Kashgar Blues

Die Regierung hat ehrgeizige Pläne für Kashgar und die Seidenstraße. Und das sind äußerst schlechte Nachrichten für die Uiguren

Ein Trupp Beamter schreitet durch die Wüste. Eine bemerkenswerte Prozession. Die Sonne brennt auf schwarz gefärbte Seitenscheitel, frisch geputzte Schuhe versinken im Sand. So ziehen sie durch die Mittagshitze, die Aktentaschen unter den Arm geklemmt. Vor ihnen erheben sich, gleich einer Fata Morgana, Rohbauten aus dem Sand. Ein rotes Werbebanner grüßt in die Einsamkeit: „Die Privatwirtschaft ist die Avantgarde.“

„Hier“, sagt einer der Beamten, und sein Arm beschreibt einen feierlichen Bogen, „entsteht die Sonderwirtschaftszone Kashgar.“

Kashgar. Schon der Name ist Verheißung. Einst war Kashgar eine der wichtigsten Städte auf der Seidenstraße, diesem Netz aus Karawanenrouten, das vom 2. Jahrhundert vor bis zum 16. Jahrhundert nach Christus den Westen und den Osten verband. Händler brachten Tee, Porzellan und Seide aus dem alten China bis ins alte Rom. In Kashgar, der Oasenstadt, erholten sie sich von den Strapazen der Taklamakan-Wüste, boten ihre Waren auf dem Basar feil.

China will unabhängiger vom Seehandel werden

Doch als die Zwischenhändler auf der Arabischen Halbinsel die Preise immer weiter hinauftrieben und im Westen mit Portugal und Spanien Seemächte aufstiegen, verlegte sich der Welthandel auf die Meere – und die Seidenstraße verlor an Bedeutung. Heute ist Kashgar, in der nordwestlichen Provinz Xinjiang gelegen, eine der ärmeren Städte Chinas – fernab der Küste, fernab der Fabriken und der Dynamik des Ostens.

Das will die chinesische Regierung ändern. Sie will die Seidenstraße wiederbeleben. Die Region soll an alte Größe anknüpfen.

Die Pläne für Kashgar sind Teil einer gewaltigen Westorientierung, die über Zentralasien bis nach Europa reicht. Sie soll China unabhängiger vom Seehandel machen, der vor allem den Städten des Ostens Wohlstand brachte, während jene im Landesinneren zurückblieben.

Die Abhängigkeit vom Seehandel ist für China ohnehin nicht ohne Risiko. 80 Prozent der Ölimporte kommen durch die piratenverseuchte Straße von Malakka. Zudem liegt China mit den meisten maritimen Nachbarn im Clinch. Im Kriegsfall könnte ein Gegner die Energiezufuhr über die See blockieren. Im Westen hingegen leben Verbündete, die über gewaltige Ressourcen und große Absatzmärkte verfügen – die heute erreichbarer erscheinen als je zuvor.

In den vergangenen Jahren hat China sein Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsnetz in rasendem Tempo ausgebaut, mittlerweile verfügt es über das zweitgrößte der Welt. Jetzt hofft es, seine Technologie in andere Länder exportieren und eine ganze Reihe von Strecken in den Westen bauen zu können. Eine für Güter von Chongqing nach Duisburg gibt es schon. Peking würde gern auch eine Strecke nach Myanmar bauen, wo von Chinesen betriebene Häfen liegen, sowie eine Pipeline, die China mit Gas versorgt. Es hofft außerdem auf eine Strecke nach Kirgisistan und Usbekistan sowie auf eine nach Pakistan, zum pakistanischen Hafen von Gwadar, den seit vergangenem Jahr eine chinesische Firma kontrolliert. Die Ambitionen reichen bis nach Europa: Im Dezember geriet ein Auftritt von Premier Li Keqiang auf einem Gipfel mit den Führern von 17 ost- und zentraleuropäischen Ländern in Rumänien zur Verkaufsshow für die chinesische Hochgeschwindigkeitszug-Technologie. China wird nun dabei helfen, eine Zugverbindung zwischen Budapest und Belgrad zu bauen.

Kashgar, ja die ganze Provinz Xinjiang könnte ob all dieser Entwicklungen dereinst wieder dort liegen, wo es früher schon einmal gelegen hat: auf einer Arterie des Welthandels.

Das hofft zumindest der Parteisekretär von Kashgar, der mehr als zwei Dutzend Beamte abgestellt hat, die von Baustelle zu Baustelle führen – und die Vision eines gewaltigen Wirtschaftszentrums präsentieren. Da ist ein Zentrum für Logistik und Luftfracht, eines für Landwirtschaftsprodukte und verarbeitende Industrie, eines für Forschung und Hochtechnologie und ein weiteres für Finanzen und Handel. Da wird ein riesiges Luxushotel gebaut, das sie „unser Empire State Building“ nennen, in dem einmal Investoren aus Dubai, London und Tokio unterkommen sollen. Es gibt Pläne für Luxusvillen, in denen Unternehmer residieren könnten. Und solche für Museen, Duty-free-Shoppingmalls und Sportstadien. Sie träumen von Händlern, Investoren und Touristen aus aller Welt.

Im Zentrum Kashgars steht ein gewaltiger Mao, er breitet die steinernen Arme aus, um die Massen zu umarmen, doch neuerdings haben sie ihm ein Banner vor die Brust gespannt: „Lerne und führe das Tourismusgesetz aus“, steht dort etwas kryptisch. „Trage deinen Teil bei zur großen Entwicklung der Tourismusindustrie.“ Gleich nebenan, im Verwaltungsgebäude der Stadtregierung, sitzt Parteisekretär Chen Xuguang, der oberste Politiker der Stadt, ein Hanchinese wie alle wichtigen Parteisekretäre der Provinz Xinjiang. Er lächelt viel, er antwortet gewandt, ein Beamter des Typs „jung und dynamisch“. „Kashgar“, schwärmt er, „hat eine strategische Schlüsselposition. Wir sind Mittler zwischen Europa und Asien, die Verbindung zwischen Süd-, Ost-, Mittel- und Westasien. Immer waren wir die Avantgarde des Handels.“

„Wer Xinjiang kontrolliert, kontrolliert China.“

Es sei nicht nur die Lage allein, die Kashgar zu einem herausragenden Handelsplatz mache, sagt Chen, sondern auch seine religiöse Prägung. 60 Prozent der Einwohner der Provinz Xinjiang gehören der Volksgruppe der muslimischen Uiguren an, einem turkstämmigen Volk, in Kashgar sind es gar 80 Prozent. „Unsere muslimische Kultur erleichtert den Kontakt zu ausländischen muslimischen Geschäftsmännern. Die können hier in die Moschee gehen und Lammfleisch vom Spieß essen, ganz wie sie es von daheim gewohnt sind.“ Der Parteisekretär strahlt. Er träumt von Kashgar als lokalem Finanzzentrum: „Wenn die Nachbarländer hier ihren Zahlungsverkehr dereinst auch in Renminbi abwickeln könnten, dann wäre das ganz wunderbar.“ Und er prophezeit eine „Seidenstraße der Lüfte“, Kashgar als Luftfracht- und Tourismuszentrum. Einen Direktflug von Kashgar nach Islamabad gibt es schon, jetzt wünschen sie sich eine Fluglinie nach Dubai und eine nach Frankfurt. „Ein Flug von Frankfurt nach Peking dauert viel zu lange. Kashgar liegt in der Mitte, hier kann man einen Zwischenstopp machen, unser Wetter ist gut, wir bemühen uns, Besuchern gleich bei der Ankunft ein Visum zu geben, und unsere touristischen Sehenswürdigkeiten sind fantastisch!“ Beim Rausgehen sagt der Parteisekretär: „So, und jetzt macht mal schön Propaganda für uns.“

Fantastische Zukunftsvisionen, verkündet von Lokalregierungen, sind in China mit Vorsicht zu genießen. Im Baurausch der vergangenen Jahre errichteten etliche von ihnen Geisterindustriezonen auf Pump. Schwer zu sagen, ob der Traum des Parteisekretärs von Kashgar Wirklichkeit werden wird. Schon seit Längerem gehe es mit den Bauarbeiten nicht voran, erzählt man sich in der Gegend. Doch das wüstenreiche Xinjiang ist auch reich an Öl- und Gasreserven, dazu gibt es große Vorkommen an Gold und Uran. Xinjiangs Klima eignet sich hervorragend zum Anbau von Baumwolle. Vor allem ist die Provinz so bevorzugt gelegen, dass einer der Beamten ein altes Sprichwort zitiert, mit dem er später keinesfalls in Verbindung gebracht werden möchte: „Wer Xinjiang kontrolliert, kontrolliert China.“

Neben ökonomischen Interessen hat die chinesische Führung auch geopolitische an der Region. 2014 werden die USA ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, ihren Luftwaffenstützpunkt in Kirgisistan aufgeben und damit ein Machtvakuum hinterlassen. Das lässt Raum für China. Und das könnte die nordwestliche Provinz Xinjiang in eine neue strategische Position rücken.

Ein prominenter Regimekritiker wurde verhaftet, weil er sich wehrte

Es gibt dabei nur ein Problem: In Xinjiang lebt die turkstämmige Minderheit der Uiguren. Und viele von ihnen sind gar nicht glücklich mit der Weise, wie sie regiert werden. Derjenige, der am beredtsten darüber sprechen konnte, war Ilham Tohti, 44, Professor an der Nationalitäten-Universität in Peking und selbst ein Uigure. „Konnte“ in der Vergangenheitsform, denn vergangene Woche wurde Tohti festgenommen.

Oft hatte er die Unterdrückung seines Volkes durch die chinesische Regierung beklagt, hatte kritisiert, wie es an der Ausübung seiner Kultur und Religion gehindert werde. „Schüler unter 18, Lehrer, Parteimitglieder, Angestellte von Staatsbetrieben, Arbeitslose, keiner von ihnen darf eine Moschee betreten“, sagte er. Er hatte die allgegenwärtige Bespitzelung und Militärpräsenz angeprangert. „Die Repression ist bei uns schlimmer als in Tibet“, sagte er.

Seit Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 betreibt Peking eine gezielte Ansiedlungspolitik. Die Regierung lockt Hanchinesen nach Xinjiang, auf dass die uigurische Kultur und der Wunsch ihrer Angehörigen nach Unabhängigkeit an Einfluss verlieren mögen. „Sand mischen“ nennen das die Beamten.

Die Han, sagte Tohti, dominierten die Wirtschaft und Politik Xinjiangs völlig, obwohl sie nur 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Sie beuteten die reichen Ressourcen der Provinz aus. Sie sicherten sich die besten Felder und Wasserquellen. Die ertragreichsten Agrarfirmen werden von den sogenannten Bingtuan geleitet, paramilitärischen Arbeitseinheiten, die der direkten Kontrolle der Zentralregierung unterstehen. Kommt es zu uigurischen Aufständen, helfen sie dabei, diese niederzuschlagen.

Firmen von Hanchinesen, darunter auch die von ihnen dominierten staatlichen Öl- und Gasfirmen, machten in Xinjiang das große Geld, während die Uiguren zurückblieben und auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert würden, sagte Tohti. Der Economist führte einmal ein Interview mit dem Analysten Tang Lijiu, einem Hanchinesen. Uiguren, sagte dieser, seien wohl nicht besonders geeignet für die große industrielle Produktion. Man müsse vielleicht einfach über etwas anderes nachdenken, wie etwa Basketball. In den USA habe Basketball „doch auch mehr Arbeitsmöglichkeiten für Schwarze geschaffen“.

Die Regierung, sagte Tohti, wolle das Problem tatsächlich durch Entwicklung lösen, doch das System blockiere sich selbst. Die Netzwerke, das Unverständnis, das Misstrauen. „Von manchen Arbeitsfeldern sind Uiguren ohnehin ausgeschlossen, etwa dort, wo sie Waffen oder Sprengstoff in die Hände bekommen könnten“, sagte Tohti. Selbst uigurischen Polizisten sei es nicht erlaubt, Schusswaffen zu tragen. Für Tohti ist dieses System „ein Apartheidsystem“.

Mit seinen Aussagen hat sich der Regimekritiker bei der Regierung nicht beliebt gemacht. Er wurde wiederholt wochenlang unter Hausarrest gestellt. Bei einem Besuch im September sagte er: „In letzter Zeit werden die Methoden immer mafiamäßiger.“ Er berichtete damals von einem Auto, das seinen Wagen absichtlich gerammt habe, nachts wurde die Familie mit Daueranrufen terrorisiert.

Ende Oktober raste ein Jeep, der von einer uigurischen Familie gesteuert wurde, in eine Absperrung auf dem Tiananmen-Platz, die Familie setzte sich in Brand, es starben fünf Menschen. Peking machte uigurische Terroristen dafür verantwortlich, Tohti bezweifelte das. Danach wurde nicht nur die Überwachung in Xinjiang verschärft. Auch Tohtis Leben gestaltete sich immer schwieriger. Erneut rammte ihn ein Wagen, als sich seine Familie darin befand, einer der Männer drohte: „Wir werden deine ganze Familie umbringen.“ Am vergangenen Mittwoch wurde Ilham Tohti dann festgenommen.

Der uigurische Widerstand ist für die chinesische Regierung eines der größten Probleme überhaupt, droht er doch ihre ehrgeizigen Pläne in der Provinz zu durchkreuzen und ihre Herrschaft zu unterminieren. Zwar betreiben die Uiguren keine so erfolgreiche Lobbyarbeit wie die Tibeter – sie haben keinen Dalai Lama, keine Freunde in Hollywood und auch keine große weltweite Unterstützerbasis. Zudem ist es Peking gelungen, die natürlichen Verbündeten der Uiguren auf seine Seite zu ziehen: Mithilfe großzügiger Investitionen in zentralasiatischen Turkstaaten sowie der Türkei band Peking die dortigen Regierungen an sich. Auch die Gründung der Shanghai Cooperation Organisation, oft die Nato des Ostens genannt, in deren Zentrum China, Russland und die zentralasiatischen Länder stehen, diente aus Pekings Sicht in erster Linie dem Ziel, die Unterstützung der uigurischen Sache zu untergraben.

Immer wieder kommt es in Xingjiang zu gewaltsamen Aufständen der Uiguren

Doch während die Tibeter friedlich protestieren oder sich selbst anzünden, richten die Uiguren ihre Wut gegen den Staat. Immer wieder kommt es in Xinjiang zu gewaltsamen Aufständen mit Waffen und Bomben. Die Regierung spricht von mindestens sieben terroristischen Anschlägen und zwei Aufständen in Xinjiang im Jahr 2013, die Dutzende Tote zur Folge hatten.

Früher galten die Aufständischen Peking als Separatisten, seit 2001 spricht die Regierung in erster Linie von Terroristen und reiht ihre Bekämpfung damit rhetorisch in den weltweiten Kampf gegen den Terror ein.

Tatsächlich gibt es uigurische Terroristen. 2001 erklärte die amerikanische Regierung, und später taten es auch die UN, die Eastern Turkestan Islamic Movement zur terroristischen Organisation. 22 Uiguren saßen in Guantánamo ein, wurden später jedoch freigelassen. Unabhängige Experten wie der amerikanische Wissenschaftler Gardiner Bovingdon bezweifeln jedoch, dass Terroristen für die Mehrheit der Aufstände verantwortlich sind. Zu schlecht organisiert und ausgerüstet seien die Aufständischen, sie ziehen oft nur mit Sicheln und Säbeln los. Bovingdon glaubt, dass es sich meist um spontanen Widerstand gegen die repressive chinesische Herrschaft handelt.

Der Parteisekretär von Kashgar wird nicht gern auf die Unruhen angesprochen. Die Schlagzeilen schrecken Touristen und Investoren ab, sie gefährden seine Pläne. „Das ist alles übertrieben. Ich habe hier nie Leibwächter, und am liebsten bringe ich unsere Gäste abends zum Nachtmarkt, damit sie dort einen Lammspieß essen, ein Bier trinken und sehen, wie friedlich alles ist. Unser Volk ist sehr einfach und lieb, es hat Sehnsucht nach Stabilität und Frieden.“ Ihrer Kultur könnten die Menschen ganz frei nachgehen.

Der Parteisekretär will seine Stadt von der Sonnenseite präsentieren und stellt dafür Dutzende Mitarbeiter ab. Nachts aber bekommen wir die andere Seite seiner Herrschaft zu spüren.

Der Parteisekretär möchte uns gerne ein Projekt vorstellen, das ihm besonders am Herzen liegt: den, so nennt er das, „Umbau“ der Altstadt Kashgars. Der soll den Ort zur Touristenattraktion machen, den Einwohnern bessere Lebensbedingungen bieten, ihnen Arbeit verschaffen, im Tourismus. Die Altstadt Kashgars ist ein beeindruckender Kosmos: Lehmhäuser, die sich in abenteuerlicher Höhe aufeinanderstapeln, Stromkabel, die sich gleich Lianen über Dächer und Gassen ziehen. Sie ist ein einzigartiges Kulturerbe, ein besonders gut erhaltenes Exemplar zentralasiatischer Lehmbauarchitektur. Oder besser: Sie war es.

Altstadtgassen weichen geraden Straßen – die lassen sich besser überwachen

Die Beamten eilen durch die Altstadt, Gürtel auf Bauchnabelhöhe, Lederschuhe im Staub. Sie sind gekommen, den Abriss zu besichtigen. Einer der Beamten hebt, zwischen Ruinen stehend, zu einer Rede an: „Das Abrisstempo ist hoch, doch es muss noch höher werden. Je schneller wir abreißen, desto besser.“ Der Beamte betet Zahlen herunter: abgerissene Häuser, im Abriss befindliche Häuser, abzureißende Häuser. „Unser Tempo und unsere Begeisterung sind gewachsen. Wir werden den Plan erfüllen!“

Der „Umbau“ der Stadt, das ist ihr Abriss. Die Häuser sollen aus Beton im pseudouigurischen Stil wieder aufgebaut werden, das soll der Erdbebensicherheit dienen. Sie haben Wasser-, Strom-, Gas- und Telefonanschluss. Jedes neu gebaute Haus werde gemeinsam mit den Besitzern geplant, erzählt man uns, es gebe so gut wie keinen Widerstand. Kritiker hingegen beklagen den Totalabriss eines jahrtausendealten Kulturerbes und argwöhnen, das Projekt diene der Regierung nur dazu, die uigurische Bevölkerung besser überwachen zu können: Das Wirrwarr der Gässchen wird breiten, geraden Straßenzügen weichen.

Shi Shixiong, Manager des Projekts Altstadt-Reform, präsentiert stolz den uigurischen Stuck, der neue Betonwände ziert. „Das haben chinesische und uigurische Designer zusammen entworfen. Weiter hinten, wo es keiner mehr sieht, brauchen wir die Deko nicht mehr, da kommt nur Isoliermaterial ran.“ Er zeigt Straßenzüge, in denen ein Haus dem anderen gleicht, ein Restaurant, das eine uigurische Teekanne auf dem Dach trägt, „weil die Uiguren doch gerne aus solchen Kannen Tee trinken“. Früher sei Kashgar keine so typisch uigurische Stadt gewesen, sagt er, „wir holen den Stil erst richtig heraus“.

Erhalten werden sollen nur noch zwei Teile der Altstadt. Aber „wer weiß“, sagt Herr Shi, „vielleicht reißen wir die auch noch ab“. Dann wird endlich alles sicher sein. Vor den Erdbeben. Auch wenn es, sagt Herr Shi auf Nachfrage, in Kashgar in Jahrtausenden nie ein Erdbeben gegeben habe. Wohl aber in einer Stadt 40 Kilometer entfernt.

Abends dann wollen wir noch einmal unbeobachtet in die Altstadt fahren und ungestört Interviews führen. Wir lassen die Mobiltelefone im Hotel, wechseln ein paarmal die Taxis. Ein paar Bewohner zeigen sich erfreut, in neuen Häusern zu wohnen, ein Student der uigurischen Kultur winkt jedoch ab, „mit unserer Kultur hat das nichts zu tun, die bauen, was Hanchinesen gefällt“. Viele aber wollen nicht mit uns sprechen, einige sagen: „Das ist zu sensibel.“

Nachts versuchen die Männer von der Sicherheit uns im Hotel einzuschüchtern

Nachts, nach der Rückkehr, wartet man schon auf uns. Am Nachmittag waren bereits muskulöse Kerle im Minutentakt vor dem Hotelzimmer auf und ab gegangen. Doch erst nachts machen sie sich an die Arbeit. Rufen ununterbrochen an, klopfen, tun, als wollten sie die Hoteltüren aufbrechen. An der Rezeption sagt man: „Auf den Videokameras ist nichts zu sehen.“ Das Theater geht bis in die frühen Morgenstunden. Am nächsten Morgen hören wir, wie ein Hotelmanager, der sich unbeobachtet fühlt, zu seiner Kollegin sagt: „Da kann man nichts machen, die kommen von der Sicherheit.“

Später erzählt ein junger Mann, 24, von seiner neuen Arbeitsstelle als Wächter in einem Hotel. Er ist einer von jenen, derer sich der Parteisekretär rühmen würde: Der Tourismus hat ihm einen Job gebracht.

Der Junge hat weiche Augen und unendlich lange Wimpern. Er hat sich für das Treffen extra schön gemacht, sich die Haare in einer Welle rund um das Haupt föhnen lassen, in irgendeinem Zeitalter muss das modern gewesen sein. Er hat drei Brüder, der Vater ist arbeitslos, wie viele Uiguren. Er ist der Hauptverdiener und muss für die Ausbildung der beiden jüngeren Geschwister sorgen. Ein Jahr lang war er auf Arbeitssuche. Er bekommt für seinen Vollzeitjob im Hotel, mit Tag- und Nachtschicht, 2000 Yuan im Monat, umgerechnet 240 Euro. Er weiß, dass er als Uigure immer weniger verdienen wird als ein Han: „Für einen Job, für den ein Han 400 oder 500 Yuan bekommt, erhält ein Uigure 200.“ Er sagt das gar nicht wütend, die Dinge seien eben so, er müsse mehr an sich arbeiten.

Eigentlich hat der junge Hotelangestellte auch nur einen Traum, den er gern erfüllt wüsste: Er möchte heiraten. „Doch für eine Hochzeit brauche ich mindestens 500.000 Yuan, etwa 60.000 Euro“, sagt er und beginnt zu rechnen. 500.000 geteilt durch 2000. Er seufzt. „Es wird einfach entsetzlich lange dauern, bis ich so viel Geld zusammenhabe.“

Veröffentlicht am 23. Januar 2014