Immer auf die Kleinen

Wu Youming war 13 Jahre lang bei der chinesischen Polizei. Jetzt gibt er Einblick in ihr Innenleben

Ein Samstagnachmittag im Künstlerdorf Songzhuang, das zu Peking gehört. Eigentlich sollte hier heute ein Filmfest stattfinden, doch nun wurde es verboten. Die Polizei hat den Veranstaltungsort weiträumig abgeriegelt und große Mülltonnen vor die Eingänge geschoben. Wagen der Staatssicherheit stehen in den Nebenstraßen. Im Schatten der Bäume warten einige Dutzend Kerle in Zivil, Hände groß wie Mistgabeln, fiese Visagen. Auf der anderen Straßenseite haben sich die Filmleute versammelt, sie protestieren und wollen sich den Polizeieinsatz nicht einfach bieten lassen.

Wu Youming schlappt in seinen Ledersandalen vorbei, mustert die Szene und lacht: „Soso.“

Wie ein Sportreporter analysiert der 41-Jährige die Aufstellung der Einsatzkräfte: „Also, die Kerle da vorn in Zivil, das sind Bauern, von der Polizei für 100 Yuan am Tag engagiert“ – umgerechnet sind das 12,50 Euro. Die Polizei selbst dürfe ja niemanden schlagen, sagt Wu, also müssten andere die Drecksarbeit machen. „Die Mülltonnen sind die Barrikaden. Und der Typ da vorn im grünen Hemd, der ist vom Landesschutz. Hat mich früher öfter mal besucht und gewarnt, ich müsse vorsichtiger sein. Jetzt, wo ich ein Kind habe, kommt er nicht mehr so oft vorbei. Glaubt wohl, ich sei harmlos geworden.“

Wu lacht erneut, es ist ein besonderes Lachen, laut und ehrlich amüsiert, und hätte es nicht diese leicht sarkastische Note, man könnte Wu glatt für einen ehemaligen Mönch halten: Er hat eine Glatze, sein Gesicht ist rund, und seine Haut wirkt so weich, wie man sie sonst manchmal bei Menschen antreffen kann, die froh und gesund im Kloster leben. Wu war aber noch nie Mönch. Polizeibeamter war er, so, wie die Männer drüben auf der anderen Seite. Bis man ihn feuerte. Über diese Zeit hat er ein Buch geschrieben, es heißt 13 Jahre als Polizist. Er hat es im Eigenverlag herausgebracht, weil er wusste, dass es ohnehin nicht durch die Zensur kommen würde. Wu gibt es an Freunde und Interessierte weiter.

Ein Samstagnachmittag im Künstlerdorf Songzhuang, das zu Peking gehört. Eigentlich sollte hier heute ein Filmfest stattfinden, doch nun wurde es verboten. Die Polizei hat den Veranstaltungsort weiträumig abgeriegelt und große Mülltonnen vor die Eingänge geschoben. Wagen der Staatssicherheit stehen in den Nebenstraßen. Im Schatten der Bäume warten einige Dutzend Kerle in Zivil, Hände groß wie Mistgabeln, fiese Visagen. Auf der anderen Straßenseite haben sich die Filmleute versammelt, sie protestieren und wollen sich den Polizeieinsatz nicht einfach bieten lassen.

Wu Youming schlappt in seinen Ledersandalen vorbei, mustert die Szene und lacht: „Soso.“

Wie ein Sportreporter analysiert der 41-Jährige die Aufstellung der Einsatzkräfte: „Also, die Kerle da vorn in Zivil, das sind Bauern, von der Polizei für 100 Yuan am Tag engagiert“ – umgerechnet sind das 12,50 Euro. Die Polizei selbst dürfe ja niemanden schlagen, sagt Wu, also müssten andere die Drecksarbeit machen. „Die Mülltonnen sind die Barrikaden. Und der Typ da vorn im grünen Hemd, der ist vom Landesschutz. Hat mich früher öfter mal besucht und gewarnt, ich müsse vorsichtiger sein. Jetzt, wo ich ein Kind habe, kommt er nicht mehr so oft vorbei. Glaubt wohl, ich sei harmlos geworden.“

Wu lacht erneut, es ist ein besonderes Lachen, laut und ehrlich amüsiert, und hätte es nicht diese leicht sarkastische Note, man könnte Wu glatt für einen ehemaligen Mönch halten: Er hat eine Glatze, sein Gesicht ist rund, und seine Haut wirkt so weich, wie man sie sonst manchmal bei Menschen antreffen kann, die froh und gesund im Kloster leben. Wu war aber noch nie Mönch. Polizeibeamter war er, so, wie die Männer drüben auf der anderen Seite. Bis man ihn feuerte. Über diese Zeit hat er ein Buch geschrieben, es heißt 13 Jahre als Polizist. Er hat es im Eigenverlag herausgebracht, weil er wusste, dass es ohnehin nicht durch die Zensur kommen würde. Wu gibt es an Freunde und Interessierte weiter.

Ihren Ruf hat sie nicht von ungefähr. Da war zum Beispiel die Geschichte des 28-jährigen Yang Jia, die vor sechs Jahren durch die Medien ging. Yang hatte neun Polizisten niedergestochen, nachdem er auf einer Wache in Shanghai misshandelt worden war – man hatte ihn des Fahrraddiebstahls verdächtigt. Yang wurde hingerichtet. Da war er aber schon ein Volksheld geworden. Seine Fans liefen die Bergwege ab, die er früher gerne entlanggewandert war. Das war eine massenhafte Misstrauenserklärung an eine Polizei, die oft zuschlug und sich schamlos bereicherte.

Immer wieder starben Menschen in Untersuchungshaft. Die Polizei sprach dann meist von einem überraschenden Herzinfarkt und versuchte, den Leichnam schnell einäschern zu lassen. Wenn Familienangehörige auf einer Obduktion bestanden, fanden sich zuweilen schwere Folterwunden. Nein, die Polizei hatte keinen guten Ruf, als Wu Youming Polizist wurde.

Die Polizei ist in China ein eigener Kosmos

Von diesem Beruf hatte er auch nie geträumt. Geboren wurde er in einem Vorort von Huangshi, einer Einmillionenstadt an den Ufern des Jangtse. Wu war nicht gut in der Schule, nach ein paar Jahren brach er das Gymnasium ab. Am liebsten hätte er einen Klamottenladen aufgemacht, doch der Vater sagte: „Kommt nicht infrage, du machst was Bodenständiges, etwas mit Hand und Fuß.“

Also begann Wu im Jahr 1991 zunächst als chengguan zu arbeiten, als Straßenkontrolleur für die Stadtverwaltung. In dieser Funktion musste er zum Beispiel die Waren der Bauern konfiszieren, die auf der Straße ohne Erlaubnis ihr Obst verkauften. „Das ging gegen mein Gewissen, ich fühlte mich wie ein Dieb.“

Eines Tages entdeckte er die interne Ausschreibung für einen Job als Polizist. „Meinetwegen“, dachte er sich, „immerhin ist das Gehalt besser.“ Das belief sich auf 600 Yuan im Monat, nach dem damaligen Umrechnungskurs 70 Dollar, zu diesen Zeiten nicht schlecht.

Doch der Job war anders, als Wu ihn sich vorgestellt hatte. „Anfangs ging ich auf Streife. Unsere Hauptaufgabe war, Strafzettel zu verteilen. Jeder von uns sollte 1500 Yuan im Monat einnehmen. Schafften wir das nicht, wurde uns etwas vom Gehalt abgezogen.“ Die Strafgebühren füllten die Haushaltskasse der Polizei, damit wurden dann zum Beispiel die Handyrechnungen der Chefs beglichen.

Nur leider gab es in einem Vorort wie dem, wo Wu Streife lief, nicht ausreichend Strafzettel zu vergeben. „Wir hatten anfangs nicht mal ein Bordell. Der Job verlangte also eine gewisse Kreativität.“ Oft legten sie sich beispielsweise an einem dunklen Platz gegenüber der Autobahn auf die Lauer. Dort parkten die Paare, die nicht gesehen werden wollten. „Meistens ging es dabei nicht um Prostitution, in siebzig Prozent der Fälle waren es einfach Fremdgänger.“

Fürs Fremdgehen konnte man zwar keinen Strafzettel ausstellen, doch die Beamten hatten so ihre Methoden. „Erwischten wir welche, drohten wir, sie mit uns auf die Wache zu nehmen, ein Protokoll aufzunehmen, die Familie anzurufen. Den Leuten war das natürlich wahnsinnig peinlich. Die zahlten lieber gleich.“

Auch das inoffizielle Strafgeld kam in die Haushaltskasse der Polizei, der Polizist selbst durfte zehn Prozent der Summe einstecken. Alles zu nehmen wäre undenkbar gewesen, sagt Wu. „Hätte ja sein können, dass ein hohes Tier bei meinem Chef anruft und sagt: ›Bruder, musstest du mir so viel abknüpfen?‹ Wenn mein Chef dann nichts gewusst hätte, hätte ich gewaltigen Ärger bekommen.“

Schon bald kannte Wu die qian guize seines Metiers, die ungeschriebenen Regeln. Eine davon lautete: Die Großen kommen immer davon.

„Die Polizeichefs und die Chefs der lokalen Mafia waren beste Freunde. Es war ein Geschäft, von dem alle profitierten. Als das neue Bordell aufmachte, sagte unser Chef: ›Da geht ihr mir nicht hin. Das gehört meinem Freund.‹ Als der Mafiaboss ein neues Hotel mit Saunaclub eröffnet, schickten vier Polizeichefs Blumenkörbe mit ihren Namen darauf.“ Solche Erlebnisse seien keine Sonderfälle, sagt Wu. „Im ganzen Land war das damals ähnlich, das Polizeisystem ist überall das gleiche.“ Mag sein, dass die seit einem guten Jahr betriebene, große Antikorruptionskampagne einiges erreicht habe, „ganz ausrotten lässt die Korruption sich sicher nicht“.

Die Polizei ist in China ein eigener Kosmos. Um einen mächtigen, KGB-artigen Dienst zu vermeiden, der politisch gefährlich werden könnte, hält sich Chinas Führung lieber lokal organisierte Kräfte. Das allerdings bringt den Nachteil mit sich, dass die lokale Polizei oft in lohnender Eintracht mit den Mafiabossen am Ort zusammenarbeitet.

Im Grunde gibt es in China also nicht eine einzige Polizei, sondern eine ganze Reihe von Diensten und Polizeitruppen. Die einen sind zivil, die anderen paramilitärisch organisiert, darüber hinaus engagieren Polizeieinheiten bisweilen eigene Trupps, die oft nicht ausgebildet sind. Arme Bauern zumeist, die gegen ihresgleichen vorgehen müssen.

„Das Gesetz trifft immer die Kleinen“, sagt Wu. Die kleine Landprostituierte oder den Wanderarbeiter, der seit Monaten kein Gehalt bekommen und deswegen in seiner Fabrik Stahl gestohlen hat. „Oft hatten wir Mitleid mit denen, die wir festnehmen mussten. Manchmal versuchten wir, beide Augen zuzudrücken.“

Da war etwa der alte mittellose Freier, der kein Geld für den Strafzettel hatte, sie ließen ihn den Boden in der Wache putzen. „Wir sagten ihm immer wieder, ›Geh und kauf Wasser‹, damit er wegrennen konnte. Doch, meine Güte, war er so ehrlich oder so dumm, er kam jedes Mal wieder zurück. Beim dritten Mal schrien wir ihn an, ›Scheiße noch mal, hau doch endlich ab!‹“

Solche Gesten der Mitmenschlichkeit gingen Hand in Hand mit selbstverständlicher Brutalität. Es war den Polizisten verboten, Menschen zu schlagen, „doch natürlich taten wir das, das machte ja auch der Chef“. Einmal schlugen sie eine Prostituierte grün und blau. Hinterher wollte sie sich mit einem Brief bei der Führung in Peking beschweren, doch das Schreiben wurde von der Polizei abgefangen. „Unser Chef sagte damals: ›Wenn ihr jemanden aus Arbeitsgründen schlagt, dann beschütze ich euch.‹“ Es gab, sagt Wu, viele Möglichkeiten, einen Verdächtigen auf der Wache zu quälen: „Schlagen, treten, an den Handgelenken in der Luft aufhängen, ihn nicht aufs Klo gehen lassen.“ Auch Wu schlug und trat, „und wenn ich das tat, hatte ich kein Mitleid“.

Fanden sie keine Beweise, dann vermieden sie trotzdem, die Festgenommenen offiziell freizulassen. „Vielleicht hätten sie dann eine Entschädigung verlangt. Wir öffneten einfach die Tür, taten, als sähen wir sie nicht, und ließen sie laufen.“

Wu und seine Kollegen konnten einen Verdächtigen ganz ohne Beweise einen Monat lang wegsperren. Und noch einen. Und noch einen. „Einmal wurde einer elf Monate lang im Gefängnis vergessen. Wir studierten den Fall damals in internen Unterrichtsmaterialien. Unser Chef sagte: ›Passt auf, dass euch das nicht passiert, schaut ab und zu mal in eure Schubladen.‹“

Wus Job war nicht ungefährlich. Im Normalfall habe das Volk die Polizei respektiert, sagt er, „doch das änderte sich dramatisch, sobald es zu Massenaufständen kam“. Im Jahr 2005 wurde Huangshi, wo Wu Dienst tat, von einem Volksaufstand erfasst, 10.000 Menschen gingen auf die Straße. Ein Vorort sollte eingemeindet werden, das hätte die Interessen der lokalen Geschäftsleute bedroht, die wiederum stachelten die Bevölkerung auf. Das erzürnte Volk besetzte die Stadtverwaltung. Protestierende kaperten Busse und blockierten Kreuzungen, sie zerstörten Mautstationen und verprügelten Polizisten. „Ich fuhr auf dem Motorrad in die Innenstadt“, berichtet Wu, „als ich die Menschenmenge sah. Ein paar Jugendliche stürmten auf mich zu. Sie schlugen die Windschutzscheibe ein, knallten einen Pflasterstein auf meinen Helm, boxten mit der Faust auf mein linkes Auge. Einen Moment lang war ich bewusstlos. Als einer mit einem Holzknüppel auf meinen Helm schlug, rannte ich weg.“ Er floh ins Krankenhaus, dort lagen verletzte Kollegen, ein paar hatte es schlimm erwischt. „Da kam unser Chef zu uns, schüttelte uns die Hand und sagte: ›Habt keine Angst, ihr seid noch immer unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei.‹“

„Die Regierung behandelt die Menschen wie Kinder“

Wu lacht sein sarkastisches Lachen, dann wird er ernst: „Wenn irgendetwas passiert, sind wir Polizisten die Ersten, die rausmüssen und Blutzoll zu entrichten haben. Doch meistens haben wir keine Ahnung, was eigentlich los ist. Die Regierung behandelt die Menschen wie Kinder. Sie hört nicht auf sie, wen wundert es da, dass sie sich erheben. Es ist als Polizei doch nicht unsere Aufgabe, uns gegen das Volk zu stellen.“

Im Jahr 2007 schrieb Wu zwei Briefe an den damaligen Premierminister Zhu Rongji. Er beschwerte sich darüber, dass die Polizei oft Bittsteller, die nach Peking reisen wollten, um gegen erlittenes Unrecht zu klagen, festhalte und in illegale Gefängnisse stecke. Tatsächlich existieren Rechtsvorschriften, die Bittsteller schützen sollen, oft aber behindert sie die Polizei im Auftrag der lokalen Regierungen, weil diese fürchten, in Peking in schlechtem Licht dazustehen. Wus Briefe wurden von der Polizei abgefangen. „Sie sagten mir: ›So etwas macht ein Polizist nicht‹, und schmissen mich raus.“

Viele Jahre lang war Wu danach arbeitslos. Heute bringt er sein selbst verlegtes Magazin Wasserblase heraus, das sich der Kunst, der Poesie und der Gesellschaft widmet. Acht Jahre lang schrieb er an seinem Buch über die Zeit bei der Polizei, neuerdings arbeitet er für ein Online-Kunstauktionshaus.

Wu will jetzt nach Hause gehen und wirft einen letzten Blick auf den Polizeieinsatz vor dem Kino, „arme Schweine“ scheint der Blick zu sagen, dann geht Wu von dannen.

Veröffentlicht in Die Zeit am 5. Oktober 2014