Matatu Metropolis

@Christian Bobst
Sie sind schrill, sie sind laut, sie sind das Rückgrat des Nahverkehrs: In Nairobi wetteifern fantasievoll aufgemotzte Busse um Fahrgäste – und darum, mit Style ans Ziel zu gelangen

Der Beat treibt Passanten vor sich her, lässt Fenster erzittern, signalisiert jedem hier auf der Hauptstraße von Ongata Rongai, einem Vorort Nairobis, Kenia, Ostafrika: Hier wartet nicht nur ein Bus. Hier steht ein feuerroter Blitz, eine Disco auf Rädern. 

Hier beginnt ein Abenteuer.

Der Beat schießt in die Füße von Benarnd Njoroge, 32, den sie den „kleinen Mann“ nennen. Er vollführt ein paar wieselschnelle Tanzschritte, dreht sich in der Luft, dann rennt er weiter, pfeifend, lachend, schreiend. Er flitzt wie eine Flipperkugel. Eben noch zog er rechts des Busses entlang, jetzt saust er auf seiner Linken hervor. Klopft Schultern, reißt Sprüche, drückt Hände; jetzt klingelt das Telefon, „ja Alter“, er steckt sich eine Kippe an. Er wirkt, als habe ihn am Morgen einer aufgezogen, jetzt saust er durch den Tag wie einer dieser wahnwitzigen Blechtrommler. 

Er hebt die Hand zum Mund: „Bahnhof, Nairobi! Steigen Sie ein! Wir sind die Schnellsten. Unser Sound ist der beste, der Komfort ein Traum. Bei uns können Sie was erleben, steigen Sie ein!“ 

Seine Haare hat er zu dünnen Dreadlocks gewunden, in die rechte Augenbraue ist ein Muster rasiert, zwischen seinen Lippen blitzt ein versilberter Schmuckzahn. Style ist alles in diesem Geschäft. Sein Kopf saust nach links, von dort spaziert eine hübsche Passantin heran, Schuluniform, Flechtfrisur, unendlich lange Wimpern. Benarnd drückt sich an sie ran, läuft neben ihr her, sie immerzu von der Seite anquatschend, fasst sie am Arm, bugsiert sie sanft Richtung Bustür. Fast ist sie drin, da schießen zwei Konkurrenten heran. Drei Männer umringen das Mädchen, unermüdlich werbend, sülzend, labernd. Die Konkurrenten haben gewonnen, sie führen das Mädchen weg, hin zur Tür ihres Busses. Wütend stößt Benarnd einem der Männer in den Rücken, dann flitzt er weiter.

Er treibt seine Kunden zusammen wie ein Hirtenhund seine Schafe. 21 Passagiere fehlen noch.

33 Sitzplätze muss er vollkriegen, erst dann fährt der Bus los. Je schneller der Bus voll ist, desto mehr Touren können sie fahren, desto mehr Geld können sie verdienen. Und Benarnd liebt schnelles Geld. Zwischen seinen Fingern stecken die Scheine, ordentlich gefaltet und aufsteigend nach Wert geordnet. 

Für eine Fahrt in seinem aufgemotzten Bus „Mixtape“ sind Passagiere bereit, das Doppelte des üblichen Fahrpreises zu zahlen; 100 Kenia-Schilling umgerechnet 86 Cent, zu Stoßzeiten sogar KES 150.Mit einem angesagten Bus zur Schule zu kommen, ist ein Statussymbol. Und es gibt Passagiere, die steigen ein, obwohl sie nirgendwo hinwollen, etwa, um die neuesten Musikvideos oder Serien zu schauen. Eine lärmende Lustfahrt.

Man könnte Benarnd schläfrig als Schaffner bezeichnen und das Fahrzeug, in dem er arbeitet, als Bus; doch das würde weder Benarnd noch „Mixtape“ gerecht werden. Benarnd ist ein „Makanga“: Schaffner, Entertainer, Problemlöser, Fashion-Idol. Und Mixtape ist ein „Matatu“, so heißen die aufgedonnerten Busse in Kenia. Es gibt Matatus für jede Altersklasse, jeden Geldbeutel und jeden Musikgeschmack: Hip-Hop, Ragga, Afrobeat, Gospel und traditionelle Musik. Matatus sind rollende Gesamtkunstwerke. Dazu muss ein gewöhnlicher Bus, meist ein japanisches Modell aus zweiter Hand, „gepimpt“ werden. Besonders schillernde Exemplare nennt man Manyangas. Jedes von ihnen hat ein Thema: Batman, Spiderman, Serien wie „House of Cards“, Musikerinnen wie Rihanna, Promis wie die Kardashanians. Es gibt Busse, in denen Boxkämpfe übertragen werden und andere, in denen die Fahrgäste Serien schauen können; viele haben Wifi. 

Manyangas sind die Businessclass des Nahverkehrs. Und Rongai, Vorort von Nairobi, ist berühmt für seine Manyangas.

Mixtape ist ein leuchtendrotes Ungetüm mit Riesenspoiler, das seine silbernen Aufbauten trägt wie einen Panzer. Neben den Rücklichtern prangt eine Leiste bunter Lampen, die flimmernd im Takt des Beats aufleuchten. Der Rückspiegel ist in rotes Kunstfell gehüllt, Malereien zieren die Chassis. Wem das für ein Fahrzeug des öffentlichen Nahverkehrs extravagant erscheint, der sollte einsteigen, sich in einen der rotschwarzen Sitze fallen lassen und sich auf ein audiovisuelles Rund-Um-Erlebnis gefasst machen. Der Bass ist jetzt so laut, dass er einen in den Sessel drückt, Lichtorgeln drehen sich, auf Videoleinwänden lassen Hip-Hop-Tänzerinnen ihre Hüfte kreisen, während auf einer Kinoleinwand Jackie Chan seine Gegner vermöbelt.

Mixtape konkurriert mit Manyangas wie dem metallicblau schillernden Hot Wheels, den rotleckende Flammen bedecken. Jeden Sitz ziert die Stickerei eines knurrenden Pitbulls Der Makanga ist berühmt für seine atemberaubenden Stunts. In freier Fahrt hängt er sich aus dem Bus, die Hosenbeine flattern im Wind, mit der Hand, zwischen deren Fingern das Wechselgeld steckt, hakt er sich am Fenster ein.

Sie alle sind Teil einer einzigartigen urbanen Kultur und einer sehr informellen Dienstleistungsbranche. Es gibt keine offiziellen Preise oder Haltestellen, ja, noch nicht mal eine offizielle Linienkarte, anhand derer sich Passagiere orientieren könnten. 

Trotzdem funktionieren die etwa 130 Linien der Stadt erstaunlich gut. Die Regierung hat nie vermocht, ein funktionierendes Verkehrsnetz für die breite Öffentlichkeit zu schaffen, in diese Lücke sprangen seit den 1950er Jahren private Anbieter. Zu den Kleinbussen kamen über die Jahre große mit mehr als 30 Plätzen; die Matatus wurden immer aufwändiger dekoriert. 

Von bescheidenen Anfängen ist das Matatu-Geschäft zu einer mächtigen Branche angewachsen; mit einem geschätzten Umsatz von fast zwei Milliarden Euro. Sie beschäftigt bis zu 350 000 Menschen. 80 000 Matatus durchkreuzen das Land, bis zu 40 000 Bussen sollen es allein in Nairobi sein. Nur jeder fünfte Bewohner Nairobis hat ein Auto; 70 Prozent nutzen täglich Matatus. 

Es geht los!“, ruft Benarnd. Der Fahrer drückt die Hupe, sie macht ein Geräusch, als würde auf dem Jahrmarkt gleich ein Fahrgeschäft abheben, Mixtape fährt los. Passanten glotzen, junge Männer hängen sich von außen an Türen und Fenster des Busses. Stoppt er, springen sie ab und legen eine kurze Tanzeinlage ein. Der Bus fährt ein auf die lange Straße, die entlang des Nairobi National Park Richtung Innenstadt verläuft; ein Rudel Pinselohrschweine flüchtet quiekend in die Böschung. Benarnd hält sich von außen am Bus fest, sein Kopf zuckt zum Beat, während er durch das Fenster mit einer Passagierin flirtet. In seinem Job, hat er gesagt, erlebe man jeden Tag etwas Neues. Die neusten Gerüchte, die neuesten Looks, der neueste Slang, man lebe am Puls einer Stadt, die sich jeden Moment neu erfindet. 

Eines Tages, hatte er gesagt, werde er sich selbst ein Manyanga kaufen, das schönste und protzigste von allen. Es werde sein Konterfei auf dem Heck tragen und so heißen wie er: kleiner Mann. Benarnd beugt den Kopf durch das Fenster, um der hübschen Passagierin etwas ins Ohr zu sagen. Er verwendet dabei eine Sprache, die dabei ist, das ganze Land zu verwandeln: Sheng.

Um zu verstehen, was Sheng für Kenia bedeutet, muss man die Route von Mixtape einen Moment lang verlassen. Das Motorradtaxi brettert über eine von Rongais Erdtrassen, vorbei an Wellblechhütten, der „Governor s Butchery“ und dem „Holy Hairdresser“, bis es einen bukolischen Platz am Rande des Waldes erreicht. Hier lebt und arbeitet der Schauspieler, Komiker, Drehbuchautor und Regisseur Fred Omondi, 37, seinen Fans unter dem Namen Freddie Budaboss bekannt. Als Budaboss vor ein paar Jahren ankündigte, eine politische Satiresendung auf Sheng zu starten, erklärten ihn viele für verrückt. Inzwischen hat er damit nicht nur Preise, sondern auch viele Fans gewonnen.

Sheng ist eine sehr neue Sprache, die in den Armenvierteln Nairobis entstand. „Menschen aus allen Landesteilen zogen damals in die Stadt“, erzählt Budaboss. „Sie lebten eng auf eng, mit Oma und Uroma zusammen. Die Jungen brauchten eine Sprache, die ihre Eltern nicht verstanden. Also schufen sie Sheng.“

Heute gleicht Sheng der Plattensammlung eines DJs, alles, was Kenia ausmacht, wird hier gesampelt: Kiswahili, Englisch, kenianische und nichtkenianische Sprachen. Sheng entwickelt sich permanent weiter. Ständig kommen neue Wörter, eine neue Wendung hinzu. Die einstige Geheimsprache der Jugend hat inzwischen ihren nationalen Siegeszug angetreten. „Kein großes Unternehmen kommt mehr ohne einen Werbespruch auf Sheng aus“, sagt Freddie Budaboss. „Selbst Politiker versuchen, ein wenig Sheng zu sprechen, um junge Wähler zu erreichen.“

Gleichzeitig ist Sheng noch immer verpönt. „In der Schule lernen Kinder, dass sie weder Sheng noch lokale Dialekte sprechen sollen“, erzählt Budaboss. „Du wirst sonst bestraft. Man hängt dir ein Schild um: Spreche Englisch! Spreche Kiswahili!“ 

Ein Assistent von Budaboss erzählt, dass man Shengsprechenden in ihrer Schule einen stinkenden Hundeknochen um den Hals hänge, um sie zu demütigen. Sprachpolitik ist in Kenia eine äußerst heikle Angelegenheit. Kenia ist ein Vielvölkerstaat, in dem rund 70 Sprachen gesprochen werden. 

Oft definiert die Sprache eine Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Damit wird das gesprochene Wort zu einer entscheidenden politischen Kategorie. Die meisten Kenianer wählen entlang ethnischer Linien; kommt ein Kandidat an die Macht, versucht er, die Mitglieder seines Clans zu bedienen. Der Sieger sitzt an den Fleischtöpfen, oder, wie es die Menschen in Kenia sagen: „Now is our time to eat“ – „Jetzt sind wir dran mit dem Essen.“ 

„The Tribe and the Bribe are the Siamese twins of Kenyan Politics“, seufzt der berühmte kenianische Antikorruptions-Kämpfer John Githongo: Tribalismus und Korruption sind untrennbar miteinander verbunden. Die Wut über die Ausgrenzung führte in der Geschichte des Landes oft zu blutigen ethnischen Konflikten.

Paradoxerweise ist der Tribalismus eine Folge der Kolonialherrschaft. Auch vor der Kolonialzeit gab es bisweilen ethnische Spannungen, doch lebten viele der Stämme friedlich zusammen, man heiratete untereinander. Die britischen Kolonialherren strebten danach, sie zu separieren: Teile und herrsche. Jedes Volk bekam sein eigenes Reservat, alle Untertanen durften sich nur innerhalb ihrer ethnischen Gruppe politisch organisieren. Als das Land 1963 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hatte sich die politische Organisation anhand ethnischer Linien längst durchgesetzt. Um den Zerfall des Landes zu verhindern, drängt die Regierung auf den Gebrauch der offiziellen Sprachen Englisch und Kiswahili. In städtischen Schulen soll nur Kiswahili und Englisch gebraucht werden.

Heute identifizieren sich eher die Älteren mit ihrer Ethnie. Viele Jüngere sehen sich in erster Linie als Kenianer, heiraten öfter über die Stammesgrenzen hinweg, teilen mit Sheng eine gemeinsame Sprache und Kultur. 

Damit sich Sheng so schnell verbreiten konnte, brauchte es ein Transportmittel. „Ohne die Matatus hätte sich Sheng nie so schnell popularisiert“, sagt Freddie Budaboss. „Lange Zeit waren sie der einzige Ort, an dem ein junger Kenianer Jugendkultur finden konnte.“ 

Matatus haben sich zu einem sozialen Raum voller Codes und Rituale entwickelt. Egal, woher ein Jugendlicher kommt, und wie arm seine Eltern sein mögen, im Matatu kann er sich Respekt verschaffen. Entscheidend ist, wie man sich gibt und kleidet, wie man spricht. Die neuesten Sheng-Phrasen hören Jugendliche oft im Matatu, in den Songs der Rapper, im Gespräch mit ihrem Makanga. Gemeinsam schaffen sie eine neue Sprache – und das ganze Land hört zu.

In der Fahrerkabine von Mixtape wippt Daniel Gitau, 40, zum Beat, während er einhändig ein waghalsiges Überholmanöver ausführt, die andere lässt er lässig aus dem Fenster hängen. Blitzschnell zwängt er den Bus in eine sich plötzlich auftuende Lücke zwischen zwei Autos, nur Zentimeter am Nummernschild eines Volkswagens vorbeischrammend. Matatufahrer werden auch Piloten genannt, so schnell fliegen sie durch Nairobis Verkehr. 

Gitau ist ein ruhiger Kerl, Typ Familienvater, was ihn nicht daran hindert, zu fahren wie der Teufel: Zeit ist Geld. Jedes Matatu hat, abhängig von Größe und Ausstattung, ein Tagesziel. Der Besitzer von Mixtape verlangt jeden Abend 15 000 KES, knapp 130 Euro, von Daniel und Benarnd. Nach Abzug von Benzinkosten und Schmiergeld für die Polizei verdienen die beiden durchschnittlich 2000 KES täglich, umgerechnet knapp 17 Euro pro Person. Das ist in einem Land, in dem der monatliche Durchschnittsverdienst bei etwa 140 Euro liegt, kein schlechtes Einkommen.

Der Fahrer wirft einen Blick auf den Bildschirm, der die Lage im Passagierraum überträgt. Je nach Zusammensetzung der Passagiere wird er seine Musikauswahl anpassen; der Pilot ist gleichzeitig der DJ. Den Beat auf dem Steuer mitklopfend rast er an einer Siedlung hobbithafter Einfamilienhäuser vorbei, Mixtape erklimmt einen Hügel. 

Dahinter breitet sich unter schweren Gewitterwolken die Stadt aus wie ein afrikanisches Gotham. 6,5 Millionen Einwohnerleben in der Metropolregion Nairobi; Verheißung, Moloch, Melting Pot. Stadt der verwunschenen Parks und legendären Clubs, der gigantischen Slums und der Parkvillen im britischen Stil, der indischen Tempel und anglikanischen Kirchen. Vor ein paar Jahren war das Verbrechen hier so verbreitet, dass man sie Nairobbery nannte, Stadt des Verbrechens. Heute gilt sie als „Silicon Savannah“, Heimat der Jung-Entrepreneure, Techies und Künstler, die Apps für den ganzen Kontinent entwickeln, eine der dynamischsten Städte Afrikas. 

Der Entrepreneur wird hier gefeiert, Straßenverkäufer haben eine erstaunliche Dichte von Buchtiteln im Angebot, die sich der Mehrung des Reichtums widmen. Wem das nichts hilft, der kann auf einen der Wunderheiler zurückgreifen, deren Zettel allerorten an Bäumen und Straßenlaternen kleben: „Dr Eru. Verlorene Liebhaber. Verlorene Gegenstände. Familienangelegenheiten. Hochzeit. Reichtum. Bessere Geschäfte. Manneskraft.“

Leider ist Nairobi auch die Stadt der berüchtigten Staus. Durch einen solchen navigiert Daniel Gitau, als er endlich die Innenstadt erreicht. Er steuert den Bus vorbei an phantastischen modernistischen Bauten, die zu Zeiten der Unabhängigkeit in Erwartung einer goldenen Zukunft gebaut wurden. Damals galt nicht Asien, sondern Afrika als Kontinent des Aufschwungs; allerdings wollte das Wirtschaftswunder nicht für die große Mehrheit eintreten. Sie bekommen von jährlichen Wachstumsraten von knapp sechs Prozent nicht viel mit.

Gitau biegt jetzt ein in jene lange Auffahrt, die vor dem Bahnhof eine Schleife dreht. Ein Matatu staut sich hier neben und hinter dem anderen. Ein keuchendes Blechknäuel. Der Gestank nach billigem Diesel raubt einem fast den Atem. Hinter dem frauenfreundlichen Matatu Minerva („Respect the ladies who make the babies“ – Achtet die Frauen, die uns die Kinder gebären) schleicht der Bus „I am a boss“ entlang, den das Konterfei eines pelzgewandeten strassbrillentragenden Gangsters ziert 

Je fantasievoller die Bemalung, desto besser das Geschäft, und natürlich gibt es auch dafür Spezialisten: Sie verdienen ihr Geld mit „Pimpin´“, mit der Kunst, einen einfachen Bus in ein buntschillerndes Manyanga zu verwandeln.

Der Großmeister des „Pimpin´“steht in einer Garage eines Industriegebiets im Stadtteil Eastleigh vor einem Matatu und drückt ab. Orangene Farbe ergießt sich aus der Airbrushspritze über den Bus, der sich Schicht um Schicht in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Thema ist die neue Netflix Serie „House of Money“. 

Großmeister „Moha“, mit bürgerlichem Namen Mohamed Kartarchand Bagatiram Rala Ram, 42, wirkt selbst wie ein Charakter aus einer Serie. Jeder seiner Zähne ist versilbert, er trägt dicke Ringe, Silberketten und an jedem Handgelenk eine Uhr. Seine Augen sind warm, auf einer Stirn prangt ein dunkles Mal, wie es sich gläubige Muslime vom vielen Beten holen. „Die Arbeit“, sagt Moha, „ist mein Gebet.“

Moha versteht etwas von der Macht der Verwandlung. Er war 13, als er zum Waisen wurde und für sich und seine Schwestern sorgen musste. Wusch Autos, fegte Böden, arbeitete als Makanga. „Ich war schwach, man schubste mich herum.“ In seinem Job als Farbenvertreter versagte er, immerhin aber bemerkte sein Chef die Zeichnungen, die er in sein Verkaufsbuch kritzelte, und riet ihm, etwas aus seinem Talent zu machen. 

Er heuerte in einer Garage an. „Früher waren auf Matatus nur Labels wie Lewis oder ein Nummernschild zu sehen“, erzählt Moha. „Im Internet sah ich Graffiti aus USA und Europa. Ich beschloss, das zu kopieren.“ Ende der 1990er-Jahre begann er, Graffitis auf Matatus zu sprühen und sorgte damit für Furore. Schon bald folgte ein Auftrag dem nächsten.

„Gemeinsam mit dem Besitzer entscheiden wir uns für ein Thema“, sagt Moha.“ Wir wählen etwas, das gerade in der Luft liegt, Fußball, Musik, Kino. Ein Matatu ist wie eine Zeitung. Was immer du darauf siehst, liegt gerade im Trend.“ Moha baut Spoiler und Aufbauten – das sogenannte Bodybuilding – besprüht Blech und Fenster, gestaltet das Innere des Busses, installiert die Technik für Video und Audio. Das Pimping eines Manyangas kann bis zu 1,5 Millionen KES kosten, rund 13 000 Euro. „Die Typen, die in Matatus investieren, machen das vor allem wegen der Show.“ Kenianer liebten die Konkurrenz, sagt Moha. „Und Matatus sind eine Industrie, in der der Wettbewerbsehrgeiz auf die Spitze getrieben wird.“

Mixtape ist am Bahnhof angekommen. Auf einem Platz aus festgetrampelter roter Erde sitzen die Matatu-Fahrer in ihrer Pause unter einem Baum und schlingen in Papier gewickelte Reisgerichte herunter. Es ist ein Ort, an dem Gerüchte hin- und herfliegen, sich eine Nachricht in Sekundenschnelle verbreitet. Fahrer, Schaffner, Besitzer stecken die Köpfe zusammen. Fahrgäste eilen schwerbepackt vorbei, Schnorrer und Tagelöhner drehen ihre Runden, gestrandetes Volk liegt – mit leerem Blick in die Ferne schauend – unter Akazienbäumen. Wunderheiler preisen ihre Dienste an, Akrobaten vollführen Kunststücke und Wanderprediger halten ihre Sermone. Einer verteufelt die Freimaurer; auf einem seiner Poster sind Rihanna und – warum auch immer – Hillary Clinton zu sehen.

Durch das Gewusel läuft Lewis Kiragu, 32, ein schmaler Kerl mit Silberzahn, den hier jeder Fahrer kennt. Lewis ist der Herr der Beats. Er verkauft USB-Sticks mit Musikvideos an die Fahrer. Umgerechnet 17 Euro verlangt er für einen exklusiven Mix. Nach zwei Tagen wollen die meisten Fahrer der Manyangas neuen Stoff. „Keiner, der auf sich hält, würde mehr als vier Tage die gleiche Kompilation verwenden.“ Manchmal bekommt Lewis Besuch von kenianischen Bands, die ihm einen Drink kaufen, damit er ihre Videos spielt. Die Matatus sind für sie ein wichtiger Verbreitungskanal. „Die Leute hören hier kein Radio. Das Matatu ist der Ort, an dem die Leute die neuesten Videos sehen.“

Mixtape ruckelt gerade aus der Bahnhofsauffahrt hinaus, als plötzlich ein Verkehrspolizist vor den Bus springt: Der Bus, so behauptet er, sei zu langsam gefahren. Jetzt geht alles wieselschnell. Benarnd springt aus dem Bus, um die Sache zu regeln. Danach, während der Bus im Stau steht, sprintet er zur nächsten Station, um dort wieder zuzusteigen. Daniel Gitau grinst, „alles im Griff“. Etwa fünf Mal am Tag wird Mixtape von Polizisten aufgehalten. Ein Matatu, so heißt es, ernährt im Schnitt zehn Menschen: Besitzer, Fahrer, Schaffner, aber auch Polizisten und Beamte der Stadtverwaltung. 

Die neuen Regeln zu Geschwindigkeitsbegrenzung, Musiklautstärke, Dekoration? Daniel winkt ab. „Wir zahlen die Polizei. Und machen weiter wie vorher.“

Carlos Ruvaga, 41, lässt sich im Bahnhofsrestaurant auf einen der wackeligen Stühle fallen. Er ist ein schwerer Mann mit üppigen Silberketten, auch er trägt den offenbar unvermeidlichen Silberzahn. Ruvaga ist stets darauf bedacht, mit dem Gesicht zur Tür zu sitzen. „Es kann jederzeit alles passieren.“ Vielleicht ist das noch nicht mal übertrieben. Denn als „Sacco Manager“ hat er es mit sehr speziellen Geschäftspartnern zu tun. Saccos heißen die Genossenschaften, zu denen sich die Busbesitzer einer Route zusammengeschlossen haben. Ruvaga ist zuständig für die 52 Busse der Ongata Linie nach Rongai, und damit auch für Mixtape. 

Wann immer es ein Problem gibt – Unfälle, Feuer, Reparaturen, Motorenprobleme, Gangster, Mordversuche –, klingelt Ruvagas Telefon. Zudem sammelt er täglich den Anteil der Busbesitzer ein. 

Im Jahr 2010 hatte der Staat die Busbesitzer gedrängt, sich in Genossenschaften zusammenzuschließen, um dem Verbrechen Einhalt zu gebieten. „Früher“, erzählt Ruvaga, „kontrollierten die Kartelle das Busgeschäft. Sie waren wie Kraken.“ Kartelle sind kriminelle Vereinigungen. Die sogenannten Mungiki hatten sich das Busgeschäft gesichert, eine äußerst brutale Schlägertruppe, die man einstan ihren langen Dreadlocks erkannte – inzwischen haben sie viele abrasiert. Sie begannen als ethnische Miliz der Kikuyu, der politisch dominanten Ethnie in Kenia, die all jene verprügelte und tötete, die sie als ethnische Feinde schmähten. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag glaubt, sie seien zumindest zeitweise von der Regierung gezahlt worden.

Die Mungiki verwandelten sich in eine Mafia, die unter anderem das Matatu-Geschäft übernahmen. Nur wer ihnen Schutzgeld zahlte, war sicher. „Sie waren berüchtigt dafür, ihren Gegnern den Kopf abzuschneiden“, erzählt Ruvaga.

Die Saccos sollten die Mungiki aus dem Transportwesen drängen. „Doch einige der Leute, die früher für die Kartelle gearbeitet hatten, heuerten jetzt bei den Saccos an“, sagt Ruvaga. „Sie verstanden ja etwas vom Geschäft.“ Er lässt seine breite Hand auf die Resopaltischplatte fallen. „Derselbe Wald, dieselben Affen.“ Als einige von ihnen später von den Saccos gefeuert wurden, gründeten sie ihr eigenes Kartell. „Sie arbeiten als Vermittler zwischen Busbesitzern und Polizei“, erklärt Ruvaga. Vermittlung meint: Die Mungiki überbringen das Korruptionsgeld. Ruvaga will nicht zu sehr in die Details gehen. „Das ist gefährlich. Sie sind vielleicht nicht mehr ganz so brutal wie früher, doch sie arbeiten mit Erpressung.“

Dass die Korruption ein heikles Geschäft, kennt Ruvaga aus eigener Erfahrung. Er besitzt zwei Matatus und weiß, dass Besitzer alles tun, um zu vermeiden, dass ihr Bus wegen eines Vergehens zur Polizeistation geleitet wird und der Fall vor Gericht landet. Ruvaga zahlt also, wenn ihm Fahrer und Schaffner sagen, dass diese Gefahr drohe. „Doch du weißt ja nie wirklich, ob das stimmt. Wenn sich der Fahrer und der Mananga verschwören, um dich auszunehmen“, sagt Carlos und erneut landet seine flache Hand so heftig auf der Tischplatte, dass sie erzittert, „dann kannst du es nicht wissen.“

Der Job des Verkehrspolizisten sei im kenianischen Polizeiwesen der beliebteste, weil er so lukrativ ist, sagt Freddie Budaboss.

Wieder und wieder hat die Regierung gelobt, den Matatusektor zu regulieren, doch viele Politiker, Parlamentarier und Polizisten haben in genau diesem Sektor investiert. Ein Matatu kann zudem eine exzellente Wahlkampfmaschine sein. Mike Sonko, der soeben unter Korruptionsverdacht verhaftete Gouverneur von Nairobi, wurde einst durch seine schillernden Manangas berühmt, erst sie brachten ihm Popularität und die benötigten Wählerstimmen. Sonko ist übrigens nicht sein wirklicher Nachname, mit bürgerlichem Namen heißt er Mbuvi Gidion Kioko. Sonko ist das Shengwort für: reicher Mann.

Weil ausgerechnet diejenigen, die den Matatu-Sektor überwachen sollen, auch daran verdienen, scheitert die Regulierung. Oder, wie ein früherer Transportminister sagte: Mir gehört selbst ein Matatu. Ich kann mich doch nicht in den Fuß schießen.

„Matatus sind, was wir sind“, sagt der Künstler Dennis Muraguri. Sie spiegeln die Lebensfreude, den Wettbewerbsgeist und die Kreativität der Gesellschaft, aber auch deren Korrumpierbarkeit und Chauvinismus. Der Schauspieler Freddie Budaboss liebt Matatus – seine beiden Kinder aber möchte er nicht damit fahren lassen. „Dort erhalten sie von klein auf tagtäglich die unbewusste Botschaft: Es ist in Ordnung, Regeln zu brechen. Du kommst damit durch. Wir haben eine Kultur des Reichtums um jeden Preis propagiert.“

Nach einer Studie der Aga Khan-Universität findet jeder zweite junge Kenianer, dass es völlig egal sei, wie man an Geld komme, solange man dabei nicht im Gefängnis lande. Nur 40 Prozent finden, dass man Steuern zahlen sollte. Und während fast alle Demokratie schätzen, sind 62 Prozent offen für Stimmenkauf, 40 Prozent würden überhaupt nur einem Kandidaten ihre Stimme geben, der ihnen Geld oder Geschenke gegeben hätte.

Es ist Abend geworden auf dem Bahnhofsplatz. Musiker haben die Verschwörungstheoretiker abgelöst. Passanten klatschen und singen mit. Die Fahrer drehen die Lichter ihrer Busse an. Gleich funkelnden Raumschiffen rauschen die Matatus durch die Nacht.

Derzeit wird in Nairobi an einem modernen Nahverkehrssystem gebaut. Experten wie die amerikanische Wissenschaftlerin Jacqueline Klopp glauben allerdings nicht, dass es in Zukunft den Großteil der Passagiere transportieren wird, „denn verantwortlich dafür ist die Regierung, die es doch bisher immer versäumt hat, ein funktionierendes Verkehrsnetz aufzubauen.“ 

Klopp vertraut eher auf die Kreativen, die Techies und Reformer, die sich anschicken, die Bezahlung zu digitalisieren und die Busse zu elektrifizieren. Sie hat gemeinsam mit Mitstreitern bereits mithilfe der Mobilfunksignale der Passagiere eine digitale Karte des Matatu-Netzplans erstellt; so versuchen sie es zu verbessern.

Vielleicht flitzen ja bald Elektrobusse durch die Stadt, voll digitalisiert, auf Effizienz getrimmt – doch eins scheint sicher zu sein: Lautlos werden auch diese Matatus niemals sein.

Erschienen in Geo 02/2020