Gefährlicher Appetit

Unterwegs mit einem chinesischen Beamten und einem Investor, die Großes im Südchinesischen Meer planen

Sanft gleitet das Kreuzfahrtschiff durch die Bucht. Es ist eine nahezu perfekte Nacht: die Luft wie Seide, auf dem VIP-Deck gibt es Freibier. Vielleicht gelingt es Investor Ma heute, den Beamten Li rumzukriegen. Seit Wochen bearbeitet er ihn, doch wann immer Ma zum Punkt kommt, lächelt Li nur ein Sphinxlächeln.

Steuerbord glitzern vom Ufer her die Lichter von Sanya. Sanya, auf der Insel Hainan, Südchina, ist ein chinesischer Sehnsuchtsort. Nirgends ist der Sand feiner, das Wasser blauer. Hier verbringt man seine Flitterwochen, hier lernt der Kleine schwimmen, hier quartiert man vielleicht später seine Mätresse ein. Hier investiert man: Sanya ist eine zementgewordene Immobilienblase. Ma hat es aus dem kalten Norden Chinas hierherverschlagen, er betreibt unter anderem ein Restaurant und schippert mit seinen Booten Touristen umher.

Aber vielleicht geht noch mehr. Ma schaut aufs Meer hinaus. Irgendwo da draußen in der Nacht, 350 Kilometer von Hainan entfernt, liegt noch eine Insel. Eigentlich bloß ein Inselchen. Gerade mal 13 Quadratkilometer groß. So klein, dass die Flugbahn über das Eiland hinaus ins Korallenriff gebaut werden musste. Yongxingdao, auf Deutsch: Insel des ewigen Wohlstands. Um sie herum gruppieren sich Dutzende weitere, die Paracelinseln. Jungfräuliche Sandstrände, bunte Fische, ein Urlaubsparadies, touristisch komplett unerschlossen.

Ma schenkt dem Beamten Bier nach. »Hör mal, Li, wir könnten ein Geschäft zusammen machen. Eine Firma auf Yongxing registrieren. Fischen oder Tourismus. Im Moment bietet der Staat gute Konditionen.« Li, die Sphinx, will sich nicht festlegen. Aber dass der Inselwelt da draußen im Meer eine große Zukunft bevorstehen könnte, das sieht auch er: »Schon bald könnte es losgehen.

Kein anderes Gewässer ist so umstritten

Ärger mit den Nachbarn. Das ist das Stichwort – und viel zu harmlos. Yongxing, das Ziel von Mas Investorenträumen, ist nicht einfach irgendein Eiland: Es könnte zum Vorposten einer großen strategischen Rivalität werden. Kein anderes Gewässer der Erde ist so umstrittenes Terrain wie das Südchinesische Meer. Für China ist es von herausragender Bedeutung. Auf seinem Grund werden große Öl- und Erdgasvorkommen vermutet. 80 Prozent der chinesischen Ölimporte gehen über seine Wasser, auch unzählige weitere Rohstoffe, die Chinas Wirtschaft dringend benötigt .

Ausgerechnet hier streiten sich sechs Staaten um zwei Gruppen von Inseln, die Spratlys und die Paracels – zu denen Yongxing gehört. Bis vor Kurzem lebten 2000 Fischer und Soldaten auf dem sonst menschenleeren Archipel. Nun aber hat die Regierung auf Yongxing ein weißes Rathaus bauen lassen und dieses Jim-Knopf-Eiland im Juli zur kleinsten Präfekturhauptstadt Chinas erklärt. Zuständig für die umstrittenen Inselgruppen. Und für das ganze Südchinesische Meer drumherum.

Und auch diese Szenerie des Krisen-Meers mit seinen zerstrittenen Anrainern ist nur ein Ausschnitt der wirklich großen Geschichte. Der Geschichte vom weltweiten Ausgreifen der aufsteigenden Macht China . Und von den Spannungen, die damit einhergehen. China importiert gewaltige Mengen Rohstoffe aus Afrika, Lateinamerika und Südostasien, aus dem Nahen und Mittleren Osten. Es kauft Land in Afrika, Soja aus Brasilien, Wasserkraft, Gas und Holz aus Myanmar. Mit dem Handel entstehen Interessen überall auf der Welt. Es gilt Bündnisse zu wahren, das Wohlwollen der Mächtigen zu gewinnen. Deshalb baut Peking Straßen, Regierungspaläste und Krankenhäuser in Afrika und U-Bahnen im Iran. Es gewährt großzügige Entwicklungshilfe – und knüpft sie im Gegensatz zum Westen nicht an politische Konditionen. Millionen chinesischer Arbeiter verdingen sich in allen Teilen der Welt.

Chinas Aufstieg ist politisch geworden

Die Macht wächst, die Interessen verzweigen und vervielfältigen sich – und es nimmt das Bedürfnis zu, sie zu verteidigen. China rüstet auf. Seit Kurzem besitzt es einen Flugzeugträger, über nuklearbetriebene Atom-U-Boote verfügt es schon seit Längerem – ihr Hafen befindet sich auf der Insel Hainan. Die Art, wie Peking seine Positionen vertritt, wird bestimmter. Der Ton, den Zeitungen wie die Global Times anschlagen, wird chauvinistischer. Lange wurde die chinesische Außenpolitik von der klugen Strategie des Reformers Deng Xiaoping geprägt: »Verbirg dein Licht, wahre ein unauffälliges Profil«. Diese Zeit scheint vorbei zu sein. Die kleineren Nachbarländer reagieren nervös; die größeren Staaten Japan, Russland und Indien fühlen sich in ihren Interessen gestört; die Supermacht USA, die selbst mit Abstiegsgefahren kämpft, macht sich Sorgen über einen möglichen Rivalen. Wer keine direkten militärischen und Sicherheitsinteressen in Asien hat, wie die Europäer, fürchtet doch die ökonomische Konkurrenz der aufsteigenden Macht – oder hofft auf das Land als gigantischen Absatzmarkt. Was als wirtschaftlicher Aufstieg Chinas begann, ist global und politisch geworden – vielleicht die wichtigste historische Entwicklung unserer Zeit.

Hier, im Südchinesischen Meer, sind das alles keine strategischen Abstraktionen, hier wird es konkret, hier kann man einander nicht ausweichen. Immer wieder kann es brenzlig werden – wenn Fischerboote und Küstenwachen zusammenstoßen oder die Kabel eines Forschungsschiffes gekappt werden. Im Ostchinesischen Meer hat ein betrunkener chinesischer Fischer, der zwei japanische Patrouillenboote rammte, das Verhältnis der beiden Länder nachhaltig vergiftet (siehe Seite 5). Was mögen die Fremdenverkehrsideen von Ma und Li eines Tages noch für Weiterungen

Unter Deck hat die Show begonnen, irgendwas mit Clowns, Sichuan-Oper und hübschen Mädchen. Investor Ma gibt dem Beamten Li Feuer. »Ich könnte mit meinen Booten Touristen nach Yongxing bringen.« Li schüttelt den Kopf. »Das könnte die Vietnamesen ärgern.« Denen hatten Mas Boote nämlich gehört, bevor sie von den Chinesen konfisziert und versteigert wurden – was hier dauernd von allen Seiten geschieht, wenn der eine ins Hoheitsgebiet des anderen eindringt. Die vietnamesischen Patrouillenboote, berichtet Li, seien übrigens mit Geschützen bestückt, die chinesischen nicht. »Dann sollten wir auch Kanonen auf unsere Boote tun«, meint Ma. Li findet das abwegig, das Außenministerium sei dagegen. Aber Ma mag von der Idee mit der Bewaffnung nicht so schnell lassen. Wildwest im Südchinesischen Meer.

Wer so ein Gespräch hört, beginnt sich zu fragen, ob der Aufstieg Chinas tatsächlich friedlich bleiben kann. Vermag das Land seinen Hunger nach Ressourcen, Macht und Geltung zu stillen, ohne dass es dabei zu ernsthaften, womöglich militärischen Konflikten kommt? Können sich Großmächte überhaupt zurückhalten? Römer, Mongolen, Spanier, Briten, Franzosen, Russen, Deutsche – sie alle liefern historische Beispiele für Unersättlichkeit. Kaum besaßen sie ein Territorium oder hatten einen Vasallen installiert, verleibten sie sich schon das nächste Gebiet ein.

Die USA sind missionarisch, wir nicht – sagt Peking

Wir aber sind anders, lautet die Botschaft aus Peking. Schon immer waren wir ein friedliebendes, sich selbst genügendes Volk, eines, das in sich ruhte. Zum Beweis führt die moderne chinesische Führung einen Seefahrer aus dem 15. Jahrhundert an. Zheng He unternahm mit einer gewaltigen Flotte sieben Expeditionen, die ihn bis nach Arabien, ja bis nach Ostafrika führten. Und doch gründete er kein chinesisches Weltreich. Er eroberte keine Kolonien und brachte keine Sklaven mit nach Haus – bloß eine Giraffe. Wir, so die Führung, waren nie Imperialisten – und sind es auch heute nicht. Anders als die Vereinigten Staaten, die ihre Ideale für universal halten und überall verbreiten wollen, sind wir nicht missionarisch. Was auch stimmt. Wie sollte ein Land missionarisch sein, dessen Menschen vielerlei Glaubensrichtungen anhängen, das aber nie wirklich religiös geprägt war? Was es einmal an maoistischer Ideologie gab, ist längst ausgebrannt.

Ist China also wirklich friedlicher, als der Westen es war? Ganz so einfach sei es nicht, erklärt ein bedeutender chinesischer Historiker, der anonym bleiben möchte. »In der Ming-Dynastie hatten wir 13 Provinzen, jetzt haben wir 30. Wie, wenn nicht durch Kriege, sind wir so groß geworden?« Im Kern habe die chinesische Zivilisation allerdings keinen expansiven Charakter. »Kein Volk liebt den Krieg. Die Frage ist, welcher Nutzen er ihm bringt.« Und der Nutzen weitreichender Expansion war für China nicht groß. Anders als die Mongolen waren die Chinesen stets eine sesshafte Bauernkultur. Lagen die eroberten Gebiete zu weit entfernt, schnellten die Verwaltungskosten in die Höhe. Die Kontrolle war schwer, es kam leicht zu Unruhen, das Reich drohte sich zu überspannen. Das immerhin könnte sich geändert haben, weite Strecken lassen sich im Gegensatz zu früher schnell überbrücken, gekämpft wird nicht mehr mit dem Pferd, sondern mit Raketen und Flugzeugträgern.

China ist gewissermaßen schon vor jedem Imperialismus bereits ein Imperium. Ein Vielvölkerstaat. Seine Grenzen sind im Wesentlichen noch immer jene, die die Qing-Dynastie (1644–1911) einst hinterlassen hatte, abzüglich Mongolei und Taiwan.

Gefährlicher Patriotismus

Dieses Reich zusammenzuhalten hat Priorität vor jeder äußeren Expansion. Das wird noch lange so sein. China befindet sich in einem gigantischen Transformationsprozess, der unzählige Probleme mit sich bringt; schon jetzt kommt es jährlich zu Hunderttausenden Protesten. Ein Krieg würde die Entwicklung im Land selbst gefährden. Würde China sich weiter ausbreiten, es drohte an seiner Überdehnung zu zerbrechen wie einst das spanische Weltreich. Oder die Sowjetunion nach dem Afghanistankrieg.

China hegt also keine imperialen Pläne. Und doch ist ein Konflikt möglich. Das liegt an zwei Problemen. Das erste wirkt klein, langweilig und bürokratisch; man kann sich kaum vorstellen, dass es existiert. Dieses Land nämlich, das sich gerade anschickt, eine Weltmacht zu werden, nimmt Außenpolitik nicht wirklich wichtig. Peking hört selten auf seine Diplomaten, das Außenministerium gehört in der Regierung zu den schwächsten Ressorts. Es drohen Kompetenzchaos und Dilettantismus.

Hainan, die Insel, vor der Ma und Li ihr nächtliches Gespräch führen, ist ein gutes, schlimmes Beispiel. Ausgerechnet hier im Südchinesischen Meer kann eine Provinzregierung auf eigene Rechnung agieren. Schon 1994 war ihr Hainan zu wenig, und sie beantragte eine Erlaubnis für die touristische Entwicklung der Spratly- und Paracelinseln. 2007 wurde die gewährt, was zu wütenden Demonstrationen in Vietnam führte. Die Provinzregierung gab den Plan erst einmal auf, hat ihn aber jetzt wiederbelebt. Nebenbei fahren Fischer in umstrittene Gewässer, Rohstoffunternehmen drängen darauf, die vermuteten Öl- und Gasreserven zu entwickeln. Elf Behörden sind auf Ministerebene im Südchinesischen Meer aktiv – fünf von ihnen unterstehen autonomen Polizei- und Patrouilleneinheiten. »China«, urteilt die International Crisis Group, »ist sich im Südchinesischen Meer einer seiner größten Feinde.«

Ein Nationalismus, der außer Kontrolle geraten kann

Noch gefährlicher freilich ist der anschwellende Patriotismus im Land. Die Führung hat ihn stets genährt, er ist ihre Ersatzideologie geworden, seit der Kommunismus verblasst ist. Im vergangenen Monat erst durfte erzürntes Volk vor der japanischen Botschaft auf- und abmarschieren und vor den Augen unzähliger Polizisten teils hochaggressive Slogans gegen Tokio vorbringen. Denn Peking war der Volkszorn im Inselstreit mit Japan sehr nützlich.

Zur Pflege der nationalen Gefühle propagiert die Führung ein einseitiges Geschichtsbild: das einer Nation, die hundert Jahre lang, von den Opiumkriegen bis zum Aufstieg der KP unter Mao Zedong , niedergehalten und gedemütigt wurde. Gleichzeitig ist das Land, in dem dieses Opferbewusstsein wachgehalten wird, längst zur Großmacht geworden. China schwanke zwischen paradoxen Selbstbildern, sagt Jia Qingguo, Professor an der Peking-Universität. »Bisweilen gibt es sich wie ein starker Staat, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, pragmatisch und überlegt handelt.« Dann wiederum kippe die Stimmung im Land, fühle sich China schwach, agiere beleidigt, emotional und nationalistisch, ängstlich um sein Bild, seine Territorien, seine Souveränität fürchtend.

Die Regierung hat den Nationalismus und die Nationalisten jedenfalls nicht mehr ganz unter Kontrolle. Bei den antijapanischen Protesten vor wenigen Wochen schickte die Regierung die Wütenden nach Hause, als sie nicht mehr gebraucht wurden. Das Volk aber blieb wütend. Und viele sagten: Unsere Führer haben einfach keinen Schneid. Mao Zedong hätte das nie mit sich machen lassen. Eine Regierung, die den patriotischen Zorn anstachelt, ohne Taten folgen zu lassen, muss die Nationalisten wieder und wieder enttäuschen. Und das ist brandgefährlich. Angenommen, ein Fischer provoziert noch einmal einen außenpolitischen Eklat. Das patriotisch erhitzte Volk fordert Konsequenzen. Eine – vielleicht aus innenpolitischen Gründen angeschlagene Regierung – sieht sich außer Stande, dem Druck standzuhalten. Und schickt ein Kriegsschiff los.

Im Südchinesischen Meer klingt das dann so wie bei Investor Ma auf dem Kreuzfahrtschiff: »Die anderen wollen uns doch nur herausfordern. Die wollen sehen, wie stark China wirklich ist. Oder ob sie alles mit uns machen können.«

Erschienen an 3. November 2012 in Die Zeit