Ein Königreich für ein Schaf

@ Christian Bobst
Schafe sind für die Menschen im Senegal Mitbewohner, Statussymbol, Politikum. Annäherung an das bedeutendste Wesen des Landes.

Die Schafe sind überall. Sie bevölkern Hauseingänge und Bürgersteige, drängen sich auf den Inseln der Verkehrskreisel, blöken von Dächern herab. Gemächlich überqueren sie die Straßen, mit einem Selbstbewusstsein, das in Indien gerade mal heilige Kühe aufbringen würden. Ja, man findet sie selbst dort, wo man sie nicht unbedingt vermuten würde. Bisweilen dringt ihr Blöken hinter den Mauern der Kasernen hervor.

Nur einmal im Jahr wird es gespenstisch still. Dann verstummt, kurz vor der Mittagszeit, das Blöken aus abertausenden Schafkehlen. Im Sommer, an einem Zeitpunkt, der nach dem Stand des Mondes berechnet wird, feiert der Senegal Tabaski, das muslimische Opferfest, in arabischen Ländern auch als Eid al-Adha, in der Türkei als Bayram bekannt. Zur Feier des Glaubens schlachtet jede Familie an diesem Tag ein Opfertier, im Senegal ist es ein Schaf.

Doch es soll hier nicht um den Tod gehen, sondern um das Leben. Denn im Senegal, dem westlichsten Land des afrikanischen Kontinents, ist die Schafszucht eine kollektive Leidenschaft. Der Bäcker, die Schneiderin, der Mechaniker, der Wunderheiler, der Politiker, sie alle teilen eine Leidenschaft: die Aufzucht von Schafen. Das Schaf spendet seinen Haltern Trost und Nahrung, es ist Opfer-, Haus- und Schutztier, mal Hobby, mal Bankkonto und Statussymbol. Und manchmal macht es sogar Politik. In den meisten Ländern bevölkert das Schaf Weiden und Bauernhöfe.Im Senegal hat es die Städte erobert, allen voran die Hauptstadt Dakar. Manche sprechen gar vom „geheimen Leben“ dieser Stadt. Und wer ihm nachgeht, lernt so manches über das Land.

Da ist Khulam Kane, den sie den Schafkönig der Medina nennen, einem Stadtviertel mit besonders hoher Schafdichte. Kane, 32 Jahre alt, könnte auch als Berliner Hipster durchgehen, Vollbart zur Wollmütze bei 30 Grad. Die Schafe sind Kanes Metier. Sein Reich befindet sich gleich an der Corniche, jener Straße, die sich an der Steilküste entlangwindet und die Politiker und Tourismusunternehmer gerne als Prachtstraße Afrikas preisen, was durchaus gerechtfertigt wäre, ließe man sie an manchen Ecken nicht ein wenig verkommen. Jedenfalls befindet sich hier, verborgen hinter einem Bretterzaun, ganz unerwartet ein wenig bukolische Idylle. Schafe weiden vor einer Strohhütte, Truthähne picken ein paar Körner auf, Männer bereiten im Schatten eines Baumes grünen Tee. Kane krault seinen Tieren die Hälse, genüsslich legen sie die Köpfe zurück. Hier im Stall sei er glücklich, sagt er. „Denn sie sind wie wir. Du siehst sie aufwachsen wie kleine Kinder.“

Da ist Rokhaya Gueye, 86, die am Strand von Ngor Schafe und Pelikane hält, zwei Arten, die es gut miteinander aushielten. „Schlafen die Schafe, machen es sich die Pelikane auf ihren Rücken gemütlich.“ Gueye hat drei Kinder, unzählige Enkel und noch viel mehr Schafe aufgezogen. Ihre Tiere verkaufe sie nicht, sagt sie, außer sie brauche Geld für einen Notfall. „Sie sind eine Art Bankkonto für schlechte Zeiten.“ Während sie erzählt, zerkleinert sie den Karton, den sie ihren Tieren gleich vermischt mit Erdnusskraut kredenzen wird. Viele Schafhalter füttern ihren Tieren Karton bei, alle Arten von Pappe sind daher heiß begehrt. Das stellte ich erstaunt fest, als ich vor einem Jahr in den Senegal zog und sich die Nachbarn um meine leeren Umzugskisten rissen.

Und da ist schließlich Papa Demba Fall, Soziologieprofessor, eine Choreophäe auf dem Gebiet der Migration und passionierter Schafhalter. Er hat seinen Schafen und Ziegen – er besitzt Exemplare aus der ganzen Region – ein eigenes mehrstöckiges Haus gebaut. Beschäftigt eine Haushaltshilfe eigens für seine Tiere. Im ersten Stock seines Schafhauses hat er sich ein Büro eingerichtet, hierher zieht er sich zurück, um seine wissenschaftlichen Studien zu verfassen. Das leise Blöken, es ist ihm Inspiration. Fall hat eine Studie zur urbanen Schafzucht verfasst. Schon lange, bevor der Islam in den Senegal gelangte, hielten die Menschen Schafe zu Hause, sagt Papa Demba Fall. Bevorzugtermaßen weiße. „Das weiße Schaf war ein Schutztier, das eine therapeutische und soziale Funktion erfüllte“, sagt Fall. „Man sagt: was dem Tier widerfährt, wird auch der Familie geschehen.“ Als Haustier sei es ohnehin beliebt, „denn während sich die Nachbarn am Bellen der Hunden stören, echauffiert sich keiner über sanftes Blöken.“

In einem Land, das die Gastfreundschaft feiert und die Türen traditionell allen Nachbarn offen standen, verstört ein Wachhund noch heute viele Menschen. „Als wir uns einen Wachhund zulegten, geriert all unsere Nachbarn in Aufregung“ sagt die Schriftstellerin Mariama Ndoye. Ein Schaf hingegen verschreckt keinen, freundlich mäht es die Besucher an.

Doch Dakar wäre nicht Dakar, eine der stolzesten Städte Westafrikas, berühmt für ihre Schneider, in den Nachbarländern berüchtigt für ihre Überheblichkeit, wenn es nicht auch darum ginge, zu zeigen, was man hat. „Wir sind Snobs“, sagt Fall. Und deshalb wird das Schaf für den, der hat, zum Statussymbol. Man präsentiert seine Tiere Geschäftspartnern und Konkurrenten, der Schafsstall wird zum Salon, einem Ort, an dem man ungestört Geschäfte besprechen kann – so wie man andernorts auf den Golfplatz geht. Es gibt die Züchter und Tierärzte der Haute Volée, bei denen sich die Reichsten und Wichtigsten der Republik einfinden. Erlesene Tiere macht man Ministern, Geistlichen, Gönnern zum Geschenk.

Vor Tabaski, dem Opferfest, pflocken viele Bewohner Dakars ihre Tiere vor der Haustür an – jeder kann dann genau sehen, was der andere sich leisten kann. Ohnehin wird das Schaf vor Tabaski zur Homestory. Nachrichtenportale zeigen Stars und Politiker beim Schafkauf. Jeder zweite Züchter behauptet, die First Lady habe ihr Schaf im vergangenen Jahr bei ihnen gekauft. Könnte ja den Absatz steigern.

Tiere gibt es für jeden Geldbeutel. Ein kleines Tier der Rasse Baly-Baly kann man für umgerechnet 80 Euro bekommen. Ein großes Ladoum aber, eine Züchtung der Luxus-Klasse, kann auch mal fünf Millionen westafrikanische Francs kosten, umgerechnet 8.000 Euro. Vor ein paar Jahren schlug ein Züchter ein Angebot von 52 Millionen Franc für seinen schönsten Ladoum-Widder aus, umgerechnet 80.000 Euro.

Manche Halter nennen ihre Tiere schnöde „der Große“ oder „die Dicke“. Andere verleihen ihnen stolze Titel: Tyson oder Manga wie die Champions des senegalesischen Ringkampfs. Isaora wie die Heldin der brasilianischen Telenovela. Sie benennen sie nach Politikern, den großen Marabouts, religiösen Führern, oder der ersten Dame der Republik. Einige hängen ihren Tieren Amulette um, um sie vor dem bösen Blick zu schützen. Und fast alle achten darauf, das weiße Fell so strahlend wie möglich zu halten. Deshalb übernehmen am Wochenende die Schafe die Strände, die doch für gewöhnlich das Reich der Fischer, Surfer, Muskelmänner und Strandschönheiten sind. Denn so wie der Deutsche am Wochenende sein Auto wäscht, wäscht der Senegalese am Wochenende sein Schaf – oder er bezahlt ein paar Nachbarsjungen, es für ihn zu tun. Und was ist das für ein Spektakel. Wie sie das Fell der Schafe im Sand peelen, es ins Meer drücken und schubsen. Bisweilen zieht der Züchter sein Schaf an den Vorderhufen in die Wellen, und vom Strand aus sieht es aus, als führe der Schafshalter einen merkwürdigen Tanz mit einer widerwilligen Partnerin aus.Einmal gewaschen, bürsten und kämen die Schafscoiffeure das Fell, bis es ins neuen Glanz erstrahlt – vor allem an Tabaski.

Am Opferfest feiern Muslime die fromme Hingabe Abrahams. Der war, so ist es überliefert, bereit, dem Allmächtigen sogar das Leben seines Sohnes zu opfern. Als Abraham aber das Messer an den Hals seines Sohnes setzte, hatte der Allmächtige einen Widder an die Stelle des Jungen gezaubert. Deshalb schlachtet zum Festtag möglichstjede Familie ein Schaf, das anschließend in drei Teile geteilt wird: einer für die Armen, einer für Verwandte, Freunde und Nachbarn, einer für die Familie. Es ist ein Feiertag der Großzügigkeit. Und stellt damit jene, die wenig haben, vor echte Herausforderungen. Sollte ein erwachsener Sohn oder Familienvater doch nicht nur das Schaf, sondern auch neue Kleider für die ganze Familie besorgen. Am besten gleich mehrere, damit man sich am Festtag mehrmals umziehen und in stetig neuem Glanz erscheinen kann. Besondere Finesse aber verlangt das Fest all jenen Ehemännern ab, die in Vielehe leben. In Senegal sind das immerhin ein Drittel aller Verheirateten. Die Tradition will, dass ein polygamer Ehemann der Familie jeder Ehefrau ein Schaf spendet. Die diplomatisch heikle Aufgabe des Gatten ist es nun, möglichst gleich große Schafe zu finden. Wehe, das der einen Ehefrau ist größer als das ihrer Konkurrentin. »Einer grande dame wie mir schleppst du diese Katze an?«, gilt noch als gnädige Reaktion. Augenzeugen berichten von tätlichen Auseinandersetzungen auf offener Straße, bei denen knausrige Ehemänner mit Handtaschen traktiert wurden.

Vor dem Opferfest sind daher viele auf Geldsuche, hauen Verwandte, Nachbarn, Kollegen und alte Schulkameraden an. Jeder der im Ruf steht, erfolgreich oder wohlhabend zu sein, wird von vielen Seiten aus traktiert, bearbeitet, in der Hoffnung, ihm oder ihr doch noch eine Gabe aus den Rippen zu leihern. Nicht wenige erschöpft das. Sie schalten schon Wochen vor Tabaski ihr Telefon ab.

Das Opferfest stellt auch die Regierung vor große logistische Herausforderungen. Die Zeitungen werden nicht müde zu betonen, wie wichtig für den sozialen Frieden es doch sei, die Nachfrage nach Schafen zu befriedigen. Bei einer Bevölkerung von 15 Millionen Menschen, die zu 95 Prozent dem Islam anhängen, benötigt das Land eine große Menge Schafe. Schätzungen zufolge sollen es 750 000 sein, das kann der heimische Markt nicht bieten. Politiker reisen in die Nachbarländer, um die Versorgung sicherzustellen, vor allem nach Mali und Mauretanien. Einmal bezog der Senegal die Schafe sogar aus Ungarn. Für die Nachbarländer Senegal und Mauretanien, die sich für gewöhnlich in heftiger Abneigung gegenüberstehen, ist der Schafhandel ein seltener Moment der Kooperation. Die Zeitungen preisen die diplomatische Finesse des Schafs. Sie nennen das „Schaf des Friedens.“

Published on 21. August 2018 in Die Zeit