Im turbokapitalistischen China gibt es wieder bezahlte Nebenfrauen. Ihr Spiel um Geld und Gefühle ist riskant
F R Ü H E R , S A G T S I E , sei sie eine andere gewesen. Still und einsam. Nie in ihrem Leben habe es genug Geld, genug Liebe gegeben. Bis sie mit 18 auf eine Bühne trat und sang. Männer brachten Blumen, und sie merkte: Es ist alles ganz einfach.
Ein Samstagabend, die Luft ist sanft wie Seide. Wen Jing, 24, trägt einen Rock, so kurz, dass er ihre Strumpfbänder erkennen lässt. Sie hat sich die Lippen rot angemalt, an ihrer Handtasche baumelt ein Anhänger »I am a lovaholic«. Wen will ins Baba, sie will immer ins Baba, weil es »the highest club« ihrer Heimatstadt Chengdu ist. Kurz vor der Tür zieht sie den Kamm aus der Handtasche, streicht damit über ihr Haar und sagt: »Wet- ten, dass alle nur mich wollen? Zehn Männer am Abend, Minimum.«
Und wer weiß, vielleicht will ja einer sie heiraten, einer, der Geld und Erfolg hat, vielleicht hat er genug von seiner Frau und will stattdessen: sie. Einst war Wen eine Konkubine, eine Mätresse verheirateter Männer, sie würde es auch wieder sein. »Aber nur wenn Aussicht auf Hochzeit besteht.« Heirat ist letztlich das Ziel jeder Konkubine.
Sie segelt durch die Tür, sie ist jetzt eine andere, sie strahlt. Im Club tanzen Frauen, schönere als Wen, keine aber versteht sich wie sie auf die Verführung. Da ist nichts Angestrengtes in ihrem Verhalten, sie entfaltet ihre Kunstfertigkeit mit der schlafwandlerischen Sicherheit einer Tänzerin. Der DJ spielt I wanna be a billionaire, und sie tanzt.
Ihr Blick geht zur Seite, zu einem Mann an der Bar, sie schlägt die Augen auf, nur einen kurzen Moment, es liegt so viel darin – ich werde dich fliegen lassen, traust du dich denn? Sie lächelt, ihre Zungenspitze blitzt kaum sichtbar hervor. Er starrt sie an, sie wendet sich ab, lässt ihn zappeln. Es dauert keine fünf Minuten, und sie flirtet mit vier Männern gleichzeitig, so wie ein versierter Tischtennisspieler vier Aufschläge in kurzen Ab- ständen schafft, bei jedem Ball Richtung, Drall und Tempo kontrollierend. Einer der Männer, groß, Brille, Ende 30, unscheinbar, ist genau ihr Typ. Er trägt nicht groß auf, und doch wirkt er, als ob er Geld haben könnte.
Viele Reiche und Mächtige amüsieren sich im Baba, überall stehen Aufpasser herum, die darauf achten, dass keiner ein Foto macht. Die Reichen und Mächtigen sind Wen Jings Zielgruppe. Hier in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas, trifft man sie überall. Nirgends im Land verkauft Louis Vuitton mehr als hier. Vor drei Jahren erschütterte ein gewaltiges Erdbeben die Provinz, seither trägt keiner mehr sein Geld auf die Bank. Sie wollen leben, im Hier und Jetzt. Im Baba schmiegen sich atemberaubend schöne Frauen an ältere Männer, die jungen Männer beachtet keine. »Sie haben keinen Erfolg«, sagt Wen, »und wer keinen Erfolg hat, ist nicht attraktiv.«
Ihre Männer waren erfolgreich. Der Erste war ein Geschäftsmann aus Peking, er machte in Immobilien. Sie war 18, er 37. »Ich suche nur eine Geliebte«, sagte er. »Es war die unschuldigste Liebe meines Lebens«, sagt sie. Er mietete eine Wohnung, gab ihr im Monat bis zu 30 000 Renminbi Taschengeld, umgerechnet mehr als 3000 Euro. Nummer zwei war geschieden, er hatte einen Kleiderhandel und schenkte ihr teure Garderobe. Nummer drei, verheiratet, auch er in der Immobilienbranche, spendierte ihr die Anzahlung für eine Wohnung. Wen Jing braucht die Männer nicht, um zu überleben. Sie verdient mehr als 2000 Euro im Monat, ein gutes Gehalt. Erst arbeitete sie als Sängerin in Bars, heute ver- treibt sie chinesische Heilmittel.
Sie findet aber, ein Mann solle ihr »Leben verbessern«. Wen sucht in Männern auch den Vater. Ihrer brannte durch, weil es eine andere gab. Er ließ sich verleugnen, als Wen als Jugendliche im Krankenhaus lag, er wollte die Rechnung nicht bezahlen. »Als Kind mangelte es mir an Liebe, jetzt suche ich danach.« Nach einem, der sie behandelt, als sei sie das Kostbarste auf der Welt. »Der mich verwöhnt, als sei ich ein Kind.« Sie sucht im Internet, in Bars, im Nachtleben, sie fragt je- den, ob er ihr nicht »jemand Erfolgreichen« vorstellen könne. Sie lernt viele Männer kennen, »doch wenn mir eine Kleinigkeit nicht gefällt, suche ich gleich den Nächsten«.
Wenn eines stetig ist im Leben von Wen, dann ist es der Wandel. Ihr Gesicht kann sich in Sekunden verändern. Eines Abends singt sie im Wohnzimmer eines Freundes, ihr Ausdruck wird so sinnlich dabei – kaum fertig, triumphiert sie. »Tolle Stimme, oder? Sagen alle. Meine Haut ist so schön, weiß wie die einer Europäerin. Und mein Humor ist besonders ausgeprägt.« Zwischen Zuneigung und Hass liegen Augenblicke. Sie wird uns, Reporterin und Fotografin, abends vor dem Club anschreien: »Lasst mich in Frieden«, um uns nach durchgemachter Nacht am Morgen anzurufen: Sie wolle uns unbedingt sehen. Abends lacht und tanzt sie, morgens sagt sie: »Warum ist das Leben nichts als Leid?«
Mag sein, dass Wen Jing perfekt in diese Zeit des Umbruchs passt. Sie hatte nicht die besten Karten im Leben. »Hätte ich eine bessere Kindheit gehabt, hätte ich jetzt einen PhD.« Doch hält sie sich nicht lange damit auf. Sie holt aus dem, was ist, das Beste heraus. Alles könnte eine Chance sein. Vielleicht sogar der Detektiv, den sie vor zehn Tagen über eine Heiratswebsite kennenlernte.
PRIVATDETEKTIV Wei Wujun ist fast am Ziel. In dem Wohnblock dort lebt die Konkubine, die er beschattet, in der Tiefgarage steht ihr Wagen. An den will er ran, doch blockiert ein Wachmann das Tor. »Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.« Wei weiß, was er tun muss. Er macht den Job seit 18 Jahren, sie nennen ihn den »Konkubinenkiller«. »Jeder kennt mich, ich bin der Immobilienmakler, lassen Sie uns gemeinsam reingehen, ich will mir das Anwesen anschauen.« Der Wach- mann gibt nach, Wei lullt ihn ein mit einem Schwall aus Nebensächlichkeiten, bis er wie nebenbei fallen lässt: »Ich gehe in die Tief- garage, mal sehen, wie das Telefonnetz dort ist. Gehen Sie schon mal vor.« Sekunden später hat er das GPS-Gerät unter der Limousine der Konkubine angebracht. »Kleinere GPS hat nur die CIA«, flüstert Wei, »und jetzt nichts wie raus.«
Wei war Soldat, er hoffte auf eine Karriere. Sein Vater war ein hoher Militär, bis er in Ungnade fiel, der Sohn landete im Knast, »aus politischen Gründen«. Es war, sagt Wei, »die beste Lebensschule«. Er habe dort ge- lernt, zu führen, »die Schwächen des Gegners zu nutzen«. Das hilft ihm bis heute. Wei war ein Workaholic, doch jetzt ist er 57, er sagt, er fühle sich oft müde.
Seine Gegner sind meist Mätressen. Er jagt sie im Auftrag betrogener Ehefrauen. Auch jetzt ist das so. Seine Geldgeberin und ihr steinreicher Mann sind chinesischstämmige Kanadier. Sie leben in Peking, doch er ist oft unterwegs. Geschäfte, sagt er. Abenteuer, weiß sie. Er hat elf Geliebte, keine aber ist ihr so sehr ein Dorn im Auge wie die Konkubine in Chengdu, denn die hat ihm zwei Kinder geboren. Er hat ihr eine teure Wohnung gekauft und viele Geschenke gemacht. Wei sagt, er habe vieles erlebt, Liebe und Betrug in unzähligen Varianten, »doch eine Geschichte wie diese höre ich zum ersten Mal«. Die Mätresse in Chengdu soll von ihrer Mutter auf- gestachelt worden sein, die den Körper der Tochter als Kapital zu nutzen wusste. Sie suchte eine Stelle für ihre Tochter und drängte sie, sich zu bewerben und den Chef zu verführen. Jetzt leben Mutter und Tochter gemeinsam in der Luxuswohnung.
KONKUBINEN, sagt Wei, waren eigentlich Vergangenheit, ein Phänomen des feudalen Chinas. Erfolgreiche Männer hielten sich Nebenfrauen und Konkubinen, die Kaiser verfügten über Tausende. Konkubinen halfen dabei, die wichtigste Aufgabe eines Mannes zu erfüllen: so viele männliche Nachkommen wie möglich zu zeugen. Und weil Ehen ohne Rücksicht auf das Brautpaar von den Eltern arrangiert wurden, sollten Konkubinen dem Mann schenken, was er in seiner Ehe vermisste. Konkubinen galten als persönliches Eigentum des Hausherrn, sie konnten gekauft und verschenkt werden, in mehreren Gedichten der Tang-Dynastie findet sich die Formulierung »eine Konkubine für ein gutes Pferd eintauschen«.
Verlor eine Konkubine die Gunst des Kaisers, verbannte er sie in den »Kalten Palast«, manchmal mussten Konkubinen, die dem Kaiser keinen Sohn geboren hatten, diesem in den Tod folgen. Doch während ein Mann viele Frauen gleichzeitig unterhalten konnte, durfte sich eine Frau nicht an mehrere Männer binden. Gu Hongming, ein berühmter Gelehrter der Qing-Dynastie, der von 1857 bis 1928 lebte, schrieb: »Wir wissen, dass eine Teekanne von vier Tassen begleitet ist. Doch hat man je eine Tasse und vier Kannen gesehen?« Und weiter: »Es ist die Selbstlosigkeit der chinesischen Frauen, die das Konkubinat in China nicht nur möglich, sondern auch nicht unmoralisch macht.«
Selten brachte es eine Nebenfrau oder Konkubine zu Macht. Die berühmteste war Cixi, Nebenfrau des Kaisers, die ihm den einzigen männlichen Nachkommen gebar und de facto um die vorletzte Jahrhundertwende jahrzehntelang über das Land herrschte. Die Kommunisten trachteten danach, das Konkubinat auszurotten, für sie war es ein verkommenes Relikt der Feudalzeit. Was Mao
Tse-tung nicht davon abhielt, sich mit Hunderten Gespielinnen zu vergnügen. Die meisten Chinesen aber waren viel zu arm, um eine Zweitfrau zu unterhalten.
Noch 1993, als Wei seine Detektei auf- machte, gab es fast keine Nebenfrauen. Dann aber kamen Geschäftsleute aus Taiwan und Hongkong aufs Festland, ihre Frauen blieben zu Hause. Diese Männer fühlten sich einsam und nahmen sich Zweit- oder Dritt- und Viertfrauen. Mittlerweile nennt man die Mätressen ernai, zweite Milch. Oder xiao san, kleine Dritte. (Heute gibt es in Peking übri- gens auch einen Club, in dem reiche ältere Frauen junge Liebhaber finden können.) Viele kennen »kleine Dritte«, und doch ist es un- geheuer schwierig, eine dieser Frauen zu treffen. Das Thema ist ein großes Tabu.
Asiatische Frauen seien anders als westliche, sagt der Detektiv. Viele Frauen im Osten lehnten sich gern an der Schulter des Mannes an, »sie sind intelligent, sie nutzen die Kraft des anderen«. China habe kein gutes Sozialsystem, alle seien nervös, vielleicht habe man heute Geld, aber wie sehe es morgen aus? »Nur wenige sind reich, und die Armen wollen etwas aus dem Topf der Reichen.«
Ein Mann, der heiraten will, lautet ein ungeschriebenes Gesetz, braucht ein Auto und eine eigene Wohnung. Das aber fällt schwer in Großstädten, in denen die Immobilienpreise explodieren. Aufgrund der Ein- Kind-Politik seit 1979 haben viele Eltern weibliche Föten abgetrieben. Es gibt in China in der Generation der unter 32-Jährigen also mehr Männer als Frauen. Und doch finden sich in der großen Auswahl möglicher Heiratspartner nur wenige, die den Anspruch vieler Frauen erfüllen: erfolgreich zu sein.
Wenige in China wurden reich geboren. Wer Geld hat, ist meist selbst dazu gekommen – und ist schon verheiratet, denn ein weiteres ungeschriebenes Gesetz besagt, dass man vor dem 30. Geburtstag heiraten soll. »Eine Frau, die einen erfolgreichen Mann sucht, hat gar nicht so viele Möglichkeiten«, erklärt Wei. »Sie kann einen in den Zwanzigern heiraten, doch das ist, wie auf ein Pferd zu wetten. Also nimmt sie einen geschiedenen Mann oder wird Mätresse.«
Auch der Detektiv selbst, verheiratet, treibt sich öfter auf Heiratswebsites herum, »manche der Mädchen suchen Vaterliebe, andere werden zu Geliebten«. So lernt er Wen Jing kennen. Anfangs verstehen die beiden sich gut, doch dann gibt es Probleme. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben«, schreibt Wen, Tage später findet sie, es wäre doch schön, wenn man sich wieder treffe.
WEN JING HAT kaum geschlafen in dieser Nacht. So wie in den Nächten zuvor, da gab es Männer und Feste, sie wollte vergessen. Manchmal hat sie morgens drei Schlaftabletten genommen, um Ruhe zu finden. Jetzt steht sie müde und aufgekratzt vor dem Gerichtssaal Nummer fünf des Amtsgerichts Jinjiang, Chengdu. Im Saal, durch ein Fenster in der Tür zu sehen, steht der Mann, der sie betrogen hat, den Kopf gesenkt, die Hände in Handschellen. Als er sich zur Seite wendet, sieht man den starken Körper, ein gebräuntes Bauerngesicht, große runde Augen. Wie er sie ansah mit diesen Augen. Gleich im ersten Monat sank er auf die Knie: »Willst du mich heiraten?« Im zweiten Monat bat er sie umgerechnet um etwa 14 000 Euro – er wolle ein Geschäft eröffnen. Wen gab ihm das Geld. Später erfuhr sie, dass er das gleiche Spiel mit acht weiteren Frauen getrieben hatte. Aus- gerechnet Wen, die mit Männern spielte, war auf einen Schwindler hereingefallen.
Die Frau des Angeklagten kommt aus dem Gerichtssaal, eine Bäuerin, ärmliche Kleider, Verzweiflung im Gesicht. Sie sinkt vor Wen Jing auf die Knie, sie nimmt ihre Hand, sie weint: »Du kriegst das Geld zurück, auch wenn es dauern wird. Ich flehe dich an, bitte den Richter um eine milde Strafe.« Wen Jing zieht den Kamm aus ihrer Handtasche, streicht damit durch ihr Haar und sagt: »Er wird zehn Jahre bekommen. Mindestens.«
EIN SONNTAG in Peking, mitten in einem schicken Neubaugebiet. Elegante Frauen strömen in die Schule für tugendhafte Frauen, um zu erfahren, wie man einen reichen Mann verführt. Sie lernen, wie man galant Tee aufgießt und sich vorteilhaft schminkt. Wie man den wahren Charakter eines Menschen am Gesicht erkennt. Eine Schwiegermutter für sich gewinnt. Sie üben sich in der Kunst des Streitens: Gib dem Mann recht, und webe dann deine eigenen Ideen in seine hinein. Vermittelt werden traditionelle Familienwerte, angepasst an moderne Bedürfnisse: Die Frau soll arbeiten, wenn sie das will, doch darüber die häuslichen Pflichten nicht vernachlässigen.
Die Chefin Shao Tong empfängt. Die eine Seite ihres Gesichts, das hat sie eben in einem Kurs erklärt, zeige ihr professionelles Gesicht, während die andere ihre wahre Seite, das schelmische Kind, offenbare. Einst war sie Heiratsvermittlerin bei einer Eheanbahnungswebsite, dort beriet sie erfolgreiche Männer. Sie sagt, sie wisse, was die Männer suchten, das lehre sie nun ihre Schülerinnen. »Wir bringen ihnen nicht bei, wie man liebt, sondern wie sich erfolgreiche Männer in sie verlieben. Du musst wissen, was er will, sonst kannst du auch sein Geld nicht ausgeben.«
Überall in China gebe es erfolgreiche Männer, sagt Shao, nur: Wie kriegt man die? »Heirat ist eine zweite Geburt. Wenn du heiratest, kannst du dein Leben verändern.« Die
in den siebziger Jahren Geborenen, sagt sie, seien romantischer als die aus den achtziger Jahren, die hätten ganz andere Bedürfnisse. »Und seien wir ehrlich: Wie viele Frauen kön- nen die verwirklichen? Nur wenige verdienen so viel Geld wie die Männer.« Sich immer beweisen zu müssen mache müde. »Auch wenn man in China über Gleichheit redet: Männer sind mächtiger. Eine Familie ist bes- ser für deine Zukunft.«
GLEICH ZU ANFANG unseres Treffens wirft Xie Lijun, 37, ihre Vergangenheit auf den Tisch. Ein dicker Stapel Papier. »Lest das durch, dann dürfte es keine Fragen geben. Ich möchte nicht mehr darüber reden.« Wo immer sie hinkommt, ihre Vergangenheit ist schon da. Es gab eine Zeit, da war sie der dritthäufigste Suchbegriff bei einer chinesischen Internet-Suchmaschine, gleich hinter Mao Tse-tung. Als sie es erzählt, weiß man nicht, ob da nur Grauen mitschwingt oder nicht auch ein wenig Stolz.
Xie Lijun möchte los davon, in die Gegenwart. Energisch federnden Schritts verlässt sie das Hotel und steuert auf ihren roten Buick zu, sie wirkt wie die perfekte Besetzung für eine TV-Serien-Anwältin. Attraktiv, schnell, streitlustig. Xie will uns die Entrechteten ihrer Heimatstadt Cixi, Provinz Zhejiang, vorstellen, für die sie sich unentgeltlich als Bürgeranwältin einsetzt: Bauern, die um ihr Land gebracht wurden, einen pensionier- ten Grundschullehrer, der auf Kompensation für einen Unfall wartet. Zwei weiße Autos verfolgen Xie auf ihrem Weg. Sie grinst. »Ach, die Leute vom Parteisekretär.«
Sie schlägt Haken und lacht vergnügt, als es ihr gelingt, die Verfolger abzuhängen. Der Parteisekretär, nervös geworden, ruft sie immer wieder auf dem Handy an, sie wim- melt ihn ab. Mit der Zeit wird sie immer aus- gelassener, sie kichert wie ein Schulmädchen.
Abends aber holt die Vergangenheit sie ein, ihre Stimme wird nun dünn. Sie sitzt in einem Café, eine müde, verletzte Kämpferin, und man versteht: Ihre Kraft ist die andere Seite ihrer Verzweiflung. »So was«, sagt sie, »ist eine Narbe fürs Leben.« Es gibt Tage, da geht sie durch die Stadt, und Menschen grü- ßen sie, aber wer weiß, vielleicht denken sie ja doch: Nutte, Schlampe, verkommenes Ding. Andere sprechen es aus, schreiben es in die Chatrooms, die sie besucht. »Er war«, sagt sie, »die Liebe meines Lebens.« Und mit ihm zu- sammen zu sein war ihr größter Fehler.
Sie traf ihn vor sieben Jahren, als sie schwarz Taxi fuhr. Er stoppte sie, Polizist, zu- ständig für Schwarztaxis, Parteimitglied, für die Verhältnisse von Cixi ein hohes Tier: Er bekleidet den Rang eines Vizebürgermeisters. Er konfiszierte ihr Auto und fragte nach ihrer Nummer. Am nächsten Tag rief er an, »ich komme vorbei«, er wird ermitteln wollen, dachte sie. Stattdessen zog er ihr die Kleider vom Leib. Halb nahm er sie mit Gewalt, halb ließ sie sich nehmen. Am Morgen darauf stand ihr Auto vor der Tür.
Sie wurde seine Konkubine, ein ganzes Jahr lang, das Paar reiste und vergnügte sich.
Er gab ihr kein Geld, doch er zahlte fürs gemeinsame Vergnügen, insgesamt ungefähr 4000 Euro. Sie verliebte sich. Und sah es nicht so aus, als liebe auch er sie? Hatte er ihr nicht die Lieblingsmünze aus seiner Sammlung geschenkt? Hatte er sie, Xie, nicht mitgenommen am chinesischen Neujahrstag, dem großen Familientag, ins Haus seiner Mutter, anstelle seiner Frau? Und dann, wie freuten sich beide, wurde sie schwanger.
Doch als sie das Baby nach drei Mona- ten verlor, veränderte er sich. Er beschimpfte sie. Und sie wollte sich das nicht bieten lassen. »Man kann nicht einfach so zu einer Frau ins Bett steigen«, sagte sie. »Wer in mein Bett steigt, zahlt einen Preis.« Sie schrieb Beschwerdebriefe an Zeitungen, die Partei, eine Regierungsstelle. Dazu als Beigabe ein Sex- video, das er mit ihr gedreht hatte. Sie postete ihre Geschichte online: »Hilferuf einer schwachen Frau«. Journalisten kamen, um sie zu interviewen. Ihr Fall versprach einen Skandal, der es in sich hatte: Sex und Politik, Korruption und ein Funktionär. Nie aber habe sie, sagt Xie, das Sexvideo auf 40 Websites veröffentlicht, wie einige behaupteten.
Der Polizist flehte sie an, aufzuhören, er versprach, zu ihr zurückzukehren. Doch es war zu spät. Xie war eine andere. Nicht mehr die Geliebte, sondern die Rächerin. Als sie wieder einmal zu seiner Arbeitsstelle ging, um sich zu beschweren, verprügelte er sie gemein- sam mit seiner Frau. Schlimmer war, dass er nun öffentlich zurückschlug. Ein Freund von ihm postete in einem Forum: Sie sei eine
Schlampe, eine Betrügerin, die wegen des Geldes verheiratete Männer verführe. 607 Menschen hätten das gesehen, sagt Xie. Ge- nug, damit sich die Sache herumsprach. Von Nachbar zu Nachbar, von Haus zu Haus. Xie traute sich nicht mehr vor die Tür. Sie sprach mit keinem mehr, saß vor dem Computer, las die Hasstiraden und verzweifelte. Sie ging zu seinem Büro, 70 Schlaftabletten im Blut, sie wollte sich umbringen vor aller Augen.
Sie hat überlebt. Und die Rache wurde ihr Lebensinhalt. Wie sollte sie es ertragen, dass er sie benutzt und gedemütigt hatte, dass er dabei noch immer auf seinem Posten saß, geachtet und mächtig, während die Schande allein an ihr hängen blieb? Sein Leben hatte sich nicht verändert, ihres war zerstört. Sie ist schon Dutzende Male nach Peking gefahren, um bei einer Behörde Petitionen gegen ihn einzureichen. Sie hofft auf eine politische Kampagne, darauf, dass er gefeuert wird. Weil Petitionäre als Unruhestifter gelten, findet sie keinen Job mehr. Sie lebt vom Geld ihrer El- tern und studiert, sie will Anwältin werden.
»Ich weiß, wie schwer es ist, recht zu bekommen. Männer können außerhalb der Ehe mit Frauen spielen, doch für Frauen ist es eine Narbe fürs Leben.« Dabei sei es doch ganz einfach, sagt Xie: Hinter dem Erfolg jedes Mannes stünden viele Frauen. Manche seien Ehefrauen und andere Mätressen. Und hinter dem Erfolg jeder Frau stünden viele Männer. »Frauen benutzen Männer, um voranzukommen. Nur ich habe das nicht gemacht, ich bin ganz schön dumm.« Die Liebe, sagt sie, habe sie aufgegeben. Ihr Leben ist ein Kampf, für sich und andere. Sie will jetzt nach Jiaxing fahren. Dort wartet eine Konkubine in Not.
DIE DRITTE KONKUBINE, die wir treffen, ist 31. Sie sagte, sie wolle verschleiert kommen, damit sie keiner erkenne, gehüllt in ein schwarzes Tuch. Dann aber steht sie im rosa Kleid in der Hotellobby, eine Märchenfigur von umwerfender Weiblichkeit. In der Anonymität eines Hotelzimmers will sie sprechen. Sie setzt sich auf den Stuhl, ein Bein gen Boden angewinkelt, als erwarte sie den Ritterschlag. Ihre Sprache ist durchwirkt von literarischen Anspielungen. Dies ist kein Interview. Sondern ein Auftritt.
»Manche mögen mich Konkubine nennen oder Mätresse«, beginnt sie, »ich sehe mich anders. Dieser Begriff ist ein Hut, unter dem viele unterschiedliche Frauen stecken.«
Sie war 20 und kam vom Land, sie hatte wenig Bildung und in der Liebe keine Erfahrung. Tagsüber arbeitete sie in einem Friseurstudio, nachts in einem Karaokesalon. Sie war eines der Mädchen, die Männer unterhalten.
Sie lachte, wenn die Männer Witze machten, sie tat, als ob sie mit ihnen rauche und trinke. Sie inhalierte nicht, den Alkohol schüttete sie heimlich weg. »Nie habe ich mich verkauft, weder meinen Körper noch meine Seele.« Eines Abends kam er, 16 Jahre älter als sie. Er machte nicht viel her. »Er fuhr einen Santana, und ich glaubte, er sei ein Fahrer.« Anfangs gefiel er ihr nicht besonders, doch »er spielte seine Verführungskünste aus, und ich konnte nicht widerstehen«.
Nacht für Nacht besuchte er sie und verschwieg, dass er Frau und Kind hatte. Nach einem Jahr lud er sie zu sich nach Hause ein, kommentarlos, sie sollte verstehen, dass er verheiratet war. Im zweiten Jahr führte er sie mit Frau und Kind zum Essen aus. »Sie ist meine Assistentin«, sagte er zu ihnen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er zu ihr. »Noch bist du zu jung für die Ehe. Warte, bis du 30 bist, dann werde ich dich heiraten.«
Sie trug ihr Haar damals kurz wie ein Junge. »Lass es wachsen«, sagte er, »es wird schön aussehen auf dem Hochzeitsfoto.« Nie wieder hat sie es schneiden lassen seit jenem Tag. Sie hegt und pflegt es, einen schwarzen, wallenden Strom des Versprechens.
Die Jahre vergingen. Sie studierte Literatur und verdiente Geld – »dafür hatte ich immer ein Händchen«. Er startete mit ihrer Hilfe ein erfolgreiches Import-Export-Unternehmen. Nie sah sie in all den Jahren einen anderen an. »Wenn eine Frau einen Mann liebt, lebt sie wie unter einer Käseglocke.«
Es gab Zeichen, feine Risse im Glück, sie wollte sie nicht wahrhaben. Sie weiß das Datum genau, es war der 18. Oktober 2006. Von jener Nacht an wollte er keinen Sex mehr haben. »Es störte mich nicht.« Er lag bei ihr, wenn es kalt war und dunkel, manchmal rief seine Frau an. »Ich kann nicht«, sagte er dann ins Telefon, »ich habe zu tun.«
Sie wurde 27, 28, 29, und noch immer kein Ring, keine Pläne. »Die Sonne geht auf und unter, die Blätter werden erst grün und dann braun. Ich war ein unschuldiges Mädchen, nun bin ich eine Blume, die verwelken wird.« Er hatte jetzt weniger Zeit für sie. »Ich habe zu tun«, den Satz sagte er jetzt zu ihr. Sie spuckt die Worte aus, als seien sie Gift. Sie wurde immer nervöser. Eines Abends, sie sa- ßen im Auto, bat sie ihn zu bleiben. Eine Stunde oder zwei. Er sagte: »Zieh Leine.« Da nahm sie die Schere aus ihrer Handtasche, mit der sie ihr Haar pflegt, und rammte sie tief in ihren Oberschenkel. Sie zeigt die Narben, zwei lange gekreuzte Striche, dünn wie Spinnweben. Er schmiss sie aus dem Auto. Sie wollte sterben, »doch es ist so schwer«.
Von jenem Abend an zog er sich zurück. Er drohte ihr: »Wenn du so weitermachst, wirst du verschwinden. Ich werde mir nicht
die Hände schmutzig machen, aber …« Auf jede erdenkliche Art habe er versucht, mit ihr Schluss zu machen. Und mit jedem unbeantworteten Anruf, jeder allein verbrachten Nacht wurde ihre Not größer. »Ich bin wie ein Schatten, der einem Körper folgt. Und wie der Schatten seinen Körper nicht verlassen kann, kann auch ich ihn nicht verlassen.«
Und dann sagte er den Satz, der etwas in ihr zerbrechen ließ: »Wir haben nichts miteinander zu tun.« Nur weil sie dieses Papier nicht hatte, die Heiratsurkunde. Sie besorgte sich ein Klappmesser, steckte es in ihre Handtasche, neben das Tränengas. Es war der 13. Dezember 2009, sie fuhren noch einmal gemeinsam im Auto. Sie griff in die Tasche und sprühte ihm Gas in die Augen. Er stieg aus, rannte davon, sie hinterher, rammte ihm das Messer in den Rücken. »Ich wollte ihn nicht töten. Aber ich bin eine Liebende! Ich war 29! Und er hatte es versprochen!«
Sie kehrte zurück ins Auto, zitternd, sie glaubte, man würde sie zum Tode verurteilen. Sie wählte zwei Nummern. Die der Polizei und die von Xie Lijun, von der sie im Internet gelesen hatte. Die sie bewunderte, »weil sie für die Rechte der Frauen streitet«. Noch am selben Abend ließ die Polizei die Konkubine frei, es war nur eine kleine Wunde.
»Wir Frauen sind Opfer. Seine Frau, ich, wir alle. Alle Frauen sind schwach, doch die Konkubinen sind am schwächsten. Alle schauen auf uns herab. Sie wollen uns zertreten, sie glauben, wir seien an allem schuld.« Der Mann, den sie liebe, sei entsetzlich, und sie sähen sich fast nicht mehr. Doch sie liebe ihn noch immer. »Er ist eine Zelle in meinem Körper, jede Zelle in meinem Haar.«
Xie Lijun hat der Konkubine geraten, sich von dem Mann zu trennen. Vielleicht könne sie ja darauf spekulieren, dass er ihr Geld gebe. Die Konkubine hat entschieden den Kopf geschüttelt. Nein, sie werde aus dieser Welt gehen. Auf den Gipfel des Mount Everest steigen und nicht mehr zurückkehren. Oder sie werde sich in ein Boot setzen, voll- geladen mit Essen und Benzin, und aufs Meer hinausfahren. Sei das Essen aufgebraucht, werde sie den Rest des Benzins nehmen und das Boot anstecken. Xie hat genickt und nichts dazu gesagt, darauf hoffend, dass sich am Ende der Pragmatismus durchsetzt.
Xie fährt heim, über die gewaltige See- brücke von Hangzhou, die zweitgrößte der Welt. In der Mitte bleibt sie stehen, dort, wo das Land nur eine Ahnung ist. Sie steigt aus und beugt sich übers Geländer. Ihr Haar flat- tert im Wind, unter ihr braust das Meer, gelb vom Schlamm. Es riecht nach Salz und Ferne.
»Und wenn ich irgendwo anders neu anfangen würde? Dort, wo mich keiner kennt?« Warum sie es nicht tue? Sie dreht sich um, geht zurück zum Auto und lacht in den Wind
hinein. »Ach nee.«
Veröffentlicht August 2011 in Zeit Magazin
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