„Du bist jetzt ein Geist“

In Tacloban auf den Philippinen sind die Toten noch nicht begraben, der Präsident versagt, und das Leben ist nicht unterzukriegen

Sie sitzt am Straßenrand, während der Mond aufgeht und sich die Nacht über die Stadt legt. Die Dunkelheit ist gnädig; sie verbirgt den Schutt, den Dreck, die Zerstörung.

Die Frau sitzt auf dem Trottoir vor der Kirche. Maricel Katalia, 23 Jahre alt. Neben ihr liegt ein Sack, wie man ihn an diesem Tag schon oft gesehen hat. Der Sack ist zu groß, oben und unten, das lässt sich schon von Weitem erkennen. Die Frau hat einen Namen darauf geschrieben: Lea Marie Brando.

Lea Marie wäre am Vortag vier Jahre alt geworden. Sie hätten gefeiert, mit Kuchen und Kerzen, doch es gibt keine Feier. Es gibt nur diesen Sack auf dem Asphalt.

Heute morgen hat Maricel Katalia ihre Tochter gefunden. Zehn Tage lang hatte sie nach ihr gesucht, seit die Welle ihre Tochter aus den Armen der Großmutter gerissen und mit sich weggetragen hatte. Sie hatte unter dem Schutt gegraben und nach den Körpern im Wasser Ausschau gehalten. Sie fand das tote Kind unter einem Stapel Leichen. Die Schweine fraßen davon.

Die Mutter steckte die Tochter in einen der Säcke, die es jetzt überall gibt. Sie hat kein Geld für einen Sarg, sie hat kein Geld für ein Begräbnis. Sie wartet auf den Lastwagen, der die Leichen abholt, der sie fortbringt zu einem Platz nahe dem Friedhof, wo ein Massengrab ausgehoben wurde. Sie wartet und hört nicht auf zu weinen.

Wenn sie in Tacloban über die Toten sprechen, sagen sie nicht „die Leichen“. Sie sagen „die Körper“, als könnte sie das zurückholen.

Was die Flut fordert, das gibt sie nicht mehr her. Sie ist ungerecht, willkürlich, sie holt sich die einen und gibt die anderen frei.

Der Schreiner Arcadio Ausa läuft über jenen Flecken, der bis vor Kurzem der Fischmarkt Taclobans war; jetzt erheben sich hier Berge aus Schutt und Ruinen. Dazwischen ein Damenschuh, ein Federball, ein roter Kühlschrank. Ein bunt bemaltes Fischerboot thront, hundert Meter vom Ufer entfernt, auf dem Schutt gleich einer Arche Noah.

Arcadio Ausa trägt noch immer den Helm auf dem Kopf, dabei ist er längst vom Motorrad gestiegen. Vielleicht hält einer, dem beinahe der Himmel auf den Kopf gefallen wäre, das Haupt gern bedeckt.

Am 8. November zog der gigantische Taifun über die Philippinen, vor allem über die Inselgruppe der östlichen Visayas, deren Zentrum Tacloban ist. Ausa lebte mit seiner Familie in einem Holzhaus, das er selbst gezimmert hatte, ein paar Meter vom Meer entfernt. Um drei Uhr morgens kam der Regen. Um fünf Uhr setzte der Wind ein, so laut, dass man kein Wort verstehen konnte, seine Geschwindigkeit erreichte mehr als 300 Stundenkilometer.

„Das Schlimmste aber“, sagt Ausa, „war die Sturmflut.“ Gegen sieben Uhr morgens zog sich das Meer zurück. Ausa wusste, das war kein gutes Zeichen; er hatte den Tsunami erlebt, da war das auch so gewesen. Er floh mit seiner Familie aufs Dach. Hielt sie im Arm, als die Flutwelle auf sie zuraste, fünf Meter hoch. Die Welle riss das Haus aus dem Betonfundament, nahm es mit sich, Ausa betete und sagte sich: Es ist vorbei. Nach hundert Metern kam das Haus zum Stehen, die Familie hatte überlebt.

Den Supermarkt kann man nur noch an den Fliesen erkennen, der Rest ist weg

„Drei Tage lang hatten wir nichts zu essen. Wir verschlangen alles, was wir auf der Straße finden konnten. Wir waren wie Zombies.“ Dann kam die erste Hilfslieferung. Frisches Wasser, ein wenig Reis und Konserven.

Tacloban, zu 95 Prozent zerstört, ist jetzt eine Stadt der Untoten und der Geister. Hier lebten 220.000 Einwohner. Die offizielle Zahl der Todesopfer in den vom Taifun betroffenen Gebieten lag am Dienstagabend bei fast 4.000 Menschen. Doch Feuerwehrhauptmann Rodrigo Almaden, der mit dem Bergen der Leichen in Tacloban beauftragt ist, sagt, es seien erst zehn bis 15 Prozent der Leichen in der Stadt geborgen.

Auf dem Boden dessen, was einmal ein Supermarkt war, steht ein Prinz. Was hier vorher war, kann man noch an den Fliesen erkennen, der Rest ist verschwunden. Wilmar Terado, 23 Jahre alt, ist Make-up-Artist, Choreograf, Tänzer. Und Prinz beim traditionellen Festival der Stadt im Sommer. Er führte den Feuertanz auf, drehte sich, Fackeln haltend, im Kreis, spuckte Feuer.

Als er sich diese Woche mit neun anderen Mitkünstlern treffen wollte, waren fünf tot und zwei vermisst. „An die offiziellen Zahlen, die 2.000, 2.500 Toten, von denen der Präsident sprach, glaube ich nie und nimmer.“ Wenn seine Freunde aus anderen Städten anrufen, sagen sie: „Du bist jetzt ein Geist, denn du lebst in einer Stadt der Geister.“ Das macht ihn wütend. „Tacloban ist keine Stadt der Geister, wir werden es wieder aufbauen.“

Denn Tacloban ist auch eine Stadt der Überlebenden. Die ersten Straßenverkäufer grillen schon wieder Spanferkel, während anderswo noch die Toten geborgen werden. An einer halb verfallenen Mauer steht mit ordentlicher Hand geschrieben: „Erinnerung an die städtische Verordnung 2007 10/31, auch bekannt unter dem Namen: ›Revidierte Verordnung gegen das unerlaubte Wegwerfen von Müll‹.“

Da ist die alte Frau, die in einem Evakuierungszentrum Unterschlupf gefunden hat und sich ihre kahle Bleibe mit Engeln, Weihnachtsmännern und blinkenden Weihnachtsbäumen ausgestattet hat, aus dem zerstörten Kaufhaus. Da liegt in einem Fluss voller Schutt ein totes, aufgedunsenes Schwein, bizarr verdrehte Hufe von sich streckend. Am Ufer davor kauert ein Friseur, der mit einer Zahnbürste andächtig eine Seifenschale reinigt. Da ist das gewaltige Massengrab, in das Leichnam um Leichnam gelegt wird. Auf der Straße davor laufen die Kinder entlang, die im Elendsviertel gegenüber leben. Sie lassen roten Luftballone fliegen. Da ist große Trauer und unerschütterlicher Überlebenswille. Und so viel Wärme und Offenheit.

Nicht überall. Seit Kurzem hat der Markt der Plünderer geöffnet. Auch Lori Robelios, redselig, temperamentvoll, umwerfendes Lachen, bietet am Straßenrand ihre Schätze feil. Jeans für 150 Pesos, umgerechnet 2,50 Euro. Sie redet nicht lange darum herum: Die Jeans hat der Ehemann im Kaufhaus mitgehen lassen, und sie stand als Wache daneben. Was im Grunde ganz unnötig war, denn es gab keine Polizisten, bloß andere Plünderer. „Was sollen wir machen, ich habe sechs Kinder, irgendwie muss man über die Runden kommen.“

Nach der Katastrophe brach die lokale Verwaltung vollständig zusammen. Einige Tage lang herrschten anarchische Zustände, sogar kommunistische Aufständische infiltrierten das Gebiet. Bei einem Anschlag auf einen Hilfslaster wurden zwei dieser Rebellen erschossen. Inzwischen fährt die Polizeipatrouille nachts durch stille, dunkle Straßen (noch immer gibt es fast nirgends Strom), zudem wurde eine Ausgangssperre verhängt. Es herrsche wieder Ordnung, sagt ein Polizeioffizier.

Langsam, viel zu langsam verteilt sich die Hilfe über die Stadt. Auf dem Flughafen von Tacloban landen die Propellermaschinen von Armeen und privaten Organisationen, Dutzende Länder helfen oder haben ihre Hilfe zugesagt, unzählige nationale und internationale Vereine und Verbände sind am Werk. Das ist auch dringend nötig, die philippinische Regierung ist hoffnungslos überfordert. In den ersten sechs Tagen nach dem Desaster gab der Staat nach Regierungsangaben nicht mehr als 50 000 Nahrungsmittelpakete aus; sie reichten nur für einen winzigen Bruchteil der Hungernden. Offiziellen Informationen zufolge sind vier Millionen Menschen obdachlos geworden, etwa 2,5 Millionen Menschen benötigen dringend Nahrung.

Im Fischerviertel gleich hinter dem Flughafen schuftet Joseph Olsido. Er hat sich das T-Shirt ausgezogen und um den Kopf gewickelt, hält einen Hammer in der Hand und sieht damit aus wie einer der Helden aus einem alten chinesischen Propagandafilm.

Olsido ist eine Art Anführer in seinem Viertel. Alle helfen jetzt, den Schutt von der Straße zu räumen, damit die Lastwagen mit den Hilfsgütern durchkommen, „denn wenn wir auf die Regierung warten, sind da hinten irgendwann nur noch Leichen.“ Eine ganze Woche über hat Olsidos Familie nur eine einzige Hilfslieferung erhalten. Dabei leben sie doch gleich hinterm Flughafen. Es gab keine Medizin, die Kinder leiden unter Durchfall, und wenn es so weitergeht, setzen die Epidemien ein. Wenn jetzt der Präsident vor ihm stehen würde, dann hätte Olsido ihm etwas zu sagen, „eine ganze Menge“.

Der Präsident ist an diesem Tag tatsächlich an Olsido vorbeigefahren, doch er hat nicht angehalten. Benigno Aquino, genannt Noynoy, besichtigt Krankenhäuser und Hilfsstationen. Am frühen Abend steigt er vor einem Reislager aus dem Auto. Er wirkt unauffällig, still und irgendwie recht nett. Über seine Halbglatze hat er die verbleibenden Haare zur Seite gekämmt. Er hat ein schüchternes Lächeln und Augen, die ein wenig an einen Comic-Hund erinnern. Er hört genau zu, lächelt viel. Allerdings scheint er nicht der Typ zu sein, der die Ärmel hochrollt, den Schutt mit wegräumt. Der das Volk mit einer großen Rede inspiriert. Vor allem aber ist er offensichtlich völlig überfordert mit der Aufgabe, seinen Bürgern schnell und effektiv zu helfen.

Eine philippinische Zeitung titelte kürzlich: From Hero to Zero, vom Helden zum Niemand. Aquino hatte sein Land vorangebracht, in Infrastruktur und Sozialhilfe investiert, die Korruption bekämpft. Im ersten Halbjahr dieses Jahres wuchs die Wirtschaft so schnell wie nirgends sonst in Asien: um 7,6 Prozent. Gegen den erbitterten Widerstand der Kirche setzte Aquino die freie Verteilung von Verhütungsmitteln durch. Dann aber kam der Supertaifun.

Schon am zweiten Tag nach der Katastrophe reiste Aquino nach Tacloban, doch seine Bemerkungen kamen dort nicht gut an. Ein lokaler Polizeibeamter hatte die Zahl der Toten auf 10.000 geschätzt, Aquino meinte, es seien nur 2.000 bis 2.500; der Polizist wurde suspendiert. Als ein Geschäftsbesitzer beklagte, dass er ausgeraubt worden sei, schnappte Aquino: „Aber du bist nicht gestorben, oder?“ Eine Sprecherin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen klagte über das Chaos der Rettungs- und Versorgungsmaßnahmen; der Präsident ließ unterdessen über seinen Sprecher ausrichten, er wolle die am schlimmsten betroffenen Gebiete nicht besuchen, um die Lokalregierung nicht bei ihrer Arbeit zu stören.

Viele in Tacloban zürnen dem Präsidenten, manche haben für ihn Verständnis. „Was kann er denn für den Taifun?“, sagt die Plünderin Robelios.

Die Lokalregierung jedenfalls ist im Taifun in sich zusammengefallen. Vielleicht hat die Lähmung auch damit zu tun, dass sich in Tacloban zwei politische Clans gegenüberstehen, die das Land wie keine anderen geprägt haben: die Aquinos und die Marcos. Präsident Aquino ist der Sohn eines Volkshelden, der 1983 einem mysteriösen Attentat zum Opfer fiel. Erbost über den kaltblütigen Mord, erhob sich das Volk gegen den Diktator Ferdinand Marcos und stürzte das Regime – die Galionsfigur der Bürgerbewegung war die Witwe des Ermordeten, die Mutter des jetzigen Präsidenten. Imelda Marcos wiederum, die Frau des damals gestürzten Autokraten, stammte aus Tacloban. Sie ist als Diktatorengattin eine legendäre Figur, berüchtigt unter anderem für die 3000 Paar Schuhe, die sie einst besaß – doch trotz des beispiellosen Raubs am Volk wird sie in Tacloban geliebt und verehrt. Die 84-Jährige sitzt noch immer im Nationalkongress, der Bürgermeister von Tacloban ist einer ihrer Neffen.

Mitten in der völlig zerstörten Stadt steht daher, so gut wie unbeschädigt, das Imelda-Marcos-Museum. Eine ausladende Villa, die über Imeldas bescheidenem Geburtshaus errichtet wurde. Eine Orgie der opulenten Geschmacklosigkeit. Ein wandhohes Porträt gehört dazu, auf dem Imelda als Meerjungfrau den Fluten entsteigt, oder das Schlafzimmer, funkelnd vor Gold. Gern hätte man die Schätze betrachtet, wenn Gonzalo Lu einen gelassen hätte. Doch Gonzalo Lu ist, so sagt er selbst, „der schärfste Wachmann Taclobans“. Sein Chef hat ihm zu verstehen gegeben: Wenn hier eingedrungen wird, bist du deinen Job los.

Nein, sagt Lu, Plünderer seien nicht vorbeigekommen. Dabei ist dies wahrscheinlich der Ort Taclobans, an dem am meisten zu holen wäre. Die Obdachlosen, die in der Villa unterkommen wollten, hat Lu weggeschickt. Auch er und seine Familie sind obdachlos geworden, sie sind bis an die Villa herangezogen – auf die Terrasse. Wo immer die Menschen jetzt auch hausen, in Rikschas und verlassenen Schulen, in Ruinen und Evakuierungszentren – keiner schläft im schönsten Bett der Stadt.

Doch Lu sagt, es sei gut, wenigstens in der Nähe zu wohnen, weil das Museum auch Sitz eines mit geheimnisvollen Kräften ausgestatteten Wesens sei, des nino santo, des heiligen Jungen, „und der kann Wunder vollbringen“.

Das ist es, was Tacloban jetzt braucht: Hilfe und ein Wunder.

Am nächsten Morgen wird der wütende Oselio ein wenig Hilfe erhalten haben, Wasser und Medizin, Flip-Flops und ein Zelt. Der kleine Körper der Lea Marie aber wird noch immer auf dem Asphalt liegen.

Erschienen am 21. November 2013 in Die Zeit

Der Mond über Tacloban (Rückschau von 2016)

Am 8. November 2013 fegte der Jahrhunderttaifun Haiyan über die philippinische Stadt Tacloban. Ich war damals Asien-Korrespondentin in Peking und fuhr sofort ins Katastrophengebiet. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Und ob ich überhaupt nach Tacloban vordringen würde. Fast alle Fluglinien hatten den Verkehr eingestellt.

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Ich hatte Glück. Gemeinsam mit einem philippinischen Kollegen bestieg ich eine winzige Maschine. Als wir uns im Anflug auf Tacloban befanden, wurde es mit einem Mal ganz still im Flieger. Niemand sprach, alle starrten aus dem Fenster. Keiner von uns hatte jemals eine Zerstörung solchen Ausmaßes gesehen.

Eine Flutwelle hatte die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Fast kein Gebäude stand mehr, von vielen war nur mehr der geflieste Boden zu erkennen. Mächtige Eisenträger ragten in die Luft, Lkw hingen in Bäumen. Ein gewaltiges Schiff hatte es aus dem Meer kilometerweit in die Stadt getragen, jetzt thronte es wie die Arche Noah auf Ruinen.

Auf dem Flughafen herrschte Hektik. Flüchtlinge drängten sich vor den Schaltern, um eines der Flugzeuge auf andere Inseln zu erwischen. Internationale Hilfsorganisationen landeten, die Rotoren der amerikanischen Luftwaffe übertönten alles, Soldaten warfen Güter auf große Stapel.

Als wir in die Stadt fuhren, nahm ich jenen Geruch wahr, von dem ich bis dahin nur gelesen hatte: Leichengeruch, ekelhaft und süßlich. Schwarze Leichensäcke säumten die Straßenränder.

Wo immer wir haltmachten und mit Menschen sprachen, trafen wir auf die Katastrophe. Jeder hatte die Flutwelle aus einem anderen Winkel erlebt. So viele Familien hatten Kinder, Eltern und Großeltern, hatten ihre Häuser und ihr Hab und Gut verloren. Jeder hier war dem Tod begegnet.

Es war unendlich bedrückend. Und gleichzeitig erschien mir das Leben nie strahlender als inmitten dieser Finsternis. Menschen lachten und winkten uns zu, überall in der Stadt. Fast jeder, mit dem wir sprachen, sagte diesen Satz: „I am a survivor“ – „Ich bin ein Überlebender.“ Es lag so viel Kraft und Stolz darin, so viel Ungläubigkeit, in einer Stadt, nach der der Tod gegriffen hatte, überlebt zu haben.

Die Menschen stürzten sich in die Arbeit, räumten Schutt beiseite, gruben nach Verschütteten, bargen Leichen. In einem total überforderten Staat organisierten sie sich aus eigener Kraft.

Da waren die unverwüstlichen Gastronomen, die in den Ruinen bereits Spanferkel grillten, während auf der Straße noch die Leichensäcke ihrer Abholung harrten. Da war der schwule Friseur, der in aller Seelenruhe seine Habseligkeiten putzte. Sein Slum war komplett zerstört, die Häuser waren wie Pappkisten in den Fluss gefallen. Und am Ufer kauerte der Friseur und reinigte mit einer Zahnbürste, was ihm geblieben war.

Da waren die Kinder neben einem Massengrab, in das Freiwillige einen Toten nach dem anderen warfen. Und auf der Straße daneben ließen die Kinder rote Luftballons steigen. Sie lachten und tanzten, was wussten sie vom Tod? Sie lebten.

Am Abend fuhren wir an einer kleinen weißen Kirche vorbei, der das Dach fehlte. „Warte“, sagte der philippinische Kollege plötzlich. Vor dem Zaun kauerte eine Frau im weißen Kleid. Sie mochte vielleicht zwanzig sein, ihr Haar war dicht und lockig.

Vor ihr lag ein Leichensack, der an beiden Enden platt war. Das, was darin lag, war augenscheinlich sehr klein. Es war ihre Tochter. Die Flutwelle hatte sie der Großmutter aus dem Arm gerissen. Lange hatte die Frau nach ihrem Kind gesucht. Nach zehn Tagen fand sie es, unter einem Leichenberg. Wie sehr hätte sie dem Kind ein Begräbnis gegönnt. Jetzt saß sie hier und wartete auf den Lkw, der ihr Kind zum Massengrab bringen sollte.

Wir saßen lange, Arm in Arm, und weinten. Ich streichelte ihr Haar, während ihre Tränen mein Hemd nässten. Später liefen wir die Straße entlang, und mir fiel auf, wie schön der Mond war. Voll und riesengroß, beleuchtete er die Zerstörung. Ich konnte nicht begreifen, wie an einem solchen Ort ein so zärtlicher Mond am Himmel stehen konnte.