Lieb und Teuer

Kinder in Yarakh/ Dakar @ Christian Bobst
In weiten Teilen Afrikas leben Menschen in Großfamilien. Häufig gilt: Je mehr Kinder, Cousins, Nichten und Tanten unter einem Dach, desto besser. Im Senegal hat Angela Köckritz beobachtet, wie so die Gesellschaft zusammengehalten wird – und die wirtschaftliche Entwicklung ausgebremst

Morgens um fünf ist sie losgerollt, erzählt sie. Wie jeden Tag hat sie ihren Rollstuhl mit der Kraft ihrer Arme an rußenden Bussen und Taxis vorbeimanövriert, ist fliegenden Händlern und Schlaglöchern ausgewichen, bis sie ihre Stelle im Zentrum der senegalesischen Hauptstadt Dakar erreichte. Dort ist immer viel Stadtvolk unterwegs, Männer in eleganten Hemdkleidern, Damen in bunten Kostümen, ambulante Obstverkäufer, ihre Ware in Kisten auf dem Kopf balancierend, Schulkinder in Uniform. Awa Fall ließ ihre Tasse mit den Münzen klimpern. Ab und an habe jemand ein paar weitere Münzen hineinfallen lassen, erzählt sie. Doch die meisten Menschen seien einfach an ihr vorübergezogen.

Jetzt ist es Abend, und Awa Fall ist zurück in ihrem Zimmer, das sie sich mit zwei Freundinnen teilt, Rollstuhlfahrerinnen wie sie. Es liegt im Erdgeschoss eines Mietshauses. Drei Betten, ein Schrank, eine Plastiktüte mit Habseligkeiten. An die Wand haben sie Fotos von sich gehängt, auf denen sie, perfekt frisiert und aufwendig geschminkt, aussehen wie Prinzessinnen.

Awa Fall ist 40 Jahre alt und hat ein freundliches rundes Gesicht, in ihrem weiten Kleid mit Leopardenmuster wirkt sie robust und zerbrechlich zugleich. Sie erzählt, wie sehr sie sich dafür schämt, betteln zu müssen – »ich, mit all meinem Stolz. Viel lieber würde ich arbeiten.« Schneidern würde sie gerne, Schmuck fertigen, doch jedes Mal, wenn sie nach einer Arbeit fragt, bekommt sie eine Absage, sagt sie.

Eine falsch verabreichte Spritze war es, die ihr im Kindesalter die Fähigkeit zu gehen raubte. Vielleicht bei einer Impfung, Awa Fall weiß es nicht. Sie stammt aus einem Dorf etwa 200 Kilometer entfernt. Als ihre Eltern starben, zog sie mit ihren beiden Freundinnen in die Millionenmetropole. »Es war ein Schock.« Da war niemand, der auf sie gewartet hatte, niemand, den sie kannten, sie schliefen unter freiem Himmel. Inzwischen können die drei zwar ihr Zimmer mieten, aber ihre Einnahmen beim Betteln schwanken bedrohlich. Jetzt, in der Pandemie, halten besonders viele Menschen ihr Geld beisammen. »Es gibt Tage, da haben wir nicht genug, um uns abends etwas zu essen zu machen«, sagt Awa Fall.

Eine Rollstuhlfahrerin, die sich in einer afrikanischen Großstadt mit Betteln durchschlägt. Man könnte denken, brutaler kann ein Kampf ums Dasein kaum sein. Man könnte denken, Awa Fall muss all ihre Energie und all ihre kärglichen finanziellen Mittel aufwenden, um für sich selbst ein einigermaßen erträgliches Leben zu sichern. Aber hier im Senegal sind die Dinge nicht immer so, wie sie für den westlichen Blick zu sein scheinen.

Awa Fall zog damals nach dem Tod der Eltern nach Dakar, weil sie sieben jüngere Geschwister hat. Egal wie wenig sie sich leisten kann, immer schickt Awa Fall Geld heim zu ihnen ins Dorf. Mal vergeht eine Woche bis zum nächsten Transfer, mal dauert es länger; mal sind es umgerechnet acht Euro, mal ist es mehr. Auch eine kranke Tante lebt von ihrer Unterstützung. Fragt man sie, warum sie das tut und was das für sie bedeutet, zuckt Awa Fall mit den Schultern: »Ich will eben meiner Familie helfen.« Acht Verwandte – sie sorgt für mehr Menschen als die meisten Alleinverdiener im wohlhabenden Deutschland.

Über die ökonomische Lage Afrikas ist viel nachgedacht worden. Unzählige Artikel, Studien, Bücher spürten den Gründen nach, warum es den Menschen hier im Durchschnitt finanziell schlechter geht als denen auf anderen Kontinenten. Meist wurden diese Texte verfasst von westlichen Forscherinnen und Forschern, meist erschienen sie in Zeitschriften und Verlagen in Europa und den USA. Um die ungerechte globale Wirtschaftsordnung geht es darin, um den Raubbau an den afrikanischen Rohstoffen, von dem neben internationalen Konzernen nur eine schmale einheimische Elite profitiert, um die fehlende Industrialisierung, um Korruption und Misswirtschaft. »Seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer«, schreibt der senegalesische Philosoph Felwine Sarr, einer der wichtigsten postkolonialen Denker Afrikas, in seinem Buch Afrotopia. »Die Anwesenheit der Menschen auf der Erde wird nur noch vermittelt über das Bruttosozialprodukt oder die Weltmarktposition zur Kenntnis genommen.« 

Um die Großfamilie geht es in den Studien meistens nicht.

Es gibt in Dakar viele Menschen wie Awa Fall. Die Putzfrau, die die Nachbarn anpumpen muss, um sich und ihre Kinder zu ernähren, aber Geld an Onkel und Tanten schickt. Den Wachmann, der mit seinem kleinen Lohn nicht nur Frau und Kinder, sondern Dutzende Familienmitglieder ernährt. Die Studentin, die mit einem Job nicht nur ihr Studium finanziert, sondern auch die Familie ihres Bruders. Awa Falls Mitbewohnerinnen geben ebenfalls einen großen Teil von dem, was sie erbetteln, an Verwandte. Und oft wandert das Geld dann weiter, an noch entferntere Verwandte. Immer muss es fließen, nie darf es ruhen.

Kaum etwas prägt den Alltag vieler Menschen in Afrika so sehr wie das Bewusstsein einer besonderen Verpflichtung gegenüber der eigenen Verwandtschaft. Die Großfamilie, sie ist Segen und Last, Geschenk und Bürde. Sie bringt Solidarität hervor und Missgunst, Glück und Verzweiflung. Sie macht das Leben der Menschen reicher und ärmer zugleich, und wer wüsste das besser als Hassane Diagne?

Hassane Diagne sorgt dafür, dass das Geld in Bewegung ist. Tag für Tag organisiert er die große Umverteilung. Diagne, 36 Jahre alt, steht in seinem kleinen Laden, dessen Scheibe eine Reihe von Aufklebern mit Firmenlogos ziert: Western Union, MoneyGram, Orange Money, Wari. Lauter Anbieter von Geldtransfers. Diagne hat sich alles hier drinnen genau überlegt. Die unauffällige Wasserflasche, in der Zettel mit muslimischen Versen aufgelöst sind, ein Zauber zum Anlocken möglichst vieler Kunden. Der Spiegel, in dem die Kunden, während sie auf ihr Geld warten, wie beiläufig die Produkte hinter sich sehen, die Diagne auch noch anbietet. Creme, Parfüm, Schulhefte. »Die paar Sekunden Adrenalin, wenn der Kunde sein Geld bekommt, will ich ausnutzen«, sagt Hassane Diagne und lacht. Er ist ein witziger Typ mit warmen Augen, der das Debattieren und die Geselligkeit liebt. Mit 20 eröffnete er sein erstes Cybercafé, ständig denkt er über neue Geschäftsideen nach. 

Diese hier war eine ziemlich gute. Diagne kann sich über Kundenmangel nicht beklagen. Wer bei ihm Geld abholt, hat es meist von Verwandten, wer Geld einzahlt, schickt es meist an Verwandte, sagt er. Und für jeden Transfer bekommt Hassane Diagne eine Provision. Er hat auch noch ein paar Nebengeschäfte, insgesamt verdient er im Monat mehr als 3000 Euro, das ist viel in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei 1300 Euro liegt – im Jahr. »Ich könnte leben wie ein Europäer«, sagt Diagne. Wäre da nicht das, was er »das System« nennt. Die Großfamilie. Hassane Diagne selbst hat natürlich auch eine. Und die braucht das ganze Geld wieder auf.

Nach der Arbeit schließt Diagne seinen Laden mit dicken Schlössern ab. Er steigt in sein Auto und fährt zu seinem eleganten Haus. Als er die Tür öffnet, beginnt ein einziges großes Hallo. Mehrere Kinder werfen sich auf ihn, Cousins klopfen ihm auf die Schultern, Mutter und Großmutter winken ihm von der Couch zu, seine Schwester und eine seiner beiden Ehefrauen wollen wissen, wie sein Tag war. Hassane Diagne genießt all das Durcheinanderrufen und Umeinanderwuseln, das merkt man ihm an. 19 seiner Verwandten leben in dem Haus und in der Wohnung, die er zusätzlich angemietet hat.

Er kommt für die Lebenshaltungskosten auf, für Strom, Gas und Essen. Er zahlt die Privatschulen für vier eigene Kinder und sechs Neffen, allein dieses Schulgeld beläuft sich auf umgerechnet mehr als 530 Euro monatlich. Außerdem überweist auch er wie die Bettlerin Awa Fall Geld in das Heimatdorf seiner Familie, zu unzähligen weiteren Verwandten – und zu Menschen, die nicht mit ihm verwandt sind, denen er sich aber ebenfalls verpflichtet fühlt, weil sie aus demselben Ort stammen. »Wenn du ein hilfsbereiter Sohn bist«, sagt Hassane Diagne, »bist du der Sohn von allen.«

Ob tagsüber bei der Arbeit oder abends zu Hause, ständig klingelt sein Telefon: »Heyyyyy, dass du auch mal anrufst!«, sagt Hassane Diagne dann. Oder: »Hallloooo, was für eine Überraschung!« Manche Bittsteller sind bedürftig, andere bequem, manche sind bescheiden, andere anspruchsvoll. Die einen sind bedrohlich erkrankt, die anderen hätten gern einen größeren Flachbildfernseher. Diagne hat noch zwei ältere Brüder, die in den USA leben und ihm helfen, all diesen Menschen etwas zukommen zu lassen. Aber das meiste übernimmt er.

Hassane Diagne ist ein geborener Unternehmer. Er würde gern Neues wagen, Arbeitsplätze schaffen, investieren. Dafür müsste er Kapital ansparen oder einen Kredit bei der Bank bedienen können. Natürlich habe er wie die Geschäftsleute in den reichen Ländern gelernt, Investitionen zu kalkulieren und Kostenpläne zu erstellen, sagt er. »Doch das System zwingt dich, es nicht zu tun.«

Die Kosten der Großfamilie sind nicht einfach nur hoch; vor allem sind sie unkalkulierbar. Krankenhausrechnungen. Geburten. Begräbnisfeiern. Ständig will irgendwer was, aber was genau, folgt keiner betriebswirtschaftlichen Logik, sondern der chaotischen Logik des Lebens. »Ein afrikanischer Unternehmer kann es sich nicht erlauben, zu sparen. Deine Kosten sind deine Kosten.«

Diagne hat zwei Bankkontos, dauernd fließt Geld von ihnen ab, dauernd muss er sich anstrengen, sie zu füllen. Wenn er nicht in seinem Laden steht, repariert er zusätzlich Computer und arbeitet als IT-Spezialist, er verkauft Computerzubehör und betätigt sich als Agent für Immobilien und Autos. Alles für die Großfamilie. Hassane Diagne, der Mann, der so viel verdient wie nur wenige Menschen im Senegal, hangelt sich von Ausgabe zu Ausgabe und leiht sich manchmal Geld von Freunden, ohne dass seine Verwandten etwas davon erfahren. Hassane Diagne sagt: »Das Einkommen, das ich erziele, gehört mir nicht. Das, was wir haben, fließt nur durch uns hindurch. Ich bin derjenige, der es weiterleitet.«

Diagne hat es nie anders kennengelernt. Sein mittlerweile verstorbener Vater, ein Bauer, war der Erste aus dem Dorf, der mit seiner Familie den Schritt in die Hauptstadt wagte – und damit zur Anlaufstelle für alle wurde, die ihm folgten. Immer mehr Verwandte vom Land zogen bei ihnen ein, der Vater sorgte für sie. Als Hassane zehn war, sandte der Vater ihn zurück ins Dorf, fünf Jahre blieb Hassane dort. Noch heute werden Kinder oft monatelang in die alte Heimat der Eltern geschickt, Hassane Diagne nennt es »Impfung auf die senegalesische Art«. Eine Impfung gegen die Versuchungen der Großstadt, gegen Individualismus und Vereinzelung.

In Dakar leben durchschnittlich acht Menschen in einem Haushalt zusammen und draußen auf dem Land noch viel mehr – in Deutschland sind es weniger als zwei Menschen, und in fast jedem zweiten deutschen Haushalt wohnt nur eine Person. Im Senegal leben 35 Prozent der Verheirateten in Vielehe, so wie Hassane Diagne mit seinen beiden Ehefrauen, und jede Senegalesin bekommt durchschnittlich 4,9 Kinder – in Deutschland sind es 1,5.

»Die Kleinfamilie existiert im Senegal nicht«, sagt die Soziologin Fatou Sow von der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar. »Selbst wenn eine Familie als Kernfamilie lebt, reichen die Bande der Solidarität weit über den Haushalt hinaus.«

Und Solidarität heißt eben, nicht nur im Fall von Hassane Diagne: Der Druck zur ständigen Umverteilung macht es schwierig, einen Plan für die eigene Zukunft zu entwerfen.

Lange glaubten Soziologen und Historiker, dass sich auch in Europa der Alltag der meisten Menschen in der Großfamilie abspielte – und dass sich das erst änderte, als um 1800 der Siegeszug der Industrialisierung die Menschen in die Städte trieb, wo sie in Fabriken oder Büros arbeiteten und in Etagenwohnungen lebten, Mann und Frau und wenige Kinder. 

Inzwischen weiß man: Schon viel früher war die Kleinfamilie in Europa verbreitet. Es gab zwar Großfamilien, vor allem unter Wohlhabenden und Adligen, aber im 11. Jahrhundert zum Beispiel hatten Familien in einem von Historikern untersuchten ländlichen Gebiet in Frankreich nicht mehr als durchschnittlich drei Kinder. In Mittel- und Westeuropa heirateten Männer und Frauen bereits damals später als im Rest der Welt, zwischen dem 25. und 29. Lebensjahr. Und weil die Menschen damals keine hohe Lebenserwartung hatten, lebten gar nicht so häufig drei Generationen unter einem Dach.

Glaubt man dem britischen Sozialanthropologen Jack Goody, wurde die Macht der europäischen Großfamilie schon gebrochen, als die Kirche in der Spätantike ihren Einfluss auf dem Kontinent festigte. Die christliche Moral verdammte Scheidung, Konkubinat und die für Großfamilien typische Heirat unter entfernten Verwandten, sie stärkte das Band der Eheleute – und damit die Kernfamilie. Davon profitierte die Kirche wirtschaftlich, denn ihr wurde nun oft das Vermögen kinderloser Paare oder Witwen überschrieben, das vorher bei Verwandten gelandet wäre.

Nördlich des Mittelmeers bildete sich über Jahrhunderte der europäische Wirtschaftsmensch, der sich auf seinem Weg in die Moderne aus sozialen Bindungen löste, aus Traditionen und Gemeinschaften, und immer individualistischer wurde. Südlich des Mittelmeers herrschte weiter der Homo socius vor. Der Sozialmensch.

So nennt ihn Abdoulaye-Bara Diop. Der senegalesische Soziologe hat die Gesellschaftsstruktur der Wolof untersucht, der größten von 20 Ethnien im Senegal. Ihre Vorstellung davon, was Reichtum ist, findet sich in vielen Gegenden Afrikas. Reichtum, das ist für die Wolof traditionell in erster Linie Reichtum an Menschen.

Das liegt nach Überzeugung von Wissenschaftlern an der arbeitsintensiven Landwirtschaft in Westafrika: Mehrere Frauen und viele Kinder bedeuteten in vorkolonialen Zeiten mehr Arbeitskräfte auf den Feldern, im Haushalt und in der Pflege. Sie ermöglichten einem Mann, Allianzen mit anderen Großfamilien zu schließen, sie verliehen Prestige. Die Söhne des Patriarchen lebten mit ihren Familien auf dessen Grundstück, sie bestellten mit ihm die Felder, bildeten eine Wirtschafts- und Versorgungseinheit, die Dutzende, manchmal mehr als hundert Personen umfasste. Das Überleben des Clans stand über allem, der Einzelne hatte sich der Familienhierarchie unterzuordnen. Alles wurde geteilt.

Das war die Welt, die die Europäer vorfanden, als sie sich ab dem 15. Jahrhundert an den Küsten des Senegal niederließen, um mit Sklaven zu handeln. Erst im 19. Jahrhundert drangen die Franzosen ins ganze Land vor. Sie wollten dessen Ressourcen ausbeuten, die Kolonie sollte vor allem Erdnüsse liefern. Sie bauten Eisenbahnen, schufen Verwaltungsbezirke, gründeten Schulen. Ihre Untertanen, die Senegalesen, sollten lernen, wie Franzosen zu sprechen, zu fühlen und zu leben – was auch bedeutet hätte, nicht polygam zu sein, also in kleineren Familien zu leben. Das hat nicht funktioniert.

Mali Dieng, 67 Jahre alt, ein schmaler Mann mit ruhiger Stimme, der lange als Maurer gearbeitet hat, sitzt mit seiner Frau in ihrer türkis gestrichenen Stube auf dem Bett. Die beiden teilen sich in Dakar mit anderen Familien ein kleines Haus gleich hinter dem Atlantikstrand. Dieng schaut auf den Fernseher, in dem der Staatspräsident gerade eine Rede auf Französisch hält, der Amtssprache im Senegal. Mali Dieng versteht kaum Französisch, so wie die Mehrheit der Senegalesen, die Alltagssprache im Land ist Wolof. »Der Staat«, sagt Dieng und wirft einen langen Blick auf den deklamierenden Präsidenten, »ist sehr, sehr weit von uns entfernt. Die Unterstützung durch die Familie und die Gemeinschaft ist viel wichtiger.« 

Der Senegal ist alles andere als ein failed state. Verglichen mit den Nachbarländern, ist er eine stabile Demokratie. Doch im Alltag der meisten Bürgerinnen und Bürger, im Alltag von Menschen wie der Bettlerin Awa Fall, dem Unternehmer Hassane Diagne und dem Maurer Mali Dieng, spielt der Staat keine große Rolle. Und das hat auch mit der kolonialen Vergangenheit zu tun. 

Einerseits gelang es damals der Kolonialmacht tatsächlich, den Senegal unter ihre Gewalt zu bringen. Auf dem Land vernachlässigten Männer die Felder der Großfamilien und begannen, auf eigene Rechnung Erdnüsse anzubauen, die sie an die Unterhändler der Franzosen verkauften. Sie arbeiteten jetzt kaum mehr für das Gemeinwohl der Familie. Teile der alten sozialen Ordnung zerfielen. Anderswo in Afrika vollzog sich ein ähnlicher Wandel.

Andererseits ließ sich das westliche Staatsmodell nicht einfach so einer anderen Kultur aufzwingen. Den Franzosen fehlte es an Geld und Personal, ihr Einfluss auf die Bevölkerung blieb begrenzt. Das Alte wurde nicht durch das Neue ersetzt, der Sozialmensch verwandelte sich nicht in einen Wirtschaftsmenschen nach europäischem Vorbild. Ein Sowohl-als-auch entstand, etwas ganz Eigenes zwischen dem alten Gemeinsinn in der Großfamilie und einem neuen kapitalistischen Egoismus. Zwischen Tradition und Veränderung. Zwischen der Logik des Clans und einem westlichen Staatsmodell.

»Wir haben die Moderne gelebt, sie abgelehnt, angenommen, dekonstruiert, rekonfiguriert«, sagt die Soziologin Fatou Sow. »Wir haben die Moderne transformiert.«

Wenn viele Senegalesen es heute vermeiden, Steuern zu zahlen, dann deshalb, weil der Staat für sie immer noch ein Importprodukt aus Europa ist, sagt Ahmadou Aly Mbaye, Ökonom und Rektor der Universität Cheikh Anta Diop. »Sie verstehen ihn nicht als ihren Staat.« So fehlen ihm die Möglichkeiten, ein System der sozialen Absicherung aufzubauen.

Als der Maurer Mali Dieng ein junger Mann war, in der Zeit nach der Unabhängigkeit vor sechs Jahrzehnten, da hoffte er auf einen handlungsfähigen Staat. Auf einen Staat, der ihm zu Sicherheit und bescheidenem Wohlstand verhelfen und das Versprechen zahlreicher internationaler Experten erfüllen würde, das man damals allerorten hören konnte: Afrika gehört die Zukunft. Und eine Zeit lang sah es gar nicht so schlecht aus. »Es gab senegalesische Industriebetriebe und Baufirmen, ich arbeitete für eine von ihnen und hatte einen festen Vertrag«, erzählt Dieng. Er zahlte Steuern. »Damals habe ich ein gutes Leben gehabt.«

In den 1970ern jedoch stürzte der Senegal nach einer Dürre in eine Rezession. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds schrieben der Regierung vor, das Land für den Weltmarkt zu öffnen, damit es mehr Produkte exportieren konnte. Die senegalesische Industrie aber war der Konkurrenz nicht gewachsen: Importe aus dem Ausland begannen den heimischen Markt zu überschwemmen. »In den folgenden Jahrzehnten hat ein Unternehmen nach dem anderen dichtgemacht«, sagt Dieng. »Auch das, in dem ich gearbeitet habe.« Reguläre Jobs fielen weg. Heute entfallen 96 Prozent der Arbeitsplätze auf den informellen Sektor. Fast alle Handwerker, Verkäuferinnen und Fahrer arbeiten ohne Versicherung, ohne Rentenanspruch, ohne die Erwartung, dass der Staat für sie da ist. Sie zahlen keine Steuern.

Noch vor Kurzem war Mali Dieng einer von ihnen. Er bekam seine Aufträge von einer Gruppe Menschen, die auch in der neuen Zeit noch den sozialen Aufstieg schafft. Nur eben anderswo: in Europa. Dieng jobbte als Maurer für Migranten, die in der Fremde zu Geld gekommen waren und sich nun in ihrer alten Heimat Senegal Häuser errichten ließen. Prächtige Strandvillen in Rosa und Gelb. Paläste der Sehnsucht. Sie stehen nicht weit von seinem kleinen Zimmerchen entfernt.

Schaut Mali Dieng nachts aus dem Fenster, sieht er manchmal junge Menschen in die riesigen, bunt bemalten Holzboote steigen, mit denen sie sich auf die ein- bis zweiwöchige Reise Richtung Kanaren machen. Viele kommen nie an. Die, die es schaffen, »stehen unter großem Erfolgsdruck«, sagt Julia Stier, die am Wissenschaftszentrum Berlin die Migration von Westafrikanern nach Deutschland erforscht. Die Großfamilie in der Heimat erwartet finanzielle Unterstützung. Offiziell machen die Überweisungen aus dem Ausland zehn Prozent des senegalesischen Bruttoinlandsproduktes aus, inoffiziell könnte es doppelt so viel sein, sagt Stier.

In der Corona-Krise ist der Geldfluss schmaler geworden. Dieng bekommt keine Jobs mehr. Seine Frau ist krank, eine Rente haben sie nicht. Was ihnen bleibt, ist die Hilfe durch die erwachsenen ihrer sieben Kinder. Manchmal geben ihnen auch die Nachbarn Geld. Denn das Gebot der persönlichen, direkten Solidarität in einem Land, in dem ein anonymer, bürokratischer Sozialstaat fehlt – im Senegal ist es nicht auf Verwandte begrenzt.

Mit der Würde einer Bankdirektorin sitzt Mbene Ndao, 63 Jahre alt, auf einer bunten Matte in einem Rohbau am Meer. Neben ihr steht eine große Kalebasse, ein aufgeschnittener Flaschenkürbis. Um sie herum haben zwei Dutzend Frauen Platz genommen. Eine Marktverkäuferin, auf dem Rücken ein Kind in einem Tuch, steht auf und wirft lässig drei 10.000-Franc-Scheine in die Kalebasse, insgesamt etwa 46 Euro. Als Nächstes ist eine Unternehmerin dran, sie zahlt für ihre Nachbarin mit, »die ist heute verhindert«. Dann eine Hausfrau. Madame Ndao ruft jede einzeln auf, nickt und schaut streng. Neben ihr sitzt ihre Assistentin. Am Ende ist die Kalebasse prall gefüllt mit knapp zwei Millionen westafrikanischen Franc, mehr als 3000 Euro. 

Mbene Ndao, eine Dame von resolutem Charme, verwaltet mehrere Tontines, sogenannte Sparzirkel für Frauen. Bei dieser Tontine, der Madame Ndao den Namen »Der große Gewinn« gegeben hat, zahlen alle Teilnehmerinnen jedes Mal den gleichen Betrag ein. Dann teilen sich zwei von ihnen die Gesamtsumme. Auf lange Sicht gesehen erhalten die Frauen also genauso viel, wie sie in die Kalebasse gelegt haben. Der Vorteil liegt darin, dass die Frauen überhaupt sparen können. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem nur wenige ein Konto bei einer Bank haben. Kommt ein Verwandter oder Bekannter und bittet um Geld, können Madame Ndaos Frauen gesichtswahrend antworten: Ich muss leider meine Tontine bedienen!

Im Hauptberuf ist Ndao Masseurin für Reiki, auch im Senegal gibt es die japanische Heilkunst. Mit den Tontines verdient sie kein Geld, aber das heißt nicht, dass die Sparzirkel nur irgendein Hobby wären: Sie steigern Bekanntheit und Reputation. Ndao verwaltet die Einlagen von 300 bis 400 Frauen, außerdem leiht sie zahlreichen weiteren Frauen ihr eigenes Geld – ganz ohne Zinsen, das untersagt der Islam. »Doch wenn du etwas Gutes tust, wird dir Gutes widerfahren«, sagt sie. Auf diese Weise ist sie zu einer einflussreichen Persönlichkeit geworden, die sogar von Politikern hofiert wird – sie erhoffen sich von ihr eine Wahlempfehlung.

Laut dem französisch-nigrischen Anthropologen Olivier de Sardan haben Menschen in Afrika sehr viel größere soziale Netzwerke als Asiaten, Europäer, Amerikaner. Und zwar ganz analog, jenseits von Facebook und Instagram. Madame Ndao schätzt, bei ihr seien es Tausende Kontakte. Ständig kommen neue hinzu, manche werden vererbt. »Wenn meine Großmutter mit der Großmutter einer anderen Frau eine Freundschaft aufgebaut hat, dann ist es an mir und deren Enkelin, diese Beziehung zu pflegen«, sagt sie. Und: »Kontakte sind viel wichtiger als Geld.«

Im Senegal ist das eine vom anderen nicht immer leicht zu trennen.

Das alte System der gegenseitigen Hilfe, der Geschenke und Gefälligkeiten: Es durchzieht die Gesellschaften vieler afrikanischer Länder. Sogar Verwandtschaftsverhältnisse werden ausgeweitet. Menschen stellen dann Frauen als ihre Mütter vor, die eigentlich Tanten, Nebenfrauen des Vaters oder Nachbarinnen sind. »Meine Mama sagte immer: Egal, wo du hingehst, such dir eine Mama. Sei nie individualistisch, weder in der Armut noch im Reichtum.« So erzählt es Mariama Ndoye, eine senegalesische Schriftstellerin. Sie sagt: »Verwandtschaft liegt nicht nur im Blut, sie ist ein Verhalten.«

Wenn jeder theoretisch der Verwandte von jedem anderen sein kann, entsteht etwas sehr Kostbares: sozialer Zusammenhalt. Wärme. Nähe. Verbundenheit.

Man kann es sehen, wenn die Rollstuhlfahrerin Awa Fall sich zur Mittagspause mit anderen Rollstuhlfahrerinnen trifft. Dann sitzen sie auf einer Matte am Straßenrand, essen, lachen, plaudern. Wann immer eine von ihnen krank wird, eine Hochzeit oder Taufe zu feiern hat, legen alle zusammen, um die Rechnung zu zahlen.

Man kann es erahnen, wenn man den Unternehmer Hassane Diagne fragt, ob er nicht manchmal das Bedürfnis habe, allein zu sein. Die Frage überrascht ihn. »Ich bin nun mal gerne von Menschen umgeben«, sagt er. »Ich glaube an die Großfamilie.«

Man bekommt auch eine Ahnung davon, wenn der Maurer Mali Dieng von seinem Viertel erzählt, wo mitten in der Großstadt jeder jeden kennt. So gut wie alle seiner Aufträge werden auf Vertrauensbasis abgeschlossen. Menschen wie er, die im informellen Sektor arbeiten, haben fast keine Chance, einen Geschäftspartner, der nicht zahlen will, vor einem Gericht zu verklagen. Trotzdem bekommen sie ihr Geld.

Und man erlebt es, als die Geldverwalterin Mbene Ndao am Abend zur Hochzeitsfeier einer Nachbarin geht. Über 100 Frauen haben sich in einer Gasse versammelt, eine großartiger gekleidet als die andere. Wer keinen Goldschmuck besitzt, hat ihn sich irgendwo geliehen. Wem die schicke Handtasche fehlt, hat eine von einer Freundin bekommen. Es ist der Teil der Feier, bei dem Verwandte, Freundinnen und Nachbarinnen ihre Geschenke an die Mutter der Braut übergeben, die Braut selbst hat ihre eigene Feier ganz in der Nähe. Auf dem Boden stapeln sich Berge von Tüchern, Küchentöpfen, Teekannen und Teegläsern. Manche Frauen trommeln auf umgedrehten Plastikbottichen, andere tanzen, und eine Sängerin stachelt alle mit kreischendem Crescendo an, noch mehr zu schenken: »Jetzt kommen die beiden Gattinnen des Onkels! Wollen wir doch mal sehen, welche der beiden großzügiger ist. Die erste? Die zweite? Und jetzt, hiiiier, eine alte Freundin der Brautmutter, was hat sie mitgebracht?«

Mit dramatischer Geste zieht die alte Freundin einen Geldschein nach dem anderen empor, hält ihn vor aller Augen ins Licht und wirft ihn der Brautmutter in den Schoß – während neben ihr in all dem Gewusel eine Schwester der Braut säuberlich in einem Heft notiert, wer wie viel gegeben hat.

Im Senegal haben viele Frauen ein Büchlein wie dieses. Es hilft, bei all den Geschenken nicht den Überblick zu verlieren. Bei nächster Gelegenheit wird die Empfängerin der Geberin ein äquivalentes oder teureres Geschenk geben, das dann wiederum mit einem Gegengeschenk beantwortet wird. Und so geht es weiter, ein Leben lang. Auch solche Geschenkbeziehungen werden manchmal von Generation zu Generation vererbt.

Früher ging es dabei um kleine Summen, um den traditionellen Geist des Tauschens. Inzwischen hat sich jedoch der Wert der Geschenke mancherorts so hochgeschraubt, dass einige Frauen sich verschulden, um ihrer Verpflichtung nachzukommen. Die Regierung hat versucht, diesen Brauch gesetzlich einzudämmen – aber das kümmert niemanden. Das traditionelle Hin und Her der Gefälligkeiten hat sich mit dem modernen Geist des Kapitalismus verbunden. Es ist monströs geworden. Die Solidarität schlägt oft um in Stress. Darunter leiden viele. Die Parlamentarierin, die von allen Seiten bestürmt wird, ihre Cousins, Nichten und Nachbarn einzustellen – in der Politik führt der Zwang zur persönlichen Hilfe oft zu Korruption und Nepotismus. Der gut verdienende Mitarbeiter einer Entwicklungshilfe-Organisation, der angesichts unzähliger Bittsteller einen Burn-out erleidet. Der junge Mann, der nach seiner Europareise einen Monat lang sein Telefon ausschaltet, weil zu viele Bekannte fragen, ob er ihnen Turnschuhe oder ein iPhone mitgebracht hat.

Als Gnilane Kane, 36 Jahre alt, gelernte Juristin, Mutter einer Sechsjährigen und eines Neugeborenen, an der Uni ihren zukünftigen Mann kennenlernte, einen Informatiker, waren sich die beiden schnell einig: Wir wagen es. Wir wohnen alleine. Als Kleinfamilie, ohne Eltern und Onkel und Cousinen. Inzwischen trifft man in Dakar häufiger junge Paare, die frei sein wollen von den Ansprüchen der Familie. Die ihre Kinder erziehen wollen, ohne dass sich jemand einmischt. Die sagen: Mehr als zwei oder drei Kinder können wir uns in der Stadt gar nicht leisten. 

Nach der Hochzeit vor sieben Jahren bezogen Kane und ihr Mann ein gemütliches Apartment in Meeresnähe. Eine Mittelklasse-Idylle, radikal anders als die Welt der Großfamilie, in der Gnilane Kane aufwuchs. Ihre Mutter, erzählt sie, kochte stets in rauen Mengen, immer kam irgendwer spontan zum Essen vorbei. Gnilane und die anderen Kinder zogen unbeaufsichtigt herum, und keiner machte sich Sorgen, weil jeder jeden kannte. Der Vater lebte polygam und war fast immer abwesend. »In so einer Welt lernst du zu teilen«, sagt Gnilane Kane.

Heute leben sie und ihr Mann zwar wie geplant als Kleinfamilie – aber auch sie unterstützen Gnilanes Schwester und Schwägerin und deren Familien finanziell.

Je länger man Gnilane Kane zuhört, desto deutlicher spürt man ihre Ambivalenz. Einerseits schätzt sie dieses Leben. Andererseits scheint sie zu bedauern, dass ihre Kinder nicht mit der gleichen Offenheit aufwachsen wie sie selbst. Als Kind war es für sie normal, bei allen möglichen Menschen auf dem Schoß zu sitzen. Ihre Tochter macht das nicht. Das europäische Familienmodell ist für viele junge Senegalesen ein Ideal, die Anonymität und die Atomisierung westlicher Gesellschaften sind es nicht.

Hassane Diagne, der Besitzer des Geldtransferladens, würde gern in etwas investieren, das es im Senegal noch nicht gibt, sagt er. Alte Menschen werden hier bislang zu Hause versorgt und gepflegt, wie es schon immer war. Sie leben zusammen mit Kindern und Enkelkindern, bekommen menschliche Wärme von ihren Familien.

Das könnte sich ändern, glaubt Diagne. Hätte er die Chance, Kapital anzusparen, dann würde er das erste senegalesische Altenheim aufbauen. »Eine sichere Investition.«

Und was würde er mit den Gewinnen machen?

»Die wären natürlich für meine Familie.«

Vielleicht werden Gnilane Kane und ihr Mann irgendwann einmal zu denen gehören, die in eine senegalesische Seniorenresidenz einziehen. »Wir haben beschlossen, alles zu tun, damit wir als Rentner nicht auf unsere Kinder angewiesen sind.« Ihre Tochter Anastasie entwickle sich ganz anders als sie selbst damals, sagt Kane. Sie renne nicht unbeaufsichtigt mit Freunden durchs Quartier. Die Verbindung zu ihrem Vater sei viel enger. »Wir reden mehr darüber, was sie sieht, wir sind uns näher. In ihrem Alter verbrachte ich die ganze Zeit mit anderen Kindern. Ich würde nicht sagen, dass sie intelligenter ist, aber sie ist aufgeweckter. Sie stellt mehr Fragen.«

Doch als Anastasie vor einigen Jahren anfing, in die Kita zu gehen, sagte ihre Erzieherin zu Gnilane Kane: »Deine Tochter teilt nicht gerne.«

Veröffentlicht am 17. Juni 2021 in Zeit Dossier