Leben als Rivalen

Amiyel Dia und der Magier Haruna Sow @Christian Bobst
In Senegal teilt sich fast die Hälfte der Ehefrauen ihren Gatten mit einer anderen. Die Polygamie treibt viele (auch Männer) zur Verzweiflung, doch einige Frauen finden sie sogar befreiend

Sie sitzt auf dem Sofa, gelassen wie eine Königin. Zu ihren Füßen verlegen Assistenten Kabel, der Lichtmann steigt dem Tonmann auf den Fuß. Eine Make-Up Artistin pinselt Puder auf das feine Gesicht von Khalima Gadji. Gleich wird sich die Schauspielerin in die schöne Marème verwandeln, auf dem Sofa vor ihrer Tante zusammenbrechen und schluchzen: „Ich bin so erschöpft. Eine frisch Verheiratete sollte doch glücklich sein.“ Gadji, 29, spielt die Hauptrolle in der TV-Serie „Mätresse eines verheirateten Mannes“. Als Zweitfrau Marème leidet sie an ihrer Ehe zu Dritt und weint sich durch die Episoden.

Khalima Gadji aber lächelt, und ihre Wimpern heben sich wie Schmetterlinge. „Wenn ich einen Mann fände, ich würde ihn dazu drängen, eine zweite Frau zu nehmen. Ist mir lieber, als wenn er links und rechts mit anderen rummacht“, sagt sie am Filmset in der Hauptstadt Dakar. Man dürfe als Frau nicht egoistisch sein. Sie könne nun mal nicht alle Bedürfnisse eines Mannes erfüllen: „Ich bin keine Hausfrau. Ich arbeite und reise, verdiene mein eigenes Geld, meine Kunst ist mir wichtig.Mein Körper ist nicht dafür gemacht, fünf oder sechs Kinder zu haben.“ Das solle ihr Zukünftiger doch bitte bei einer anderen Frau suchen. 

Khalima Gadji redet sich in Schwung: „Mein Wohlergehen hängt nicht an einem Mann. Ich habe eine Tochter, tauche, boxe, ich will Schauspielunterricht geben und Fallschirmspringen lernen.“ Gadji sieht die Polygamie als Eheform, die ihr Unabhängigkeit ermöglicht – und als gute Wahl für eine moderne Frau.

Für ihre Filmfigur jedoch ist das ein Drama.  Die Serie zeigt das Leid der Polygamie in epischer Breite. Im Senegal wird sie geliebt und gehasst. Die Zuschauerinnen fiebern mit wie Fußballfans, halten zur Erstfrau Lala oder unterstützen Marème. Innerhalb eines Tages erzeugt eine Episode auf Youtube mehr als eine Millionen Klicks. Was daran liegt, dass der Stoff aus dem Leben gegriffen ist: In dem westafrikanischen Land lebt ein Drittel der Verheirateten in Vielehe. 

Die Serienmacher haben sich bei der Konzeption ihrer Charaktere auf die Protokolle von Psychologen gestützt, ihre Geschichten kommen der Realität durchaus nah. Der Plot ist schnell erzählt: Marème verliebt sich in einen verheirateten Mann, der sie zur Zweitfrau nimmt. Doch bringt ihr die Hochzeit kein Glück: Die erste Frau ihres Gatten versinkt durch die Rivalin in Depression, landet in der Psychiatrie. Marème bekommt ihren Mann, den nun das Gewissen plagt, kaum noch zu Gesicht und wenn, dann streiten sie. 

Muslimische Verbände laufen Sturm gegen die Sendung. 95 Prozent der 16 Millionen Einwohner sind Muslime: Jamra, eine Organisation, die es sich zur Aufgabe macht, „soziale Plagen“ zu bekämpfen, verteufelte die Serie als Pornografie und erhob Klage. Besonders stoßen sich die Sittenwächter an einer Szene, in der Marème auf ihren Schritt zeigt und sagt: „Das ist mein Ding. Und ich gebe es, wem ich will.“

Als ich vor zwei Jahren in den Senegal zog, fragte ich mich oft, warum Frauen überhaupt bereit waren, polygam zu heiraten. In meiner Vorstellung wollte die Polygamie nicht zu den starken selbstbewussten Frauen passen, die ich überall traf. Auf den ersten Blick wirkt Senegal liberaler als andere muslimische Länder, etwa in Nordafrika. Frauen sind im wirtschaftlichen und im politischen Leben sehr präsent. Viele Frauen tragen Kopftuch, viele kleiden sich sexy.  

Doch mit der Zeit wurde mir klar: Darin zeigt sich nicht allein ein liberalerer Lebensstil im Senegal. Begehrenswert zu sein ist auch eine Waffe im Kampf um die Gunst des Gatten. Denn Frauen in polygamen Ehen fühlen sich oft unter dem Druck, die Rivalin ausstechen zu müssen. Sogar Flüche von professionellen Hexern kommen zum Einsatz, wenn die Verzweiflung wächst. Selbst die Männer zahlen einen Preis. Wer also leidet, wer profitiert in einer Vielehe? Und: Können starke Frauen wie die Schauspielerin Khalima Gadji das patriarchalische System unterwandern und für mehr Freiheit nutzen? 

Wissenschaftler hatten in den 1960er Jahren das baldige Ende der Polygamie im Senegal vorausgesagt – die Urbanisierung, die bessere Schulbildung von Frauen, der Einfluss westlicher Werte, das alles schien für die Kleinfamilie zu sprechen. Der erste Präsident Leopold Senghor hätte die Vielehe nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960 am liebsten abgeschafft. Sie war für ihn, den Dichter und Katholiken, schwer vereinbar mit einem modernen Staat. Er verbot seinen Ministern und Professoren polygam zu leben.  Durchsetzen konnte er sich nicht. Das 1972 verabschiedete Familienrecht vereint laizistische Elemente mit dem traditionellen islamischen Rechtsverständnis der Wolof, der größten Ethnie des Senegals. Und wenngleich das Familiengesetz heftige Debatten zwischen Ultrareligiösen und Feministinnen auslöst, gibt es keinen ernsthaften Versuch, die Polygamie abzuschaffen – und das, obwohl dank eines Paritätsgesetzes 42 Prozent der Abgeordneten weiblich sind. Im Senegal müssen die Brautleute bei der Eheschließung im Standesamt festlegen, ob sie monogam oder polygam leben wollen. Sind sich die Partner in dieser Frage uneinig, wird die Ehe nicht vollzogen. Hat die Frau der Polygamie einmal zugestimmt, kann sie nicht mehr intervenieren, wenn der Mann sich eine Zweit-, Dritt- oder Viertfrau nimmt.

„Heiratet, was euch an Frauen gut scheint, zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber befürchtet, nicht gerecht zu handeln, dann (nur) eine“, so soll es der Prophet gesagt haben. 35,2 Prozent der Verheirateten leben im Senegal polygam. Das ist im internationalen Vergleich eine sehr hohe Zahl. Erlaubt ist die Vielehe in vielen muslimischen Staaten, doch leben in Nordafrika, Arabien oder Südostasien nicht mehr als fünf Prozent der Eheleute polygam. Besonders verbreitet ist die Polygamie hingegen in Westafrika. Sie ist hier viel älter als der Islam, der sie lediglich neu legitimierte und die Zahl der erlaubten Frauen auf vier begrenzte.

Die Vielehe ist ein sozialer Vertrag, der die Sexualität, den Status und die Altersversorgung eines Mannes ins Zentrum stellt. Sie ist Teil einer patriarchalischen Kultur.  

Anders als die Wissenschaftler vorausgesagt hatten, ging die Polygamie viel weniger rasch zurück. Lebten 1976 knapp 52 Prozent der Frauen in Vielehe, sind es heute immerhin noch 44 Prozent. Ich hatte erwartet, dass sich Frauen für eine Vielehe entscheiden würden, die es schwer auf dem Heiratsmarkt haben, ärmere wenig gebildete Frauen vom Land, Witwen und Geschiedene. Doch zu meiner Überraschung sagten auch Freundinnen, dass sie sich vorstellen könnten, Zweitfrau zu werden. Junge, gebildete, moderne Frauen mit guten Jobs, die sich als emanzipiert verstehen. Zum Beispiel die Marketingexpertin Codou Séne, 28, hübsch, klug, charmant, umschwärmt. „Bei uns erwartet ein Mann, das du dich von morgens bis abends um ihn kümmerst“, sagt sie. „Wenn du die Zweitfrau bist, hast du wenigstens ein wenig Freiheit.“ In der populären Imagination ist die Zweitfrau die Jüngere und Beliebtere (obwohl das nicht immer der Fall ist), eine dritte oder vierte Frau können sich nur wenige Männer leisten.

Die Statistik bestätigt den Eindruck: gerade auch die Frauen, von denen es Wissenschaftler am wenigsten erwarteten hatten, wählen die Vielehe. Zwar gibt es keine Umfragen zur Ehepräferenz von Unverheirateten, laut der Nationalen Agentur für Statistik und Demographie aber leben 39,8 Prozent der Verheirateten auf dem Land polygam, und  29,1 Prozent der Städter. Knapp die Hälfte der Frauen ohne Schulbildung sind polygam verheiratet, doch auch fast ein Viertel der Frauen mit höherem Bildungsniveau.

Vor etwa einem Jahr fügte mich eine Freundin einer What s App Gruppe namens „Astuces entre Femmes“ zu, „Tricks unter Frauen“. Etwa hundert Frauen tauschen sich dort aus über Küche, Schönheit, Gefühle, Sexualität. Meine Freundin sagt, es gäbe viele Gruppen wie diese. Jeden Tag gingen Hunderte von Nachrichten ein, mein Telefon brummte permanent. Mir völlig unbekannte Frauen schilderten ihre intimsten Probleme, andere gaben Ratschläge. Wellness, Beauty, Verführung, Religion, Lebensweisheit, Naturkosmetik und Magie setzen sich zu einem schillernden Mosaik zusammen. Die meisten der Frauen im Chat schienen einer Arbeit nachzugehen, es gab Singles, polygam und monogam Verheiratete, Geschiedene und Mätressen, Muslima und Christinnen. Eine Selbsthilfegruppe in einem Kulturraum, in dem nur wenige zum Therapeuten gehen.  

Die Frauen diskutierten eine Vielzahl von Problemen und doch zog sich ein Thema durch alle Konversationen: die Angst vor der Anderen. Manchmal schien es sie tatsächlich zu geben. Bei anderen stand sie nur als Gespenst im Raum. Die Untreue des Mannes schien den Frauen eine Tatsache zu sein, unvermeidlich wie eine Naturgewalt. Die meisten Ratschläge dienten dem Ziel, das Unausweichliche doch noch abzuwenden. Lege ein rohes Ei auf die Straße und lasse ein Auto drüberfahren, er wird keine andere nehmen. Ziehe jeden Tag einen andersfarbigen Slip an. Bleiche deine Haut, lackiere deine Nägel. Esse ein Mentholbonbon, bevor du ihn oral befriedigst. Ignoriere die erste, die zweite, die dritte Geliebte. Lächle. Es klang, als sei der Mann ein kostbares Kleinod und seine Zuneigung so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Wann immer er vor die Tür trat, konnte er von einer anderen aus dem Heer perfekt geschminkter, verführerischer Frauen geschnappt werden. Um mithalten zu können, suchen Frauen die Hilfe eines Profis.

Mboro, eine hübsche Kleinstadt am Meer. Sand knirscht unter den Füßen, Passanten schlendern vorbei, niemand scheint es eilig zu haben. Zwei Frauen mit Kopftüchern betreten ein Haus, das fast jede Frau hier kennt: die Gattinnen des Bürgermeisters und des Imams etwa, Krankenschwestern und Hebammen, sie alle zählen zu Kadia Dias Kundinnen. Denn die Verführung ist ihr Metier.

Dias, 38, ist eine Frau von sanfter Mütterlichkeit, ihre Rundungen trägt sie mit Grazie, ein Schönheitsideal, das man im Senegal Diriyanké nennt. Die Kundinnen lassen sich auf das Bett fallen, das gleichzeitig als Verkaufstheke dient. Sie lachen und plaudern, während Kadia Dias ihnen ihre Schätze präsentiert. Sie befühlen Tücher, die den Kurven schmeicheln, riechen an den Duftwassern, die einem Mann den Kopf verdrehen sollen. Lassen die Binbins durch ihre Finger gleiten, bunte Perlenketten, die Frauen um die Hüften tragen, um mit dem Klacken ihre Geliebten zu hypnotisieren. Begutachten Wurzeln, die zu Tee bereitet, angeblich die Vagina verengen, und mit einem Zauberspruch versehen, einen Mann in Liebe entflammen lassen sollen. Jeden Monat fährt Dias nach Dakar, um ihre Waren auszuwählen. Da gibt es Puder, das den Hintern runder und die Brüste größer machen soll, Liebesbäder, Negligés, Parfüm in Halbliterflaschen, deren Sprühkopf an Fensterreiniger erinnert.

Manchmal bringen Mütter ihre Töchter vorbei, damit Dias sie in der Kunst des Jongué unterweist. So heißt die senegalesische Kunst der Verführung. Dazu gehört die Gabe, beim Gehen sanft die Hüften rollen zu lassen. Gleichzeitig eine tugendhafte Muslima und eine aufregende Frau zu sein. Und Contenance zu wahren. „Ganz egal, wie sehr du leidest, lass deine Rivalin niemals spüren, wie nah dir die Konkurrenz geht“, rät Dias den Frauen. 

Auf ihrem Bettlaken steht der Schriftzug „Mon Roi, Mon Amour“, „mein König, meine Liebe.“ Darüber hängt ein Foto des Mannes, den sich Dias mit einer anderen teilt. Sie lebt in Vielehe wie die meisten ihrer Kundinnen. „Wenn du nicht die einzige Frau deines Mannes bist“, sagt sie, „würdest du dich nie trauen, ihn ohne das ganze Verführungsprogramm zu empfangen.  Schließlich stehen wir immer im Wettstreit um seine Gunst.“

Wenn Dias aus ihrem Fenster über den kleinen Innenhof schaut, blickt sie direkt auf das Fenster ihrer Rivalin, der zweiten Ehefrau ihres Mannes. „Der Wettbewerb“, sagt sie, „erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens.“ Wer ist schöner, wer kocht besser, wer hat mehr erfolgreiche Kinder? Wen bevorzugt die Großfamilie? „Du bist mit der ganzen Verwandtschaft deines Mannes verheiratet und stehst permanent unter Beobachtung. Du musst zu allen nett sein, selbst zu den Schafen und Hühnern. Gibst du ihnen nicht genug zu essen, heißt es sofort: du bist eine schlechte Frau.“

Es gibt keine Umfragen zu den Einstellungen polygam verheirateten Frauen, die drei Frauen auf dem Bett sagen übereinstimmend, sie nerve die Dauerkonkurrenz. Das bestätigen auch viele andere. Manche hassen sie. Einer von Kadias Dias Kundinnen fehlt ein Stück ihrer Nase, das hat ihr eine Rivalin in einem Anfall von Eifersucht abgebissen. Die Zeitungen berichten immer wieder von Gewaltexzessen. Mariama Bâ hat die Schmerzen einer geschassten Erstfrau in ihrem Briefroman „Une si longue lettre“ verewigt, einem Klassiker der senegalesischen Literatur. „Frauen leiden in polygamen Ehen oft unter permanenten Angstzuständen“, sagt der Psychologe Pape Ladické Diouf, der die Macher der Serie „Mätresse eines verheirateten Mannes“ beraten hat „Viele verharren in einem Zustand der Unsicherheit über ihre Beziehung. Sie leben in ständiger Angst, von ihren Rivalinnen verhext zu werden.“ Auch dazu gibt es keine Erhebungen, doch sagen zwei Hexer, die ich befrage, dass polygame Frauen zu ihren wichtigsten Kundinnen zählten. „Diejenigen, die nicht die Lieblinge ihres Mannes sind, leiden oft unter sexueller Frustration“, sagt Diouf.

Awa Sow (Photo: Christian Bobst)

Nur wenige Frauen scheinen den Dauerwettbewerb inspirierend zu finden. Awa Sow, 30, zum Beispiel. In der Kleinstadt Rufisque führt sie in einen Rohbau. Nichts deutet auf den Palast der Verführung hin, den sie betreten wird, sobald sie die Tür zu ihrem Zimmer aufschließt. Rote, gelbe, grüne und blaue Laternen bestrahlen ein riesiges Bett, vergoldete Keramikschwäne drängen sich neben einem Springbrunnen, der alle paar Sekunden eruptiert. Es blinkt, leuchtet und schimmert, ein Bernsteinzimmer des chinesischen Plastik. Seit ihr Mann im vergangenen Jahr nach 13 Jahren Ehe eine Zweitfrau nahm, tut Awa alles dafür, noch verführerischer zu werden. „Das stachelte mich an.“ Sie geht zum Frisör und zum Nagelstudio, sie kauft sich jede Woche ein neues Negligé. Sie sagt, sie finde sich jetzt schöner als zuvor. Und sie sagt einen Satz, den man auch in der Werbung für Diätbutter oder Bodylotion hören könnte: „Ich mag mein neues Selbst.“

Und wie geht es den Männern? Ich lernte im Senegal etliche kennen, bei denen ich mir schwer vorstellen konnte, dass sie ihre Frauen betrogen oder eine Zweitfrau nehmen würden. Andere sprachen ganz offen darüber. Entscheidend schien mir zu sein, dass viele Frauen fest daran glaubten. „Frauen im Senegal tun alles dafür, damit ihr Mann keine Zweite nimmt“, sagte eine Bekannte. „Aber du kannst einen Mann in einen Honigtopf stecken und er wird doch woanders nach Zucker suchen“. Lebe der Mann erstmal in Vielehe, werde jede seiner Frauen ihn umschmeicheln, alles dafür tun, seine Lieblingsfrau zu sein. Er ist ein Prinz, auf Seide gebettet, wohin er auch geht. Aber – stimmt das auch?

Rufisque, eine Kleinstadt vor den Toren der Hauptstadt Dakar. Ousmane Ousso, 42, betritt das Studio des Onlinesenders Rio TV im obersten Stockwerk eines Hochhauses. Der Blick geht weit über ein Meer unverputzter Häuser, Pferdekutschen fahren vorüber, Plastiktüten tanzen über den sandigen Boden. In der Ferne glänzen die Hochhausfassaden der Hauptstadt. Wie immer trägt Ousmane wallendes Weiß. An den Fingern stecken dicke Ringe, sein Handgelenk ziert eine goldene Uhr mit mehreren Ziffernblättern, nur wenn man ganz nahe bei ihm steht, kann man erkennen, dass einige Zeiger defekt sind. Ousmane ist religiöser Sänger, er preist die Schönheit Allahs und des Koran. Mehrmals wöchentlich spricht er bei Rio TV über das gläubige Leben. Heute wird er die Ehe behandeln. Er steckt ein Mentholbonbon in den Mund und beginnt den Soundcheck: „Allah, Allah, Allah“. Dann legt er los. Donnernd, mahnend, schmeichelnd. Der Mann, sagt Ousmane, habe alle Kosten zu tragen und die Frau sexuell zu befriedigen. Die Frau, doziert er, solle dafür keinen Ärger machen. „Keine Szenen. Sie soll ihn um Erlaubnis bitten, wenn sie rausgeht. Sie soll weder ihn kontrollieren, noch das, was er tut.“

Eine solche Frau, sagt er später, sei eine „verständnisvolle Frau“. Und damit meine er „eine unterwürfige Frau“. So wie die senegalesische Heilige Mama Diarra, der ihr Mann einen Stock in die Hand drückte und sagte: halte. Als er am Morgen nach einer verregneten Nacht aufstand, und nach draußen sah, stand seine Frau dort noch immer mit dem Stock in der Hand. „Warum stehst du da?“ fragte er. Und sie antwortete: „Weil du es mir aufgetragen hast.“ Eine Frau, sagt Ousmane, müsse tun, was man ihr befehle, „um die Gnade Gottes zu erhalten und finanziell zu profitieren.“

Es gab eine Zeit, in der das anders war. Da hatte der Mann nicht zu zahlen. Lange haben Ethnologen darüber gerätselt, warum sich die Polygamie gerade in Westafrika so stark ausbreiten konnte. Die meisten glauben, das liege an einer arbeitsintensiven Form der Landwirtschaft, in der viele Familienmitglieder viele Arbeitskräfte bedeuteten – und Frauen einen Großteil der Arbeit erledigten. Die Vielehe lohnte sich für den Mann also finanziell, darüber hinaus ermöglichte sie ihm, politische und soziale Allianzen zu schmieden und die Zahl seiner Nachkommen zu maximieren. Vor allem aber verlieh sie ihm Prestige.

Als die ersten Europäer nach Westafrika kamen, waren sie entsetzt über die Vielehe. Missionare versuchten sie auszumerzen. Im Senegal scheiterten die französischen Kolonialherren mit ihrer Assimilierungspolitik, es fehlten Geld und Personal. Sie strebten eine indirekte Herrschaft an und bedienten sich der muslimischen Bruderschaften. Die leiteten die Befehle der Franzosen weiter, diese beteiligten die Bruderschaften im Gegenzug an den Umsätzen der Kolonialwirtschaft und gewährten ihnen weitgehende kulturelle und religiöse Autonomie – und damit auch die Vielehe.

Anders als viele Männer behaupten, existiert die Polygamie nicht deshalb, weil es im Senegal mehr Frauen gäbe als Männer – es werden überall etwa gleich viele Jungen und Mädchen geboren. Es gibt sie, weil ältere Männer jüngere Frauen ehelichen. Wenn eine Bevölkerung schnell wächst, ist jede neue Generation größer als die davor. Es gibt also mehr jüngere als ältere Menschen. Wenn ältere Männer junge Frauen heiraten, haben sie damit eine größere Auswahl.  Damit eine polygame Gesellschaft funktioniert, müssen Frauen möglichst früh heiraten und schnell wieder ehelichen, wenn sie geschieden oder verwitwet sind. Ganz egal, welchen beruflichen Status eine Frau erlangt, in den Augen der Gesellschaft erhält sie erst durch Hochzeit ihr Prestige. Auf Wolof, der meistgesprochenen Sprache des Senegal, bedeutet das Wort „geschieden“ gleichzeitig „Prostituierte.“ Ob im Radio oder Fernsehen, zu Hause oder auf der Straße, immer wieder wird eine ungebundene Frau hören, dass sie endlich zu heiraten hat.

Konnte ein Mann früher von der Arbeit seiner Frauen und Kinder profitieren, muss er sie heute finanzieren. Das ist vor allem in den Städten teuer. Anspruchsvolle Städterinnen weigern sich oft, ein Haus mit ihrer Rivalin zu teilen. Ein Apartment für jede Frau, Versorgung der Kinder, das kann in einem Land, in dem der Jahresdurchschnittsverdienst bei 1300 Euro liegt, ein Vermögen kosten. Deshalb halten sich polygame Männer selbst für verantwortungsbewusst. Hätten Männer im Westen nicht etwa auch Geliebte? Fragen sie. Zeugten sie nicht uneheliche Kinder mit ihnen? Wir, sagen viele, kümmern uns wenigstens anständig um unsere Frauen und Kinder.

Auf dem Standesamt die Monogamie zu wählen, sagt Ousmane sei „ein Zeichen der Schwäche“, etwas, über das sich die Familie lustig machen könnte. Einige Männer wählen die Polygamie, obwohl sie eigentlich nur eine Frau heiraten wollen. Sonst könnte ihnen die ja auf dem Kopf herumtanzen, fürchten sie. Die Polygamie kann auch ein Druckmittel sein, wenn sich die erste Frau nicht so verhält wie man will. Was aber, wenn die Zweite auch nicht macht, was man will?

Am Tag zuvor hatte Ousmane Streit mit seiner zweiten Ehefrau Amiyel Dia, 39, der Schwester von Kadia Dias.

Amiyel Dia, 39, wartet in ihrer Wohnung. In den Händen hält sie ein Papiertaschentuch, das sie in immer kleinere Rechtecke faltet, ihre Finger fahren gereizt über die Kanten, als würde sie es gern in Stücke reißen. Gleich wird Ousmane zur Tür hereinkommen und sie wird ihm die Wut entgegenschleudern, die sich seit Monaten in ihr aufgestaut hat. Sie kann sich noch gut erinnern, wie Ousmane sie einst im Sammeltaxi angesprochen hat. Er fragte nach der Uhrzeit, lobte ihren Teint, dann kam er zur Sache. „Ich suche eine Zweitfrau, denn meine erste Frau ist schlecht.“ Dia lehnte dankend ab – und heiratete ihn später doch. In den wenigen Monaten ihrer Ehe aber hat sie ihn kaum gesehen.Wie oft hat er ihr versprochen, dass er  zu ihr käme. Und sie putzte und kochte, cremte und schminkte sich. Doch die Tür blieb zu, das Essen wurde kalt, das Make-Up verschmierte unter ihren Tränen. Und am Tag darauf suchte Dia erneut einen Wunderheiler auf, um sich ein weiteres Wundermittel verschreiben zu lassen. Magische Bäder, Zaubersprüche, Tees, damit ihr Ousmane endgültig verfalle. Doch das Wunder bleibt aus. Manchmal verbringt Ousmane drei Wochen am Stück bei seiner ersten Frau Amikolé Samb, 29 und wenn er dann zu ihr kommt, sagt sie, sei er schlecht gelaunt, fange wegen jeder Kleinigkeit zu streiten kann und auch sexuell laufe nichts. Wahrscheinlich, sagt Amiyel, habe Ousmane sie nur geheiratet, um seine erste Frau zu disziplinieren. „Ganz sicher“, sagt sie, „hat sie ihn verhext.“

Ousmane kommt zur Tür herein. Amiyels Finger falten immer wütendere Rechtecke, Ousmane schiebt sich ein Mentholbonbon nach dem anderen in den Mund, während der Ehestreit eskaliert. Er solle seine Frauen endlich gerecht behandeln, ruft Dia, so wie es der Prophet fordert. Ousmane kontert, dass Gerechtigkeit nicht Gleichheit sei. „Man schenkt Frauen mit unterschiedlich großen Füßen ja auch keine gleich großen Schuhe.“ Dia greift sich Ousmanes Smartphone, um seinen Facebook Account zu durchforsten. Sie droht mit Scheidung, er stürmt aus der Tür.

Am Tag darauf hat Amiyel das mit der Scheidung vergessen. Sie sagt, sie liebe Ousmane und wolle ein Kind. Und was würden die Leute sagen über eine zwei Mal geschiedene Frau? Stattdessen besucht sie den Wunderheiler Haruna Sow, 80, und lässt sich ein magisches Liebeshüftband verschreiben. Sie ruft ihre Schwester Kadia in Mboro an und bestellt neue Waffen der Verführung.

Amikolé Samb (Photo: Christian Bobst)

Ousmane geht unterdessen zu seiner ersten Frau Amikolé, die gelassenes Selbstbewusstsein ausstrahlt. Sie wartet bis Ousmane rausgegangen ist, dann fragt sie: „Unterwürfig?“ und lacht genüsslich. „Die meisten Frauen sind es nicht. Die modernen noch weniger.“ Sie kenne ihren Mann seit 14 Jahren, „ich könnte ein Buch über ihn schreiben.“ Sie wisse, dass verheiratete Frauen ihm nach seinen Auftritten Zettel mit ihren Nummer zustecken. „Er kann drei oder vier Frauen heiraten, das wird für mich nichts verändern. Hauptsache meine finanzielle Situation ist stabil.“ Sie scheint in sich zu ruhen. „Wenn die andere spielen will, spiele ich mit. Mit Ruhe und sehr viel Geduld.“ Und ein bisschen bekommt man den Eindruck, sie könnte genau das Gleiche auch über Ousmane sagen.

Nach der Sendung war Ousmane auf den Balkon des Studios getreten. Er hatte in die Ferne geschaut und plötzlich sehr müde ausgesehen. „Mit verständnisvollen Frauen ließe sich das Glück in der Polygamie erreichen. Aber wo gibt es solche Frauen heutzutage noch?“ Er hatte geseufzt: „Stattdessen Eifersüchteleien, Dramen, Lästereien und die Hexerei.“

Einige der polygam lebenden Männer gehen die Frauenwahl strategisch an („die Erste fürs Gefühl, die Zweite für die Schönheit, die Dritte ist eine gute Geschäftsfrau“) andere heiraten aus Verantwortungsgefühl, etwa um eine verwandte Witwe zu versorgen, manche sind einfach verliebt. Oft fällt der Satz „Man muss für die Polygamie geboren sein“. Doch das sind wohl nicht alle. Der Psychologe Pape Ladické Diouf sagt, einige Männer litten in einem polygamen Arrangement unter Leistungsdruck. „Jede Frau erwartet den besonderen Moment, wenn ihr Mann zu ihr kommt. Schließlich hat sie auf ihn gewartet. Bei einigen erzeugt der Stress Impotenz, was zu Depression und einem schlechten Selbstbild führen kann.“

Die Jurastudentin Woppa Diallo, 25, eine kleine Frau von ruhiger Entschlossenheit, hat radikal entschieden, gar nicht zu heiraten, es sei denn, die Ehe entspricht ihren Prinzipien.  „Ich will kein Objekt sein und auch keine Untergebene.“ Eine Schwiegertochter, sagt Diallo, müsse alles für ihre Schwiegerfamilie tun. „Du bist die Gärtnerin, die Elektrikerin, die Klemptnerin, die Dienerin für alles.“ Sie hat einen Freund, doch sie weiß noch nicht, ob sie ihn heiraten will.  Und weil Diallo ursprünglich aus Matam kommt, einer sehr konservativen Region an der Grenze zu Mauretanien, zahlt sie für ihre Entscheidung einen hohen Preis. „Jedes Mal, wenn ich zurück nach Hause komme, schlägt meine Großmutter die Hände über dem Kopf zusammen. Sie ist verzweifelt. Meine Tanten sagen: oh weh, sie wird keine Kinder haben. Sie wird alt. Es ist vorbei. In Matam mit 15 Jahren nicht verheiratet zu sein, sagt Diallo, sei ein Skandal,„mit 25 ist es ein Superskandal.“ Der Druck sei groß, laufend müsse sie sich rechtfertigen. Ob im Bus, im Geschäft auf dem Markt, stets komme die Frage: Madame oder Mademoiselle?

Weil sie sich von niemanden etwas vorschreiben lassen will, finanziert sich Woppa Diallo ihr Jurastudium in Dakar selbst. Sie arbeitet im Call Center, an der Kasse, im Restaurant, darüber hinaus leitet sie eine Nichtregierungsorganisation, die sich um Rechte und Bildung der Mädchen in Matam kümmert. Dort werden Mädchen oft schon mit zwölf Jahren verheiratet. 87 Prozent der Frauen in dieser Region sind genitalverstümmelt, landesweit 25 Prozent. Obgleich diese Praxis im Senegal seit 1999 verboten ist. „Sie sagen, eine unbeschnittene Frau wird keine gute Hausfrau sein. Nicht fruchtbar. Und nicht rein.“ Keinen störe es, wenn die Frau nach dem Eingriff keine Lust mehr verspüren könne, sagt Diallo. „Sex ist bei uns in Matam ohnehin nichts für Frauen. Es gibt kein Vorspiel. Sex ist für den Mann.“

Auch sie wurde mit 13 Jahren gegen den Willen ihrer Eltern beschnitten, das hat sie zur überzeugten Feministin gemacht. Einer muslimischen Feministin. Sie stammt aus einer sehr religiösen Familie, hat lange eine Koranschule besucht, sie kann den Koran auf Arabisch lesen und schreiben. „Im Koran steht, der Mann müsse die Frau schützen und respektieren“, sagt sie. Da stehe auch, dass der Mann seine Frauen gerecht behandeln solle. „Und welcher Mann kann das schon?“ Diallo glaubt daher, dass der Koran im Grunde gegen die Polygamie sei. „Der einzige Fehler, den wir Frauen gemacht haben, war, dass wir uns nicht selbst informiert haben. Wir haben die Männer den Koran für uns lesen lassen. Und die haben uns reingelegt, sie haben ihn in ihrem Sinne interpretiert.“  Aber, sagt sie, die Frauen könnten die Gesellschaft ändern. Wer wenn nicht sie? „Wir erziehen die Söhne und Töchter. Wir gestalten die Zukunft. Hilft uns ja eh keiner dabei.“

Veröffentlicht in Geo 12/2019