„Eines Tages werden sie uns angreifen“

Schiffe patrouillieren, Bürger demonstrieren: China und Japan streiten um eine Inselgruppe. In der Region entbrennt der Nationalismus

Die Haie, der Taifun, die Chinesen! Was hätte nicht alles passieren können, als sich der japanische Rockmusiker Tokuma Suginomori, 47, in die Fluten des Ostchinesischen Meeres stürzte, eine patriotische Heldentat zu vollbringen. Er sprang über Bord, kraulte durch die Wellen, zog sich ans Ufer. Tokuma hat ein Video über die Reise drehen lassen. Darauf sieht man ihn, wie er am Inselstrand steht, das lange Haar von Wind und Meer zerzaust. Er hält einen Plastikbesen in der Hand, als sei’s eine E-Gitarre, und singt seinen patriotischen Hit „Ich liebe Japan“.

„Eines Tages werden sie uns angreifen“, röhrt er, „über das Meer.“ Sie, das sind die Chinesen, mit denen Japan im Streit liegt um eine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer. Senkaku nennen sie die Japaner, Diaoyu die Chinesen. Und an jenem Tag im September 2012, da ging das Gerücht, dass Tausende, ach, zehntausend chinesische Fischerboote anrücken würden, die Inseln einzunehmen, weil Japan sie kurz zuvor nationalisiert hatte. „Sterben hätte ich können“, sagt Tokuma.

Tokuma bekam dann doch keinen chinesischen Fischer zu Gesicht, er erhielt nur eine Anzeige, weil die japanische Regierung ihren Bürgern das Betreten der umstrittenen Inseln untersagt hat. Denn der Rockmusiker spielte auf eigene Faust mal eben Weltpolitik. Als belauerten sich im Ostchinesischen Meer nicht unzählige Patrouillenboote und Aufklärungsflugzeuge, als hätte der Inselstreit nicht das Zeug, zum ganz großen pazifischen Konflikt anzuwachsen.

Tatsächlich ist um die Inselgruppe ein großer Machtkampf entbrannt, ein Ringen um die von Amerika geprägte Weltordnung. Es geht um geopolitische Konkurrenz und alte Opfermythen. Um Misstrauen und leichtfertig angeheizten Patriotismus. Um eine Geschichte, die nie wirklich verarbeitet wurde und daher jederzeit instrumentalisiert werden kann. Wann immer Historiker heute über die Wiederkehr des Jahres 1914 diskutieren, verweisen sie dabei auch auf den Konflikt zwischen China und Japan. Und immer öfter fällt dabei die Formel, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschrieb: ein Krieg aus Versehen.

Der Streit um die Inseln hat aus dem Rocksänger Tokuma einen Patrioten gemacht. Im Jahr 2010 rammte ein chinesischer Fischer vor den Inseln japanische Patrouillenboote. Der Fischer wurde festgenommen, doch die japanische Regierung ließ ihn auf chinesischen Druck hin wieder frei. Tokuma probte gerade im Studio, als er davon erfuhr: „Und mit einem Mal war mir, als ob China mich selbst schlage.“ Ihm war, „als ob Licht durch seinen Körper strömte“.

Er begann mithilfe nationalistischer Literatur die Geschichte Japans zu revidieren. Kriegsverbrechen, Zwangsprostitution – darin erkannte er nun lauter Lügen, um Japan klein zu halten. Tokuma lernte, wieder stolz auf seinen Großvater zu sein, für dessen Taten im Krieg er sich geschämt hatte. Deshalb steht er an einem Tag im April mit den Anhängern seiner kleinen Splitterpartei in Tokio vor dem Amtssitz des Premiers und ruft mit ihnen im Chor: „Die Japaner sind die Helden Asiens – sie befreiten die Asiaten von der Kolonialherrschaft der Europäer.“

Tokumas Happiness Realization Party ist zwar eine politische Randerscheinung, und doch steht sie für das Unbehagen, das viele Japaner angesichts eines aufstrebenden Chinas erfasst hat. Für die symbolische Aufladung des Inselstreits.

Die Inseln, das sind acht unbewohnte Eilande, unter denen Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Chinesischen Historikern zufolge werden sie bereits im 15. Jahrhundert als Teil Chinas erwähnt. Nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg von 1895 verleibte sie Japan seinem Staatsgebiet ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die Amerikaner als Siegermacht die Inseln nicht an China zurück, sondern stellten sie zunächst unter amerikanische und schließlich japanische Verwaltung. China wirft den Amerikanern vor, damit internationale Abkommen verletzt zu haben.

1972, als China und Japan ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufnahmen, einigten sie sich darauf, den Inselstreit zu vertagen. „Weisere Generationen sollten ihn lösen“, sagte der chinesische Reformer Deng Xiaoping.

Heute ist wieder ein heftiger Machtkampf um die Inseln entbrannt. Auf der einen Seite steht die neue alte Großmacht China, die lange strauchelte und sich nun zurückmeldet, entschlossen, sich nichts mehr bieten zu lassen. Eifersüchtig ist sie darauf bedacht, ihre neu erwachten geopolitischen Ansprüche in der gesamten Region zu sichern. Im Südchinesischen Meer streitet sich China mit Vietnam und den Philippinen um zwei weitere Inselgruppen.

Auf der anderen Seite steht Japan, ein zutiefst verunsichertes Land, das 100 Jahre lang die Vormachtstellung in Asien genoss und nicht bereit ist, sich diese ohne Weiteres nehmen zu lassen. In ihrer Selbstwahrnehmung hält die japanische Regierung internationales Recht und die Freiheit der Meere aufrecht – gegen chinesisches Hegemonialstreben.

Kaum ein Tag ohne Provokation und Gegenprovokation

Die Beziehung zwischen den beiden Ländern hat einen Tiefpunkt erreicht. China erklärte im vergangenen Jahr zum Schrecken Japans eine Luftverteidigungszone über dem Ostchinesischen Meer, die sich mit der japanischen Sicherheitszone überschneidet. Der japanische Premier Shinzo Abe besuchte kurz darauf zur Entrüstung Chinas den Yasukuni-Schrein, in dem auch 14 japanische Kriegsverbrecher der Klasse A geehrt werden. Daraufhin veröffentlichten 40 chinesische Botschafter empörte Protestbriefe. Seither vergeht kaum ein Tag ohne Provokation und Gegenprovokation.

Nervosität macht sich in Japan breit. Auch Kudo Yasushi kann sich davon nicht freimachen, obwohl er politisch einem anderen Lager zuzuordnen ist als der Rocksänger Tokuma. Kudo ist Präsident des japanischen Thinktank The Genron NPO. Er steht in engem Kontakt zu chinesischen Intellektuellen, misst die Stimmung in Japan, Südkorea und China, bemüht sich um Ausgleich. Vor ein paar Monaten hat Kudo Australien besucht. Und bemerkte auf einmal, wie erleichtert er sich fühlte. Er fragte sich, was das sein könnte, und realisierte: Es war die Distanz zu China. „Da merkte ich erst, wie hoch der Druck ist, den Japaner angesichts ihrer Nähe zu einem aufsteigenden China spüren.“

Die Japaner, sagt Kudo, seien verunsichert. Von der Finanzkrise der neunziger Jahre hat sich die Wirtschaft des Landes nie ganz erholt, dann kamen der gewaltige Tsunami und der Unfall im Atomkraftwerk Fukushima, eine Regierung folgte auf die andere. Und mitten in ihrer Schwäche sehen sie, wie der Nachbar weiter und weiter aufsteigt. Sie sind neidisch, weil China sie wirtschaftlich überholt. „Sie wissen nicht, welche Rolle sie in Zukunft spielen können. Und wie das aufsteigende China seine Macht gebrauchen wird.“ Deswegen stellen sich die Japaner hinter Premier Abe. Weil da endlich wieder ein starker Mann ist, weil die Wirtschaftszahlen nach oben gehen, weil er sich von den Chinesen den Besuch des Yakusuni-Schrein nicht verbieten lässt.

Auch in China wird die geistige Mobilmachung gefördert. In einer Computerspielfirma in Shenzhen sitzen junge Grafiker und Informatiker Seite an Seite und entwerfen Heldenträume. Auf einem Bildschirm entsteht gerade eine Rotgardistin, die Brüste sprengen fast ihr ausladendes Dekolleté, gefesselt von japanischen Soldaten. Die Firma, Zhongqingbao, hat ein Onlinespiel entwickelt, das „Die Diaoyu-Inseln beschützen“ heißt. Dem Spieler steht ein ganzes Waffenarsenal zur Verfügung, um „die kleinen Japaner“ abzuknallen.

Der Pressesprecher, Raymond Lee, ist ein gewandter Typ, das Haar kurz geschoren, der einen „nicht engstirnigen Nationalismus“ predigt. Seine Firma sei Marktführer bei „patriotisch sozialistischen Spielen“, sagt er: „95 Prozent aller roten Spiele kommen von uns.“

„Werte“, sagt Lee mit großer Geste, „darin sehen wir einen gewaltigen Markt.“ China leide da unter einem Vakuum, er hoffe, „dass Kinder und Jugendliche durch unsere Spiele traditionelle und nationalistische Werte vermittelt bekommen“.

Nicht nur Zhongqingbao hat sich dieser Mission verschrieben. In Hengdian, Chinas größtem Filmstudio, wurden so viele Serien über den antijapanischen Widerstandskrieg gedreht, dass im Land der Witz kursiert, in Hengdian seien mehr Japaner gestorben als auf allen Schlachtfeldern des Krieges, ja sogar mehr, als es Einwohner in Japan gebe. Tag für Tag marschiert die japanische Armee in chinesische Wohnzimmer ein – das ist die Folie, vor der viele Chinesen die Gegenwart wahrnehmen.

Als die japanische Regierung die Inseln im September 2012 nationalisierte (und der Rockmusiker Tokuma durchs Meer schwamm, um sie zu verteidigen), entflammten in allen großen chinesischen Städten antijapanische Proteste. Japanische Autos wurden demoliert, Japaner verprügelt. Nationalismus sei wichtig für China, sagt Pressesprecher Lee, „denn 100 Jahre Geschichte haben dazu geführt, dass wir uns sehr unwohl fühlen“. Es sind die 100 Jahre der Schande, die die KP ihrem Volk wieder und wieder vorbetet, weil sie sich rühmt, es daraus befreit zu haben.

Es ist eine Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg, die beide Nachbarn miteinander verbindet: China war die herausragende Macht Ostasiens, bis das Reich Anfang des 20. Jahrhunderts wegen des Zusammenbruchs der Quingdynastie schwankte. Japan ging damals gestärkt durch die Reformen der Meiji-Restauration hervor, in der es sich an den westlichen Industrienationen orientierte. Es stieg auf – was der große Nachbar als einzigartige Schmach empfand.

Während des Zweiten Weltkriegs marschierte Japan dann auch noch in China ein. Der Widerstandskampf gegen die japanischen Besetzer verhalf den chinesischen Kommunisten zu ihrem Aufstieg. Als sich Mao Zedong und der japanische Premier Tanaka in den siebziger Jahren trafen, soll Mao diesem gesagt haben, dass es die KP ohne den Einmarsch der Japaner nie an die Macht geschafft hätte.

Es gibt, so erstaunlich dies für zwei Länder mit so langer gemeinsamer Geschichte ist, keine Gesprächskanäle und keine unsichtbare Diplomatie im Hintergrund. In beiden Ländern wird mit erstaunlich wenig Weltläufigkeit und Umsicht Nachbarschaftspolitik betrieben. Den japanischen Experten Kudo bringt das zum Schluss: „Die Regierungsdiplomatie allein funktioniert nicht.“ Was die Politiker nicht schaffen, sollen die Bürger erledigen. Doch nicht immer wird es ihnen von ihrer Regierung gedankt.

„Da gibt’s noch nicht mal ein McDonald’s.“

Es ist zwölf Jahre her, dass Ma Licheng zum Verräter des Jahres gekürt wurde. Ma war Chefredakteur der Volkszeitung, des wichtigsten Propagandaorgans der Partei. Als er den Artikel verfasste, der ihm wüste Beleidigungen einbringen sollte, ahnte er bereits, was kommen würde: „Doch irgendeiner musste die Wahrheit ja aussprechen.“ Er war gerade aus Japan zurückgekommen und hatte festgestellt: Das Land, von dem ihm die chinesische Propaganda täglich erzählte, gab es nicht. Es war eine Erfindung.

„In China glauben viele, in Japan gehe es noch immer zu wie in einer großen Kaserne im Zweiten Weltkrieg.“ Stattdessen sah Ma ein modernes Land, in dem die Menschen zivilisiert und höflich waren, Oppositionspolitiker sagen durften, was sie wollten und Zeitungen schrieben, was ihnen in den Kram passte. Ma war beeindruckt. Er schrieb, dass der antijapanische Nationalismus China schade. „Dadurch isolieren wir uns nur von der Welt, viele bekommen Angst vor uns.“ Er schrieb, dass China aufhören solle, dauernd auf der Geschichte herumzureiten.

„Japan hat sich 25 Mal offiziell entschuldigt. Ja, die Japaner haben es nicht so gemacht wie die Deutschen. Da gab es keinen Kniefall wie bei Willy Brandt. Doch in China spricht die Regierung auch nicht über die Kulturrevolution.“ Der Nationalismus, sagt Ma, werde zu innenpolitischen Zwecken genutzt. Der Marxismus habe als ideologisches Werkzeug ausgedient, „also nutzt die Regierung die beiden Waffen der Herrscher, die nicht vom Volk gewählt sind: Wirtschaftswachstum und Nationalismus“.

Für China sei Japan nur ein Soldat im großen Schachspiel mit den USA. „Die USA aber sind zu stark, deshalb konzentriert sich China auf den Soldaten: Japan.“

Dadurch, dass die Japaner mit den Amerikanern verbündet sind, führt der Streit mitten ins Zerren der beiden Weltmächte China und den USA. Die USA, nervös geworden durch chinesische Ambitionen, zieht es wieder nach Asien zurück, wo sie Chinas Expansionsdrang bremsen wollen. Beim asiatischen Sicherheitsgipfel in Singapur am vergangenen Wochenende kam das offen zutage. Chuck Hagel, der amerikanische Verteidigungsminister, warf China vor, mit seinem Verhalten den asiatisch-pazifischen Raum zu destabilisieren. Wang Guanzhong, Vizestabschef der chinesischen Volksbefreiungsarmee, bezichtigte Japan und die USA daraufhin der Provokation, Hagels Rede habe von „Drohungen und Einschüchterungen“ nur so gestrotzt.

Der chinesische Versöhner Ma hat eine andere Lösung: Er träumt von einer Freihandelszone, einer asiatischen Allianz nach dem Vorbild der EU. „China und Japan könnten die Vereinigung Asiens vorantreiben wie einst Deutschland und Frankreich die europäische.“

Immerhin wird nun hinter den Kulissen wieder verhandelt. Die chinesische Regierung hat die Produktion und Ausstrahlung der Kriegsserien beschränkt und schickt seltener Patrouillenboote zu den Inseln. Die Japaner haben eine Delegation mehrerer Parlamentsabgeordneter nach China geschickt, auch reiste Tokios Bürgermeister nach Peking. Im Herbst findet in China der große Apec-Gipfel statt – spätestens dann muss ein gesichtswahrender Umgang miteinander gefunden werden. Doch auch wenn sich der Pragmatismus durchsetzt, viel wichtiger wäre eine wirkliche Versöhnung.

Im Nishi-Ikebukuro-Park im Norden Tokios kann man ein Vorgefühl für das Mögliche bekommen. Dort findet jeden Sonntagnachmittag „die chinesische Ecke“ statt. Bei Regen, Schnee und selbst zu Zeiten eisigster offizieller Beziehungen treffen sich hier Japaner und Chinesen. Sie reden über Kultur und Politik, die Liebe und das Leben.

Haruka Umetsu, 33, sieht man immer noch den jungen Mann an, der sich einst kaum traute, eine Mail abzuschicken, die in einer fremden Sprache war. Dann aber lernte er für seinen Job Chinesisch und begann, jeden Sonntag hierherzukommen, um es zu praktizieren. Das verwandelte ihn über die Jahre in einen wahren Konversationslöwen.

Mit dem Masseur aus Peking parliert er über Fellini und den besten Entenbraten der Stadt, mit dem Architekten aus Chongqing diskutiert er über Fengshui, während er der hübschen Buchhalterin aus Henan schöne Augen macht. Er steht in einer Gruppe lachender und schwatzender Chinesen und Japaner, und irgendwann kommt das Gespräch auf die Inseln im Ostchinesischen Meer.

„Nehmt ihr sie doch“, ruft ein Chinese. „Nein, ihr!“, erwidert Haruka. – „Was sollen wir damit? Da gibt’s noch nicht mal ein McDonald’s.“

Erschienen 5. Juni 2014 Die Zeit