kagame hat Plastiktüten verboten, aber auch die Bettler von den Straßen verbannt. Er regiert über ein Land, in dem nach Recherchen von Human Rights Watch Menschen verschwinden, gefoltert oder außergerichtlich hingerichtet werden.
Die Geschäftsfrau und Frauenrechtlerin Diane Rwigara, die bei der Wahl 2017 gegen ihn antreten wollte, sitzt noch immer gemeinsam mit ihrer Mutter im Gefängnis, unter anderem wird ihr die Anzettelung eines öffentlichen Aufstands vorgeworfen. Auch das ist ein Paradox: Zwar ist der Einfluss der Frauen in Ruanda vergleichsweise groß, gleichzeitig stößt ihr Einfluss in dem autoritärer werdenden System zunehmend an Grenzen.
Natacha Muzira, 34, schiebt die roten Dreadlocks aus dem Gesicht. Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern, arbeitet in einem Kulturzentrum und schreibt Theaterstücke – im aktuellen geht es um die Kultur des Patriarchats. „In Ruanda bist du als Frau geschützt, die Politik ist gut, doch wir leben noch immer in einer Kultur der Männerherrschaft. Und das zu ändern ist sehr schwierig.“ Es ist eine Kultur, sagt Muzira, in der älteren Frauen den jungen vor der Hochzeit den Rat mitgeben: „Konfrontiere ihn nie, egal was er tut. Liebe geht durch den Magen. Verweigere niemals Sex, und wasch ihn danach mit einem Handtuch sauber.“ Eine Kultur, in der laut einer Erhebung des Nationalen Statistikinstituts von 2015 48 Prozent der Frauen angeben, Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden zu sein. Eine Kultur, in der Frauen im Schnitt 53 Stunden pro Woche arbeiten und damit zehn Stunden mehr als Männer, weil sie neben dem Job auch noch Kinderbetreuung, Haushalt und Pflege übernehmen.
In einer Umfrage unter Ruandas weiblichen Abgeordneten berichteten fast alle Befragten, dass sie nebenbei die Hausarbeit erledigten. Ein Mann bestand darauf, dass seine Frau ihm das Frühstück mache, die Hemden bügele, die Schuhe putze und die Socken auf die Schuhe platziere. „Die Frauen haben einige der Verantwortlichkeiten der Männer übernommen“, sagt Muzira. „Doch kommen sie deshalb auch in den Genuss der Vorteile?“
Drei Jahre lang moderierte Muzira eine Late-Night-Show im Radio, es ging um Liebe, Sex und häusliche Probleme. Muzira hat genug gehört, um zu resümieren: „Die Probleme liegen daheim. Die Regierung kann schließlich nicht den Alltag der Menschen managen.“
Genau das versucht die Nichtregierungsorganisation Rwamrec, die in das Dorf Nyakabungo im Osten des Landes lädt. Vor ihrer Hütte sitzen Claude Barayavuga, 45, und Francine Nyiramatama, 35. Das Bauernpaar ist seit sieben Jahren verheiratet und erzählt von seiner Ehekrise. Als er eine Frau suchte, schien ihm die Rollenverteilung recht eindeutig zu sein: „In der Familie ist der Mann ein Diktator.“ Die Probleme begannen, als sie Kredite aufnahmen, die Schulden sich häuften und er anfing, sie und die Kinder zu schlagen.
Sie hörte von einer Art Nachbarschafts-Gruppentherapie. 15 Paare besprechen mit zwei Moderatoren ihre Probleme. Meist sind es die immergleichen: Gewalt, Schulden, erzwungener Sex. Sie wollte hin, um ihr Leben zu verändern, er, weil es für jede Sitzung ein wenig Geld gab. Anfangs versuchten sie, ihre Probleme zu beschönigen, doch die Nachbarn wussten ja eh schon Bescheid. Sie bekamen mit, dass er sie weiterhin schlug. Und bald sagten ihm die Männer des Dorfes: „Du bist eine Schande.“ Die Lage wurde so peinlich, dass er das Diktatorendasein aufgeben musste. Nun schlägt und trinkt er nicht mehr, hört ihr zu und ist bisweilen sogar bereit, seine Meinung zu ändern. Manchmal, sagt sie, bekomme sie jetzt Besuch von anderen Frauen. „Welche Medizin“, fragen sie, „hast du ihm nur gegeben?“