»Einen Menschen zu schlagen ist eine Freude«

Wer waren Maos Rotgardisten? Woher rührte ihre Grausamkeit? Einer von ihnen erzählt

Am Morgen des Tages, an dem Wang Jiyu einen Holzknüppel auf die Schädeldecke eines anderen krachen lässt, isst er ein Dampfbrötchen. Er schlüpft in die Militäruniform, die er sich von einer Wäscheleine geklaut hat, und stutzt mit dem Messer ein paar Bart- haare zurecht. Nicht schlecht, denkt er, als er sein Gesicht im Spiegel prüft, so jung und schon ein Kerl. Er ist 16 Jahre alt, noch nie hat er ein Mädchen geküsst. Er schaut aus dem Fenster, ein Sommertag, schwül und bedeckt, die Schwalben kreisen tief am Himmel. Es ist der 5. August 1967, ein Tag mitten in der Kulturrevolution.

Jahrzehntelang hat Wang Jiyu versucht, diesen Tag zu verdrängen. Er hat sich ins Geschäftsleben gestürzt, er ist gereist und hat sich amüsiert, er hat getan, was die meisten seiner Generation tun und was auch die Regierung von ihnen verlangt: Er hat versucht zu vergessen. Manchmal saß er mit seinen damaligen Gefährten beisammen. Ist das lange her, haben sie sich dann versichert und ein bisschen zu laut dabei gelacht.

Doch mit einem Mal taucht dieses Gesicht wieder vor ihm auf. Das Gesicht des anderen. Groß die Augen, hoch das Nasenbein. Wang erinnert sich an das Gefühl des Knüppels in seiner Hand. Hört seine eigene Stimme sagen: »Ich werde dich totschlagen.«

Die Erinnerung kommt, wenn er einschläft, Auto fährt oder wenn er an einem festlich gedeckten Tisch sitzt und in lachende Gesichter schaut. Der andere sieht ihn an, und Wang weiß: Ich bin schuldig. Und wenn er sich umhört unter jenen, die so alt sind wie er, dann ahnt er: Ich bin mit diesem Gefühl nicht allein. Die Erinnerung lauert hinter der glitzernden Fassade des neuen Chinas.

Die Kulturrevolution ist nicht einfach weg, nur weil sie vergangen ist. Sie hat eine ganze Generation geprägt. Ihre Gesten, ihre Sprache, ihr Empfinden. Und diese Generation ist heute an der Macht. Die Erinnerung an die Kul- turrevolution wirbelt viele Gefühle auf, widersprüchliche Gefühle, doch fast niemand spricht sie aus.

Alles rennt voran, in der Hoffnung, dass die Erinnerung zurückbleibt.

Wang Jiyu, 64 Jahre alt, sitzt auf einem Sofa in seinem Gestüt in der Nähe Pekings. Ein Idyll, das keiner so nah an der Hauptstadt vermuten würde. Im Hintergrund erhebt sich die Kette der Duftberge, der Wind spielt mit Blättern der Pappeln, ein fahlfarbenes Pferd geht an einem Geschirr, es ist ein Westfale, aus Deutschland importiert. Kein Schild weist auf diesen Ort hin, die Berechtigten kennen den Weg auch so. Wang hat das Auftreten eines Anführers, das, was man auf Chinesisch qizhi nennen würde. Haltung, Auftreten, Charisma. Er spricht das zackig rollende Pekingerisch des Beamtenkindes. Er erzählt so präzise, wie ein Chirurg seine Schnitte setzt. Er wird an Stellen lachen, die nicht lustig sind, man spürt, so fällt es ihm leichter, das Grausame zu erzählen.

Es gibt ein Fernsehinterview mit ihm, da weint er. Da schluchzt ein Mann, dem von klein auf ausgetrieben wurde zu weinen. Der erzogen wurde, eine Kampfmaschine zu sein.

Am 5. August 1967 trifft sich Wang Jiyu mit seinen Freunden. Mit seiner Gang. Immer trifft er sich mit seiner Gang, was soll er auch sonst tun? Sie fahren auf geklauten Fahrrädern herum, sie klauen sowieso alles, außer Geld. »Wir sagten uns, die anderen seien Volksfeinde. Wir stahlen ja nicht einfach, wir bekämpften den Kapitalismus«, wird er später sagen.

Sie schlagen Fenster ein, treten Schilder kaputt, bohren Löcher in Melonen und pinkeln hinein, in der Hoffnung, dass sie jemand anderes essen würde. »Wir waren etwa 20 Kinder, wir trugen schmutzige Uniformen, die Schuhe stanken. Wir Kinder hatten nichts zu essen, also stahlen wir. Unsere Eltern waren am Ende, man hatte sie fertiggemacht.« Wangs Eltern, zwei überzeugte Kommunisten, werden kritisiert und aufs Land verbannt, wie so viele Beamte in der Kulturrevolution. Die Schule hat geschlossen. Wang und seine Freunde sind sich selbst überlassen.

Sie sind Rotgardisten. Die Soldaten des Kommunismus, die Soldaten Maos. Sie sind Beamtenkinder, Soldatenkinder, in einem Luftwaffenstützpunkt mitten in Peking aufgewachsen, sie gehören zu jener Generation, aus der die Parteifüh- rung das neue China schmieden will. »Meine Erziehung war so rot, wie sie nur sein konnte.« Jeden Morgen lässt der Lehrer die Kinder über den Sportplatz laufen und sagt: »Ihr werdet die Weltrevolution verbreiten. Ihr werdet nach Asien, Afrika, Lateinamerika laufen, um die Revolution zu bringen.« Wang rennt los und stellt sich vor, wie er die Welt befreit. Er will ein Held sein. Den Feind, die USA, bekämpfen. »Unsere Erziehung war der Hass. Immer ging es darum, den Gegner auszulöschen. Den Kapitalismus, den Imperialismus. Wir wurden mit Wolfsmilch genährt.« Der Vorsitzende Mao ist ihm alles.

Noch heute, da Wang weiß, was Mao verbrochen hat, ist es ihm unmöglich, auf ihn zu schimpfen. Es würde sich anfühlen wie eine Majestätsbeleidigung. Nein, sagt er, »es steht mir einfach nicht zu«.

Nach Gründung der Volksrepublik 1949 treibt Mao sein Volk von Kampagne zu Kampagne. Er ist radikaler, als es Marx und Lenin je gewesen sind, er will mehr als die Revo- lution, er will den permanenten Volkskrieg. Er glaubt, dass der revolutionäre Eifer alles erreichen kann, doch dafür müsse der revolutionäre Geist des Einzelnen wieder und wieder geschliffen werden: im Kampf. Pausenlos macht der Große Vorsitzende neue Feinde aus, eine Kampagne löst die andere ab. Im Jahr 1958 will Mao sein Land durch den Großen Sprung nach vorn gleichsam über Nacht in eine Industrienation verwandeln. Praktische Einwände gelten Mao nichts, seine abenteuerliche Wirtschaftspolitik löst eine Hungersnot aus, der mindestens 20, eher aber 40 oder 50 Millionen Menschen zum Opfer fallen.

Mao gerät deshalb politisch ins Abseits, die technokratischen Reformer um den Präsidenten Liu Shaoqi und Deng Xiaoping gewinnen Einfluss. Der Große Vorsitzende fühlt sich zunehmend isoliert. Er klagt, Deng Xiaoping behandele ihn wie die Leiche auf einer Beerdigung. Er respektiere zwar seinen Ruf, schere sich aber nicht um seine Ansichten.

Der Große Vorsitzende will zurück an die Macht und sucht Verbündete außerhalb der Partei: die Jungen, die ihm aufgrund des sorgfältig gepflegten Personenkults ergeben sind. Sie ruft er zur Rebellion auf: gegen Traditionen und Autoritäten, gegen Eltern, Lehrer und Führungspersonen.

In letzter Konsequenz will Mao so den Sturz der Regierung von Liu und Deng vorbereiten.

1966 erklärt Mao die Große Proletarische Kulturrevolution, sie wird zehn Jahre währen. »Zerschlagt das Alte, bombardiert die Hauptquartiere« befiehlt er seinen Rotgardisten. Und gibt ihnen sein Lieblingszitat aus dem Traum der Roten Kammer mit auf den Weg, einem klassischen Roman: »Derjenige, der keine Angst davor hat, mit 1000 Schnitten zu Tode gehackt zu werden, wird den Kaiser stürzen.«

Natürlich will Wang Jiyu Rotgardist werden, alle wollen das. Man muss dafür keinen Mitgliedsantrag ausfüllen und auch keinen Eid leisten, es genügt, ein Plakat zu malen mit einem Spruch wie »Schlagt die alte Welt kaputt«, und schon ist man auf der Seite der Revolution. Der Seite der Gewinner. Und keiner wagt mehr, dem Rotgardisten Wang Einhalt zu gebieten. »Wir liefen breitbeinig und stolz über die Straßen, wir dachten uns ›Ihr könnt uns alle mal‹«, sagt Wang Jiyu heute.

Im Namen der Revolution schlagen die Rotgardisten ihre Lehrer, zerstören jahrtausendealte Kulturgüter, demütigen, foltern all jene, die sie zu ihren Opfern erklären. Töten sie manchmal eigenhändig, treiben sie manchmal in den Selbstmord. Allein im »roten August« 1966 sterben in Peking 1700 Menschen eines gewaltsamen Todes. Doch obgleich die Rotgardisten ein gemeinsames Ziel verfolgen, bekämpfen sie einander vor allem selbst. Die Bewegung hat sich in verschiedene Gruppen aufgespalten, die einander spinnefeind sind, jede glaubt, die wahre Revolution zu vertreten.

»Einmal, gleich zu Beginn der Kulturrevolution, waren wir mit einer anderen Gruppe auf einer Wiese zur Schlacht verabredet.« Sie sind vorbereitet. Haben sich Lederstiefel angezogen. »Weil die auf Schädeldecken dieses Geräusch verursachen.« Sie machen sich zu mehreren über einen Einzelnen her. »Meine Freunde begannen, mit den Stiefeln auf seinen Kopf zu treten. Peng-peng-peng, das Geräusch wurde immer lauter, ich bekam es mit der Angst zu tun, ich rief: ›Hört auf, er wird sonst sterben.‹« Da nimmt ihn einer der Größeren zur Seite. »Was für ein Klassenbewusstsein hast du nur?« Er schaut ihn fest an. »Siehst du nicht, dass dieser Mensch Abschaum ist? Ein Volksfeind?«

Wang weiß nicht, was er sagen soll. Schaut zu Boden. Schämt sich. Steht er jetzt auf der Seite des Feindes? Nein. Er muss jetzt sein wie die anderen.

Wang rennt los, auf den Kopf des auf dem Boden Liegenden zu, der versucht, sich mit den Armen zu schützen. Als Wang das erste Mal zutritt, hat er noch Angst. Das zweite Mal fühlt er sich leichter. Das dritte Mal ist er euphorisch. Mit einem Mal weicht alle Wut, er fühlt sich frei, gelöst.

Die Kulturrevolution schreitet voran. Rotgardisten attackieren Beamte, Lehrer, manchmal die eigenen Eltern. Eine Kritiksitzung folgt auf die nächste, den Volksfeinden werden die Arme zur Flugzeugposition hochgedreht, sie tragen hohe Papiermützen, auf denen Schmähungen stehen. Sie müssen singen, während sie getreten und geschlagen werden, »wir sind die Rindergeister und Schlangengespenster« etwa. Die Rotgardisten plündern Züge, die Gewehre für den Vietnamkrieg transportieren sollen, sie holen sich Waffen aus den Fabriken, sie werden zu Armeehaufen. Der Machtkampf der Erwachsenen hat sich auf die Welt der Kinder und Jugendlichen ausgeweitet.

Wang und seine Freunde, an Privilegien gewöhnte Beamtenkinder, nennen sich »die alten Rotgardisten«. Sie sehen sich als Veteranen, als rechtmäßige Nachfolger der chinesischen Revolution. Jetzt aber sind ihre Eltern ins Abseits geraten, und die Gunst der Stunde schlägt denen, die sie einst verachteten: den Kindern einfacher Bauern und Arbeiter. Den Beamtenkindern ist das unerträglich, sie hassen die Emporkömmlinge, diese wiederum verab- scheuen die alten Privilegierten. Beide Lager formen Gruppen, die der Beamtenkinder heißt »Allianz«, die der Arbeiterkinder Gruppe »43«.

Am 5. August 1967, an jenem Tag also, an dem Wang Jiyu einen Jungen erschlägt, versammeln sich Hundert- tausende auf dem Pekinger Tiananmen-Platz. Sie demonstrieren gegen den Präsidenten Liu Shaoqi und den Reformer Deng Xiaoping, Maos Erzfeinde. Rotgardisten dringen in die Residenz des Präsidenten ein und schlagen ihn grün und blau. Zwei Jahre später wird er elend in einem Gefängnisloch verenden, in seinem Erbrochenen und seinen Exkrementen liegend.

Am Nachmittag radelt Wang zur Landwirtschaftsschule, die seit der Kulturrevolution geschlossen ist und zum Treffpunkt seiner Gang geworden ist. Die Freunde sind außer sich vor Wut. Gerade haben sie erfahren, dass einer der Ihren von der verfeindeten Rotgardistengruppe 43 ge- schlagen wurde. Sie schwören Rache: »Die machen wir fertig.« In der Werkstatt der Schule lagern Schaufeln, Spaten, Hacken. Wang überlegt, was ihm am besten als Waffe dienen könnte. Er entscheidet sich für einen Holzknüppel, einen dicken Stock, 1,60 Meter lang, an dessen Ende ein hölzerner, quadratischer Aufsatz steckt. Sie stellen sich im Kreis auf, die Waffen in den Händen, und wiederholen einen Satz von Lin Biao, einem weiteren von Maos designierten Nachfol- gern, den dieser später umbringen ließ: »Wenn wir den Schuss hören, gehen wir aufs Schlachtfeld. Und heute wer- de ich auf dem Schlachtfeld mein Leben lassen.« Das ist ihr Motto. Ein anderes lautet: »Blut für Blut, Leben für Leben.«

»Damals«, sagt Wang Jiyu heute, »begann wirklich der Krieg.«

Sie warten, es wird Nacht. Die Jungs der 43 haben sich vor der Schule versammelt, auch sie halten Spaten, Hacken und Knüppel in den Händen. Wang und seine Freunde treten vor die Tür. Ein Lastwagen fährt vor, auf der Ladefläche Männer in Blaumännern und Helmen, es ist die Ver- stärkungstruppe der 43. Insgesamt sind sie jetzt 100 bis 200. Sie haben Wangs Gruppe eingekreist, die zählt keine zwei Dutzend. »Wir waren mit den Nerven am Ende. Als Reaktion wuchs unsere Tollkühnheit ins Unermessliche. Völlig egal, ob du jung bist, klein oder schwach, der Stock in deiner Hand ist jetzt alles.«

Sie stellen sich auf. Wang lässt seinen Knüppel von einer Hand zur anderen wandern. Er sieht die Männer der 43 auf sich zurennen, schaut in verzerrte Gesichter, sie rufen im Chor: »Wir schlagen euch tot.«

Mit einem Mal steht der Junge vor ihm. Es sind nur Sekundenbruchteile, und doch fällt ihm auf, wie gut der andere aussieht. Etwas größer als 1,80 Meter, dichte Augenbrauen, die Lippenkontur klar gezeichnet. Er trägt einen Helm, hält einen Pflasterstein in der Hand. Er will ihn auf Wangs Kopf schmettern, Wang kommt es vor, als geschähe das in Zeitlupe. Er reißt die Arme vor seinen Kopf, der Stein landet auf seinen Händen, der Schmerz durchzuckt ihn, es tut so weh, dass Wang dadurch wieder klar wird. Er greift den Knüppel fester. Hört seine eigene Stimme sagen: »Ich werde dich totschlagen.« Er springt, so hoch er kann, lässt den Knüppel über seinem Kopf kreisen, der andere flüchtet, Wang rennt hinterher. Er holt mit dem Knüppel aus, trifft den anderen auf den Kopf. Sein Helm fliegt in weitem Bogen weg.

Der andere rennt weiter. Wang holt erneut aus. Der zweite Schlag trifft ihn am Hinterkopf. Der andere fliegt zu Boden, er wirkt mit einem Mal schlaff wie ein Stoffsack, rollt über den Asphalt, bleibt liegen.

Wang beobachtet, wie er aufstehen will. Er stützt schon die Arme auf dem Boden auf, »da versetze ich ihm einen dritten Schlag auf die linke Stirn. Ich rufe ganz laut: ›Du läufst mir nicht mehr davon.‹ Ich bin ausgelassen. Es ist eine Freude, einen Menschen zu schlagen.«

Blut auf dem Asphalt, der andere liegt darin. Blut auf Wangs Knüppel.

Freudenschreie dringen an sein Ohr, es sind die Stimmen der Freunde. »Wir haben gewonnen.« Einer ruft voll Stolz: »Wir haben einen von ihnen erschlagen.«

»Ich erschrecke, als ich das höre. Ich frage, wer hat hier jemanden erschlagen? Sie sagen: ›Na, du.‹« Er schaut sich um. Stadt, Gesichter, Sommernacht. Er denkt: »Es kann nicht sein.« Er schließt die Augen, öffnet sie wieder. Alles ist noch genauso wie vorher. »Da begriff ich, dass ich die größte Sünde begangen habe, die ein Menschen nur begehen kann. Wer das tut, landet in der 18. Hölle. Der

letzten, der tiefsten, der schwärzesten.«

Sie tragen die Leiche zur Krankenstation. In der Nacht des 5. August 1967 steht Wang Jiyu vor einer Krankenliege. Darauf liegt ein Junge. Blutblasen am Hals und auf der Lippe. Blut quillt aus einer Wunde in der Schlagader. Blut rinnt aus dem Mund. Der Junge atmet noch aus, doch er atmet nicht mehr ein. Die Augen sind halb geschlossen, die Pupillen weit. Wieder denkt sich Wang: Wie gut er aussieht. Zhang Youhao, 21 Jahre alt. Das Kind einfacher Arbeiter.

Wang greift den Arm der Ärztin, er klammert sie so fest, dass sie aufschreit. »Kann man ihn noch retten?«, fragt er. Sie streicht seinen Arm beiseite. »Lass mich los«, sagt sie, ihre Stimme ist kühl.

»Wir können nichts mehr für ihn tun.«

Von diesem Moment an gehören die beiden Jungen zusammen. Von diesem Moment an wird Zhang seinen Mörder nie mehr loslassen.

Nachdem Wang ihn geschlagen hatte, stach ein anderer dem Opfer einen Speer in den Hals, ein dritter versetzte ihm weitere Schläge. Sie waren drei Mörder, Wang Jiyu war der erste. Seine Schläge allein hätten ausgereicht, Zhang zu töten, erklärt später der Staatsanwalt: »Du bist der Hauptschuldige.«

Den folgenden Monat über versteckt sich Wang Jiyu zu Hause, die Haare gehen ihm büschelweise aus. »Vor dem Einschlafen denke ich: Ich bin ein Mörder. Beim Wachwerden denke ich: Ich bin ein Mörder.« Eines Nachts erscheint ihm im Traum eine Frau. Sie ist sehr groß, trägt ein weißes, durchsichtiges Gewand, von Blutflecken verschmiert. Er kann ihr Gesicht nicht sehen. Er liegt auf einem Holzbrett, es gibt kein Kissen und kein Laken, das Brett ist unerträglich hart. Er möchte aufstehen, doch er kann sich nicht rühren. Er hört sie sagen: »Du wirst 10 000 Jahre lang hier liegen bleiben. 10 000 Jahre.«

Wang will fortgehen und beschließt, in den Vietnamkrieg zu ziehen. Er nimmt den Zug nach Süden, schaut aus dem Fenster und sieht Kämpfe im ganzen Land. Rotgardisten kämpfen gegen Rotgardisten, Jugendliche gegen Jugendliche, Kinder gegen Kinder. Auf der Insel Hainan besucht er ein Marinekrankenhaus, darin liegen drei Tote, die als Passanten zufällige Opfer der Straßenkämpfe der Rotgardisten wurden. Ein kleines Mädchen, das Zuckerrohr verkaufen wollte. Ein alter Bauer, dessen Kopf in Stücke gehauen wurde. Ein Kader aus Dalian.

Wang wird als Soldat abgelehnt. Er schreibt einen Brief an seine Eltern: »Ich will nach Peking zurück. Ich muss ein Geständnis ablegen.« Der Brief scheint abgefangen worden zu sein, am 14. Dezember stehen Soldaten vor seinem Haus in Hainan, um ihn festzunehmen. Wang ist erleichtert, er sehnt sich nach Strafe: »Wenn das Gesetz dich nicht straft, straft dich dein Herz.« Neun Monate verbringt er in einem Gefängnis in Peking, anschließend kommt er zur Umerziehung, doch das genügt ihm nicht.

»Das war keine Strafe, sondern nur ein bisschen Dekoration.«

Er versucht zu vergessen. Geschäfte, Familie, Vergnügungen, Abenteuer. Eine Zeit lang gelingt es. Wang, Geschäftsmann im Süden des Landes, denkt beinahe nicht mehr an damals. Dann wird er 50. Und mit einem Mal kriecht Angst in ihm hoch. Er leidet unter Albträumen. »Ich glaube, fast jeden, der etwas verbrochen hat, holt es mit 50 ein. Plötzlich ist die Erinnerung da, und du kannst nichts dagegen tun. Das Gewissen meldet sich jede Sekunde.«

Jahr um Jahr verbrennt Wang Totengeld für Zhang Youhao. Wenn er in die Flammen schaut, spricht er zu ihm: »Zhang Youhao, kannst du mir verzeihen? Wenn du mir nicht verzeihst, kann ich mir nicht verzeihen. Wenn du mir nicht vergibst, bleibe ich in deiner Schuld, mein Leben lang. Ich muss den Schmerz ertragen.«

Die Freunde sagen: »Das waren die Zeiten damals, jeder hat doch Dreck am Stecken. Lass endlich los.« Er aber sagt: »Nicht jeder ist zum Mörder geworden.« Die Freunde sagen: »Bete, glaube, beichte.« Er aber sagt: »Religion ist kein Ausweg.« Er will sich erneut der Polizei stellen, doch die Tat ist verjährt. Kein irdischer Richter, vor den er treten kann. Schlecht sei die Kulturrevolution gewesen, erklärt die Regierung, doch schuld daran sei vor allem die »Viererbande« gewesen, und die sei ja jetzt weg. Mao sei zu 70 Prozent gut und zu 30 Prozent schlecht gewesen. Die Regierung will die Katastrophe in einer mathematischen Formel auflösen.

Es ist nicht verboten, über die Kulturrevolution zu sprechen, die Frage ist nur, wer das wie tut. Es gibt in China keine ausgesprochenen Regeln der Zensur, genau das macht es so heikel. Noch immer regieren Willkür und Angst, auch das ein Erbe der Kulturrevolution. Und wollen viele nicht lieber verdrängen? In einem Land, in dem Opfer noch heute neben Tätern leben, in dem selbst Kinder einst ihre Eltern verrieten? Vergessen, am besten vergessen, immer voran.

Wang konnte es nicht. Er musste seine Schuld niederschreiben. Ein öffentliches Geständnis. »Ich trage die Schuld, einen Menschen getötet zu haben«, lautet der Titel des Manifests, an dem er drei Jahre lang schrieb. »Tu das nicht«, hatte seine Frau gewarnt, »du handelst dir nur Ärger ein.« Vor fünf Jahren veröffentlichte er sein Manifest, es ist das erste öffentliche Geständnis eines Rotgardisten. Einige wenige haben es ihm mittlerweile nachgetan. Schüler, die ihre Lehrer misshandelten. Ein Junge, der seine Mutter denunzierte und damit in den Tod jagte.

Der Onkel seines Opfers Zhang Youhao richtete Wang von der Familie aus: »Wir werden dir nie verzeihen, doch wir respektieren dich. Du hast gestanden.« Seit er es getan hat, sagt Wang, fühle er sich leichter. Noch immer erscheine ihm Zhang Youhao im Traum, doch Wang hat akzeptiert, dass er für immer Teil seines Lebens bleiben wird. Ihm bliebe nur eines: mit ihm zu leben. »Ich weigere mich, zu vergessen. Ich glaube weder an Götter noch an Geister. Doch ich glaube an die Kraft der Wahrheit.«

Er schaut aus dem Fenster. Am Horizont breiten sich die Duftberge aus. Davor erhebt sich eine Reihe von Pappeln. Der Wind spielt mit ihren Blättern, weiß und grün.

Veröffentlicht September 2015 in Die Zeit