Die Geisterhochzeit

Ein junger Chinese stirbt, unverheiratet. Allein im Totenreich – das geht nicht, glaubt seine Familie und sucht ihm eine Frau

Nie hat er ihr Lachen gehört, nie hat sie sich in seinen Augen verloren. Im Leben sind sich der Junge und das Mädchen nie begegnet, im Tod sollen sie vereint sein. Ihre Vermählung wird heute stattfinden, an ihrem gemeinsamen Grab.

Es ist fünf Uhr morgens, mit raschen Schritten läuft Yang Xiong einen Schlammweg entlang. Yang, ein kleiner, drahtiger Mann Anfang 50, ist Feng-Shui-Meister. Er hat in dieser Nacht schon ein Päckchen Zigaretten geraucht, eine steckt noch in seinem Mund, eine andere hinter seinem Ohr, gleich wird er sich die neue an der alten anzünden. Es ist dunkel, nur gelegentlich tauchen Scheinwerfer vorüberfahrender Autos den Weg, der auf eine Anhöhe führt, in gleißendes Licht. Rauchende Männer stehen am Wegesrand, die Gesichter vor der Zeit gealtert. Sie schauen und sagen kein Wort.

Yang ist um halb drei in der Nacht in der Kreisstadt Yanchuan aufgebrochen, einem tristen Ort in der zentralchinesischen Provinz Shaanxi. Seine Dienstleistungen umfassen: »Prüfung eines Heiratskandidaten unter astrologischen Gesichtspunkten. Wahl eines Glück verheißenden Hochzeitsdatums. Auswahl des besten Standorts für Wohnhäuser, Läden oder Gräber gemäß Feng-Shui-Prinzipien. Begräbnisse und Geisterhochzeiten.« Mit der Auswahl eines Grabes, einem Begräbnis und einer Geisterhochzeit hat ihn die Familie des verstorbenen Li Xianying betraut. Da Geisterhochzeiten im modernen China nicht gern gesehen sind, möchten die Familie und andere Trauernde nicht mit ihrem echten Namen genannt werden.

Yang erreicht das Ende des Weges, er nickt zwei Musikern zu, die im Staub kauern. Einer hält eine Trom- mel, der andere eine Suona, eine Art traditioneller chinesischer Oboe. Er passiert die kleinen windschiefen Hütten, in denen Wanderarbeiter hausen, gleich dahinter liegt die Leichenhalle, dort schlafen die Toten. Hier hat Li Xianying darauf gewartet, dass sie eine Braut für ihn finden.

Feng-Shui Meister Yang blickt über Yanchuan @ Stefanie Schweiger

Ein halbes Dutzend Männer wuchtet Xianyings hölzernen Sarg auf die offene Ladefläche eines Transporters, wo schon ein zweiter Sarg steht. Mit Besen und Schippe streicht der Feng-Shui-Meister in der Leichenhalle über die verwaiste Totenbahre, er flüstert Unverständliches, in der Sprache der Geister, er nimmt die Seele des Toten auf. Dann tritt er hinter den Transportwagen, klopft mit einem kleinen Beil auf dessen Hinterseite, er bedeutet den Seelen, loszufahren. Macht euch auf die Reise – die Reise in die Unterwelt.

Ruckelnd setzt sich der Wagen in Bewegung. Mutter und Schwester des Toten knien auf der Ladefläche vor den Särgen, sie bewegen den Körper im Rhythmus ihres Weinens und Wehklagens. Den ganzen Weg lang werden sie klagen, 40 Kilometer weit. Der Wind trägt ihre Trauer über Hügel und Felder in den Morgen hinein.

Li Xianying, der Bräutigam, war einer, der nie auf irgendjemand hörte, sagt sein Onkel Li Yinyan. Machte einfach, was er wollte. Mit 13 schmiss er die Schule und lernte erst Koch, dann Fensterbauer. Zur Arbeit war er nicht geboren. »Drei Tage fischen, zwei Tage das Netz in der Sonne hängen lassen«, so sei er gewesen, sagt der Onkel. Am liebsten hing er in Internetbars rum und spielte Computerspiele. Fast immer kam er zu spät nach Hause. Sein bester Freund sagt, er sei einer gewesen, der das Leben schöner macht. Großzügig und immer zu Späßen aufgelegt. »Seit er weg ist, fehlt etwas. Als mangele es einer Speise plötzlich an einer wichtigen Zutat.«

Xianying starb mit 17 Jahren. Am Tag des Drachenbootfestes, dem 12. Juni, wollte er mit ein paar Freunden in die Stadt fahren, um sich zu amüsieren. Zu fünft oder sechst saßen sie auf der Ladefläche eines dreirädrigen Minitransporters des Fenstermacherbetriebs, für den Xianying arbeitete. Sie lachten und scherzten. Sie überquerten die Brücke, die sich über den breiten Fluss spannt, bogen dahinter scharf nach rechts auf die Überlandstraße. Dort, wo die Regierung ein riesiges Propagandaplakat angebracht hat: glücklich lächelnde Familie vor moderner Stadt, dazu der Schriftzug »Achtet auf Gesundheit im Fortpflanzungsprozess, verbessert die Lebensqualität«. In der Kurve geriet das Fahrzeug ins Schleudern, die Passagiere stürzten hinunter. Xianying stand gleich wieder auf, er hielt sich den Kopf. Er sei okay, beschwichtigte er die Freunde, nur ein bisschen Kopfweh. Das war mittags um zwölf.

Als sie in der Stadt die Wohnung eines Freundes erreichten, legte sich Xianying aufs Bett. Er wollte nicht mehr aufstehen, die Freunde machten sich Sorgen und brachten ihn in eine kleine Privatklinik. Der Arzt sagte: Seine Pupillen sind übergroß. Kein gutes Zeichen. Die Jugendlichen bekamen Angst und flohen. Der Arzt brachte Xianying ins städtische Krankenhaus. Dort wusste niemand, wer er war, und keiner erklärte sich bereit zu zahlen. Später erkannte ihn eine Krankenschwester, eine frühere Nachbarin, sie verständigte die Familie. Xianying war noch bei Bewusstsein, als seine Angehörigen eintrafen, er konnte noch mit dem Kopf nicken, wenn man seinen Namen rief. Da war es zehn vor drei.

Gehirnblutung, sagte der Arzt, wir können ihm hier nicht helfen. Die Familie mietete einen Krankenwagen, fuhr in die nächstgrößere Stadt Yanan. Als sie ankamen, war es bereits nach vier am Nachmittag. Zu spät, hieß es, man könne nichts mehr tun. Li Xianying starb um halb zwei nachts. »Wenn wir es nur früher gewusst hätten. Wir hätten ihn retten können«, sagt Li Yinyan, sein Onkel.

Die kleine Karawane mit den Särgen zieht über Lössberge, von Zypressen bewachsen, vorbei an gelben Schluchten. Irgendwo hinter den Wolken geht die Sonne auf. Feuerwerkskörper zerreißen die Stille, von den Trauergästen aus den Autofenstern geworfen, um den Seelen den Weg zu bahnen. Sie werfen auch Totengeld, extra angefertigte Papierscheine, auf dass die Geister, die den Trauerzug am Wegrand beobachten, sie in Frieden ziehen lassen. Als entrichtete man Maut an der Autobahn.

Nach Xianyings Tod zahlte die Fenstermacherfirma 360 000 Yuan Entschädigung. Denn mit 17 Jahren hätte er offiziell noch gar nicht arbeiten dürfen. Außerdem gehörte der Firma das verunglückte Dreirad. 360 000 Yuan sind umgerechnet mehr als 43 000 Euro. Eine Menge Geld für eine Familie wie die von Xianying. In den letzten Jahren war ihnen das Pech auf den Fersen. Man muss nur in das Gesicht des Onkels und Familienoberhauptes schauen, Li Yinyan. Tiefe Ringe unter den Augen, das Gesicht zerfurcht von Sorgen, dünnes, schwarz gefärbtes Haar. Früher war der 42-Jährige Bauunternehmer, es lief nicht schlecht, bis seine Auftraggeber nicht mehr bezahlten, sagt er. Die Lokalregierung ließ ihn Straßen bauen, doch als er die Rechnung einreichte, hätten die Auftraggeber nur freundlich mit den Schultern gezuckt. Die Pleite war unvermeidlich, ihm blieb nicht mehr als eine winzige Autowaschanlage, eigentlich nur ein Schlauch und eine Garage.

Was hätten sie mit 360 000 Yuan nicht alles machen können? Ein Geschäft eröffnen. Ein Auto kaufen. Das alte Bauernhaus der Familie renovieren. Stattdessen beschlossen sie, eine weibliche Leiche zu kaufen. »Ein verstorbener Mann, der älter ist als zwölf und nicht verheiratet, braucht eine Geisterhochzeit. Alle hier an den Ufern des Gelben Flusses halten das so«, erklärt Li Yinyan. Ein Toter, der allein das Jenseits durchstreift, könnte unglücklich werden, glaubt man hier. Denn Mann und Frau gehören zusammen. Im Leben wie im Tod. Und ein Toter, der unglücklich ist, könnte als Geist zurückkommen und Unglück über die Familie bringen.

Diese Form der Geisterhochzeit ist in den Provinzen Shanxi und Shaanxi verbreitet, anderswo sieht sie ganz anders aus, an vielen Orten gibt es sie gar nicht. Die chinesischen Vorstellungen vom Jenseits sind sehr viel komplizierter als im Westen. Buddhistische und daoistische Elemente haben sich mit dem Volksglauben vermengt, so ist eine Mischung entstanden, die auch Widersprüchliches vereint, wie den Glauben an verschiedene Himmel und Höllen, an Reinkarnation und an Geister. Widersprüchlich ist auch das Verhältnis zu den Toten: Zwar stellt man den Verstorbenen in den ersten drei Jahren nach ihrem Tod am Frühlingsfest Stuhl, Schale und Stäbchen hin, damit sie gemeinsam mit der Familie speisen können. Sonst aber fürchten die Chinesen die Rückkehr der Toten. Kommt plötzlich Unglück oder Krankheit über eine Familie, vermuten viele, der Geist eines Verstorbenen suche sie heim. Taucht ein Toter in den Träumen eines Familien- angehörigen auf, gilt das als Zeichen dafür, dass er im Jenseits nicht glücklich sei, dass ihm etwas fehle, er etwa Totengeld benötige. Aus diesem Glauben speist sich auch die Tradition der Geisterhochzeit.

Geisterhochzeiten gibt es seit mehr als 3000 Jahren. Die erste historisch belegte Heirat von Verstorbenen ist die von Fu Hao, einer berühmten Königin der Shang- Dynastie, die um 1190 vor Christus starb. Den Inschrif- ten und Grabbeigaben entnahmen die Archäologen, dass Fu Haos Ehemann sehr traurig gewesen sein muss, als sie verstarb. Er fürchtete, sie könnte im Jenseits einsam sein, und gab ihr einen Geisterehemann mit auf die Reise. »Die Chinesen glauben, sie leben im Jenseits im Grunde genau wie vorher. Also brauchen die Toten all das, was sie auch auf der Welt benötigen. Es ist Aufgabe der Lebenden, ihnen das mitzugeben«, sagt Professor Huang Jingchun. Er ist Experte für chinesische Riten an der Shanghai-Universität. In den alten Kaisergräbern hat man Tonrepliken von Hunden, Schafen und Schweinen, von Musikern und Artisten, Soldaten und Pferden gefunden. Manchmal mussten die Konkubinen eines Kaisers sterben, um ihn ins Jenseits zu begleiten. Früher gab man den Toten auch eine Art Grabkaufvertrag aus Stein mit ins Grab, damit andere Tote nicht in ihre Gruft eindrangen und die Geister genau wussten, wo sie hingehörten – nach unten und nicht nach oben, in die Welt der Lebenden. Auch wenn die Angst vor den Geistern durch die Modernisierung in den Städten verblasst, ist die Furcht auf dem Land noch immer ausgeprägt. Noch heute verbrennen Chinesen eigens auf Reispapier gedrucktes Totengeld, sogar Geister- iPhones aus Papier gehen für ihre verstorbenen Verwandten in Flammen auf, und sie feiern nach wie vor Geisterhochzeiten, nur spricht man nicht gern darüber, denn im modernen China haben sie keinen guten Ruf.

Der Trauerzug schlängelt sich durch weiche Hügel in das Heimatdorf des Toten hinein. Ein Weiler wie von der Zeit vergessen. Die Bauern haben Wohnhöhlen in die Lösserde gegraben, sie ausgemauert, mit Holzfenstern und Türen versehen. Die Erde spendet in den kalten Wintertagen Wärme, im Sommer Kühle. Still stehen die Bauern vor ihren Häusern, alte Frauen, junge Männer, sie verbrennen Stroh gegen das Böse, damit die toten Seelen nicht in ihre Häuser kommen. Keiner wird heute arbeiten, alle trauern sie mit der Familie. Das Dorf ist arm, die Menschen hier leben vom Ertrag karger Felder und von roten Datteln, die sie verkaufen, doch in den letzten drei Jahren war die Ernte schlecht. Ein Mann putzt sich auf der Straße kauernd die Zähne, ein Hund schaut dabei zu.

Der Feng-Shui-Meister steigt aus dem Wagen, er schreitet den Feldweg entlang zu dem Grab, dessen Standort er bestimmt hat. Das Yin, die weibliche Energie, muss dort besonders stark sein, denn Yin steht für Ruhe, Kälte, Mond, Stille, Tod. Der Gegenpol zu Yang – Sonne, Leben, Kraft, Männlichkeit. Beides gehört zum Leben, ergänzt sich, schließt den Kreis.

Feng-Shui ist keine Wissenschaft, es ist in Jahrtausenden gewachsen, kennt unzählige Praktiken, Schulen, Unterarten. Immer aber geht es um die Harmonie des Menschen mit seiner Umgebung, sei der Mensch nun lebendig oder tot. Acht Generationen von Feng-Shui- Meistern hat Yangs Familie hervorgebracht, der Sohn lernte vom Vater und gab das Wissen an den eigenen Sohn weiter. Am schwersten hatte es Yangs Vater. Er erlebte die Zeit der Kulturrevolution, als die Kommunistische Partei Feng-Shui ausmerzen wollte, es galt ihr als feudales Übel, als Aberglaube einer verkommenen Zeit. Tag für Tag wurde Yangs Vater beschimpft und gedemütigt. Am Abend aber ließen ihn jene, die ihn am Tag bekämpften, heimlich kommen, damit er ihnen geeignete Orte für ihre Gräber suchte. Denn selbst die überzeugtesten Kommunisten fürchteten die Macht der Geister. »Jetzt kümmert sich die Politik nicht mehr um uns«, sagt Yang. Auch sein Sohn lernt gerade das Handwerk – vorher hat er mit Kokain gehandelt, jetzt schult er auf Feng-Shui um.

In den letzten zehn Jahren ist die Nachfrage nach Geisterhochzeiten wieder gewachsen. Es ist, als brächten die neuen Zeiten auch das ganz Alte wieder hervor. »Die Preise für weibliche Leichen steigen«, sagt Yang. Die Familien suchen nur Gattinnen für männliche Leichen, für weibliche existiert hier kein vergleichbarer Brauch. Und auf dem Land gab es schon immer mehr Männer als Frauen, denn die patriarchalische Tradition bevorzugte einen männlichen Statthalter. Schon vor der Einführung der Einkindpolitik im Jahr 1979 wurden hin und wieder weibliche Säuglinge getötet.

Längst nicht jeder kann sich eine weibliche Leiche leisten. Die Ärmsten der Armen zünden einfach nur ein Räucherstäbchen an, das eine Frau symbolisieren soll, das ist ihre Form der Geisterhochzeit. Die nicht ganz so Armen lassen sich eine Frauenfigur aus Silber gießen. Und die, die Geld haben, kaufen sich eine weibliche Leiche.

Die Suona klagt, die Trommeln dröhnen. Die Bauern wuchten die Särge von der Ladefläche des Wagens in einen Holzkarren hinein. Sie zerren, ziehen, schieben die Särge den Hügel hinauf, durch Dreck und Sand. Vor dem Grab haben sie den Hausstand der Geisterbrautleute aufgebaut, gebastelt aus Papier. Damit sollen sich die beiden ein Leben im Jenseits einrichten – ein Leben, so viel luxuriöser als das, welches sie im Diesseits führten. Eine Villa im Miniaturformat. Ein roter Mercedes mit Fahrer. Ein Fernseher. Eine Waschmaschine. Zwei Brillen, denn Xianying war kurzsichtig.

Ein goldgerahmtes Hochzeitsbild zeigt die beiden Brautleute, Photoshop hat sie vereint: Er trägt das Haar fransig ins Gesicht gekämmt, sein Lächeln ist schief, schwer zu sagen, ob es skeptisch ist, ironisch oder schüchtern. Sie hat ein Gesicht, rund wie der Mond. Dauerwelle und Pony, große geweitete Augen, aus denen sie unsicher in die Kamera blickt.

»Einen Tag nach seinem Tod begann ich nach einer Geisterbraut zu suchen«, sagt Xianyings Onkel. Er fragte Freunde. Die fragten Freunde. Und so weiter. Zuerst bot man ihm die Asche zweier bereits verbrannter Frauen an. »Das wäre billiger gewesen, die hätten 30 000 beziehungsweise 50 000 Yuan gekostet. Doch mir war eine intakte Leiche lieber.«

Freunde von Freunden machten ihn auf eine weibliche Leiche aufmerksam, die bereits seit 40 Tagen in einem Leichenschauhaus in der Nachbarprovinz Shanxi lag. Der Onkel fuhr hin. Die Mitarbeiter des Leichenschauhauses zeigten ihm den Personalausweis der jungen Frau und den Totenschein. Sie war 24, man hatte ihren Leichnam im Wasser gefunden. Selbstmord, hatte die Polizei auf den Totenschein geschrieben. Im Leichenschauhaus erzählten sie etwas anderes.

Die Eltern des Mädchens vermuten, dass ihre Tochter ermordet wurde. Denn auf dem Bauch des vom Wasser aufgedunsenen Körpers waren zwei kleine Löcher zu erkennen. Schüsse? Einstiche? Am Handgelenk des Mädchens war eine Seilspur auszumachen. Lange hatten die Eltern gedrängt, zu ermitteln, sie hatten viel Geld gezahlt, Bestechungsgeld. Die Polizei aber blieb bei ihrer Aussage: Selbstmord. Und irgendjemand brachte das Gerücht in Umlauf, das Mädchen sei ins Wasser gegangen, weil ihr Freund sie verlassen habe.

Gerne hätte Xianyings Onkel die Familie des Mädchens getroffen, Wanderarbeiter aus der Provinz Henan. Sie aber wollten das nicht. »In Henan fürchten die Menschen, dass eine alleinstehende weibliche Leiche als Geist zurückkehren und Unheil über die Familie bringen könnte. Daher wollten sie sie wahrscheinlich nicht in ihrem Familiengrab beisetzen«, vermutet er. Das Leichen-schauhaus bot der Familie 30 000 Yuan für den Leichnam, um ihn weiterzuverkaufen. Die Familie stellte die Unterlagen des Mädchens zur Verfügung. Xianyings Onkel ging zur Polizei und ließ die Identität des Mädchens prüfen, »ich wollte nichts Illegales«.

Li Yinyan zahlte dem Leichenschauhaus 100 000 Yuan, umgerechnet fast 12 000 Euro. Und jedem der drei Bekannten, die dabei geholfen hatten, die Leiche zu finden, 1000 Yuan. »Eine Geisterhochzeit ist nicht illegal, der Leichentransport aber schon. Die Leiche muss dort verbrannt werden, wo der Mensch gestorben ist. Deshalb wollte ich das Mädchen nicht selbst holen«, sagt er. Ein Mitarbeiter des Krematoriums benutzte für den Transport einen Notfallwagen. »Damit kommt man überall durch. Ganz legal ist das nicht. Auch darf das Leichenschauhaus eigentlich keine Leichen verkaufen. Doch was machen die Menschen heutzutage nicht alles für Geld?« Die Suche und der Transport – das alles ging erstaunlich schnell. Am 12. Juni war sein Neffe gestorben, am 16. Juni wurde die Leiche des Mädchens gebracht, drei Tage danach finden die Geisterhochzeit und die Beerdigung statt.

Die Bauern lassen die Särge an dicken Seilen hinab, über fünf Meter tief haben sie das Grab in die Lösserde geschaufelt. »Nicht nach oben sollen die Seelen reisen, nicht nach Norden, Süden, Westen oder Osten, nur hinunter, hinunter, in die Unterwelt hinein«, singt der Feng-Shui-Meister mit heiserer Stimme. Xianyings Vater schüttelt sich vor Schmerz, seine Mutter und Schwester weinen und klagen, sie halten sich in den Armen, stundenlang schreien sie ihre Trauer in die Weite hinaus. Alle Frauen aus dem Dorf, die den Toten kannten, schreien und heulen, lassen sich in den Staub fallen, graben ihre Finger in die Erde hinein. Die Trauer wird nicht versteckt, sie legt sich über das Dorf, die Erde, die Bäume, das Gras.

Nur der Feng-Shui-Meister bleibt ganz ruhig. Er tut seine Arbeit, Handgriff für Handgriff, Zigarettenzug für Zigarettenzug. Steigt eine Leiter hinab ins Grab, die beiden soeben Beerdigten zu trauen. Er zündet fünf Kerzen an, stellt eine Schale mit Datteln, Walnüssen und Kuchen vor die Särge, wie sie auch die Lebenden bei einer Hochzeit erhalten. Er legt einen Kamm davor und einen Spiegel, damit sich die Geister schön machen können. Den Spiegel wird er später wieder mit sich nehmen, damit die Geister sich bei ihrem Anblick nicht erschrecken. Mit diesem Ritual sind die beiden Toten getraut. Es wird kein Wort gesprochen, der Feng-Shui-Meister muss nichts sagen oder fragen. Tote können nicht antworten.

Etwas abseits vom Grab kauert Zhou Peigen, Xianyings engster Freund. Er ist 17, die beiden haben sich in der Fenstermacherfabrik kennengelernt. Anfangs, erzählt Zhou, konnte er nicht viel mit Xianying anfan- gen. »Er war sehr aufbrausend. Und na ja, ich habe auch nicht den besten Charakter.« Doch sie arbeiteten zusammen, sie schliefen gemeinsam in einem Sechsbettzimmer. Und irgendwann kamen sie sich näher. Xianying liebte elektronische Musik. »Als wir sie das erste Mal gemeinsam hörten, da konnten wir gar nicht einschlafen, so aufgekratzt waren wir.« Später hörten sie abends oft Musik, sie tranken, rauchten und erzählten sich ihre Geschichten.

Hatten sie Träume? Zhou lacht, ein wenig bitter. »Ach, wir Jungs vom Land, wir haben doch keine Träume. Das können wir uns gar nicht leisten.« Dann erzählt er, dass Xianying eine Freundin gehabt habe, die beiden hätten sich gut verstanden. Er stockt. »Sie weiß nicht, dass er tot ist. Sie ruft mich an, weil sie ihn nicht erreichen kann, sie fragt mich: Wo ist er, was ist mit ihm?« Er vergräbt seinen Kopf in den Armen. »Wie soll ich es ihr sagen? Wie kann man jemandem denn so etwas sagen?«

Der Feng-Shui-Meister schiebt eine dicke Platte über das Grab, um es zu verschließen. Die Männer des Dorfes schaufeln gelbe Erde darauf, sie husten den Staub aus ihren Lungen. Zwischen die Erdschichten legen sie immer wieder eine Lage Stroh, damit die Schaufeln der Grabräuber nicht durch die Erde dringen können. Denn mit der Nachfrage nach weiblichen Leichen ist auch deren Preis gestiegen. Die teuersten kosten 180 000 bis 200 000 Yuan, umgerechnet etwa 21 000 bis 24 000 Euro, in einer armen Region wie dieser ist das unglaublich viel Geld. Und mit dem großen Geschäft kommt das Verbrechen. Immer wieder buddeln Grabräuber in der Region weibliche Leichen aus und verkaufen sie weiter.

Gelegentlich wird für das Geschäft mit weiblichen Leichen sogar gemordet. Etwa im Fall von Xiao Na, der in China durch die Zeitungen ging. Sie war 2006 in Yanchuan Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Xiao Na stammte aus einem kleinen Dorf und war geistig behindert. Als sie 20 war, wurde ein Ehevermittler bei ihren Eltern vorstellig. Er wollte die junge Frau mit einem Mann verheiraten, der ihm dafür 12 000 Yuan Belohnung bot. Die Hochzeit fand statt, doch nach einiger Zeit wandte sich der enttäuschte Ehemann wieder an den Heiratsvermittler. Die Frau sei unfähig, ihm ein Kind zu gebären, er wolle sie zurückgeben und sein Geld wiederhaben. Doch das hatte der Ehevermittler längst ausgegeben. Dann lernte der einen Mann kennen, der in einer Leichenhalle arbeitete und weibliche Leichen für Geisterhochzeiten verkaufte. Für eine Leiche bot er 16 000 Yuan. Daraufhin gab der Ehevermittler Xiao Na ein vergiftetes Brötchen zu essen. Als der Mann von der Leichenhalle anklopfte, um sie abzuholen, war sie noch nicht tot, buchstäblich in letzter Sekunde wurde sie stranguliert. Dem Mann von der Leichenhalle erzählte man, sie sei an einer seltenen Krankheit gestorben. Es war nicht der letzte Mord des Ehevermittlers, bevor er schließlich verhaftet wurde.

Das Grab der Frischvermählten ist nun zugeschüttet, der Grabstein gesetzt. Ein alter Mann geht herum und verteilt Zigaretten. Die Bauern verbrennen Stroh, das Böse zu vertreiben, sie verbrennen die Aussteuer der Toten, damit auch sie ins Jenseits gelange. Den Fernseher aus Papier und die Waschmaschine, die Villa und den roten Mercedes. Das gute Leben. Der Feng- Shui-Meister lässt zwei Hähne frei, die die ganze Zeit, an den Krallen gefesselt, neben dem Grab gelegen haben. Sollte sich die wandelnde Seele verirren, sollen die Hähne ihr helfen, ihr Grab wiederzufinden. Die Hähne staksen los, den Hügel hinauf, sie krähen.

Kraniche @ Stefanie Schweiger

Die Bauern richten den Grabschmuck auf: farbenfrohe Bänder und einen langen, geschmückten Stab, auf dem die Namen der Toten geschrieben stehen. Obenauf thront ein weißer Kranich, er symbolisiert die Hoffnung, dass die Seelen der Toten in den Himmel aufsteigen.

Das Grab leuchtet rot, gelb und grün in der Landschaft, von weit her kann man es erkennen. Sanft schwingt der Kranich im Wind.

Veröffentlicht in Zeit Magazin November 2013