Digitale Demokratin

Audrey Tang ist jung, eine ehemalige Hackerin und Digitalministerin des Inselstaats. Sie soll ihr Land vor chinesischer Desinformation schützen –
und resilient gegen einen Angriffskrieg machen.

Eine Abendveranstaltung in Taipeh, die deutsche Bildungsministerin ist da, die Gäste flüstern, als plötzlich auf einer Leinwand eine Projektion von Audrey Tang erscheint. Sanft spricht die Taiwanerin ihre Grußworte, haucht »Freedom and Prosperity«, »Freiheit und Wohlstand«, zum Abschied, streckt schließlich die Handinnenfläche gen Publikum und spreizt Mittel- und Ringfinger: der Vulkanier-Gruß aus Star Trek – von einer Ministerin.

Audrey Tang ist Digitalministerin Taiwans, einer Insel, die von nur zwölf Ländern und dem Heiligen Stuhl offiziell als Staat anerkannt wird, und der die Kommunistische Partei Chinas mit Übernahme droht. Beinahe täglich dringen chinesische Kampfflugzeuge in die taiwanische Luftverteidigungszone ein, stoßen chinesische Regierungs- und Parteiorganisationen Verschwörungstheorien und Fake News aus, die von Content-Farmen, nationalistischen Blog-

gern, geneigten Influencern und willigen YouTubern wiedergekäut und weitergetragen werden.

Eine gigantische Menge an Desinformation, die dem Ziel dient, Taiwans Innenpolitik nach dem Willen Chinas zu steuern. Vor allem die Präsidentschaftswahl im kommenden Januar. Durch Cyberattacken treibt Peking die hybride Bedrohung voran. Und Tang ist Taiwans Antwort darauf.

An einem Tag im April sitzt die Ministerin in der Polsterecke ihres Büros, Laptop auf dem Schoß. Tang, lange Haare, T-Shirt zum Sakko, bezeichnet sich als »postgender«. Man dürfe sie gern »er« oder »sie« nennen, oder »was auch immer«.

Je weiter China unter Xi Jinping in die Diktatur rutscht, Uiguren und Tibeter unterdrückt, Hongkongern ihre Rechte nimmt, Anwälte und Unternehmer verhaftet, desto mehr präsentiert

sich Taiwan als das andere China: demokratisch, vielfältig, offen. Das erste Land Asiens, das Homosexuellen die Ehe erlaubt hat.

Dahinter steckt mehr als die Systemfrage.

Die taiwanische Regierung weiß, dass ihr Land demokratischen Staaten schützenswert erscheint: aufgrund seiner geostrategischen Lage, wegen des Konzerns TSMC, der die Welt mit rund 90 Prozent der modernsten Halbleiter versorgt, und weil es eine Demokratie ist. Keiner in Präsidentin Tsai Ing-wens Kabinett aber verbreitet mehr demokratischen Glamour als die exzellent Englisch sprechende Audrey Tang.

Risiko, sagt Tang, sei für sie nichts Neues. Sie war vier Jahre alt und noch ein Junge namens Tsung-han, als sie hörte, was der Arzt ihren Eltern, zwei liberalen Journalisten, sagte: Ihr Sohn habe wegen eines Herzfehlers eine 50-prozentige Chance, den Tag zu erleben, an dem er alt genug sei, sich der rettenden Operation zu unterziehen. »Bis ich zwölf war, lebte ich im Bewusstsein, ich könnte den kommenden Morgen nicht erleben. Das hat meinen Charakter geprägt.«

Vielleicht bewegt sie sich deshalb in so hohem Tempo durchs Leben. Mit acht Jahren bringt sich Tang selbst das Programmieren bei, ohne Computer, nur mit Zettel und Stift. »Es war, als würde ich ein Musikinstrument spielen«, sagt sie. Als sie elf Jahre alt ist, zieht

die Familie für ein Jahr nach Saarbrücken, wo der Vater seine Doktorarbeit über den chinesischen Tiananmen-Protest 1989 schreibt. »Er interviewt die Exilanten in unserem Wohnzimmer. In den Gesprächen geht es oft um Computer und die Möglichkeit der Vernetzung.« Das Internet wird Tangs Schule. Dort kommuniziert sie mit Experten aus der ganzen Welt. »Im Netz sieht ja keiner, dass du erst zwölf bist.« Mit 14 bricht Tang die Schule ab. »Ich sagte der Rektorin, dass ich mich auf meine Recherchen im Netz konzentrieren will. Die antwortete: Dann musst du nicht mehr kommen. Sie bot an, die Zeugnisse für mich zu fälschen.«

15 Jahre: Tang gründet mit Freunden eine IT-Firma. Später wird sie im Silicon Valley Apple und die Oxford University Press beraten. 32 Jahre: Tang hat so viel Geld verdient, dass sie erklärt, in den Ruhestand gehen zu wollen.

Daraus allerdings wird nichts, denn kurz darauf, 2014, protestieren in ihrer Heimat Studierende gegen die Regierung. Präsident Ma Ying-jeou von der Kuomintang-Partei setzt auf die enge Verflechtung mit der Volksrepublik und strebt ein umfassendes Dienstleistungsabkommen an. Die Studierenden fürchten die schleichende Übernahme.

24 Tage lang halten die Aktivisten der sogenannten Sonnenblumenbewegung das Parlament besetzt. »Die Demokratie braucht mich«, erklärt Tang und eilt nach Taipeh. Mit ihren Mitstreitern vom Hackerkollektiv g0v unterstützt sie die Studierenden, damit sie ihren Protest live aus dem Parlament streamen können. Am Ende gewinnen sie, das Abkommen wird gekippt. 2016 kommt die Demo-kratische Fortschrittspartei an die Macht, die auf größere Distanz zu China setzt.

Die neue Präsidentin Tsai Ing-wen macht Tang 2016 zur ersten Digitalministerin des Landes. Sie ist 35 und die Jüngste im Kabinett, zunächst eine Ministerin ohne Ministerium, ein frei schwebendes Radikal. Tang verbindet Hackertum, Technologie und Politik. Sie setzt sich für die digitale Neuerfindung der Demokratie ein, nutzt etwa in der Pandemie ihr Wissen, um Bevölkerung, Gesundheitssystem und Regierung zu vernetzen. So wussten die Menschen auch dank Tang, in welcher Apotheke wie viele Masken verfügbar sind.

Seit vergangenem August hat sie mit dem Ministry of Digital Affairs, kurz moda, ihr eigenes Ministerium, das sich ursprünglich auf die digitale Transformation konzentrieren soll. Ein

halbes Jahr zuvor war Putins Armee in der Ukraine einmarschiert. »In den ersten Tagen

blieb ich nächtelang wach und half, ›Kyiv Independent‹ und andere Websites auf den neuesten Stand zu bringen, damit die russische Propaganda nicht die Oberhand gewinnt«, erzählt sie in ihrem Büro. Es ging etwa darum, die Ukrainer mit schnellerem Internet zu versorgen. In diesem Moment sei ihr und der Regierung klar geworden, dass sie sich auch auf digitale Resilienz konzentrieren wird: die Widerstandskraft der digitalen Infrastruktur im Falle eines Angriffs.

Was derzeit in der Ukraine geschehe, könnte auch in Taiwan passieren, sagt Tang. Seither bereitet sie den Ernstfall vor, falls es Peking etwa gelingen sollte, alle Unterseekabel zu kappen. »Die heimische Kommunikation wird stehen. Dafür müssen sich die Computerzentren in Taiwan befinden, die digitale Infrastruktur muss von Partnern hier aufrechterhalten werden.« Um den Kontakt zum Rest der Welt gewährleisten zu können, installiert Taiwan mehr als 700 Satellitenempfänger, einige an festen Orten, andere auf Fahrzeugen. Tang kooperiert dabei mit mehreren Anbietern, »wir haben viel von der ukrainischen Erfahrung gelernt«. Zum Beispiel, dass man sich nicht den Launen eines Monopolisten aussetzen sollte. Das musste das ukrainische Militär lernen, das seit Kriegsbeginn auf den Satelliten-Internetdienst Starlink des Techmilliardärs Elon Musk setzt.

Tang sagt, sie bereite sich auf massive Cyberattacken vor, bei denen »der Angreifer 100-mal mehr Ressourcen in einen Angriff stecken kann als wir in die Verteidigung«. Als die damalige Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August 2022 Taiwan besuchte, war auf den Screens der Supermarktkette 7-Eleven der Schriftzug zu lesen:»Kriegstreiberin Pelosi, raus aus Taiwan!«

Die Angriffe auf taiwanische Regierungswebsites erreichten einen neuen Rekord. Peking bestreitet, dafür verantwortlich zu sein.

Taiwan, das hat das schwedische Forschungsinstitut V Dem gemessen, ist das Land, das am stärksten Desinformationskampagnen eines anderen Staats ausgesetzt ist. Chinesische Partei- und Regierungsorganisationen sind dabei extrem raffiniert. Beliebt sind derzeit etwa Verschwörungstheorien, die Zweifel am Beistand der USA säen und die taiwanische Bevölkerung demoralisieren sollen. Im Kampf dagegen setzt Taiwan vor allem auf die Zivilgesellschaft. »Wir

arbeiten hier mit mehreren Organisationen zusammen. Wenn ein Nutzer eine falsche Information entdeckt,kann er sie mit einer Flagge als Spam kennzeichnen und mit den Rechercheuren teilen.« Die gehen der Botschaft nach, checken sie auf ihren Wahrheitsgehalt und teilen ihre Ergebnisse mit allen Nutzern. Tang nennt das »kollektive Intelligenz«.

Um dieses Prinzip zu verstehen, das für Tangs Arbeit und ihr Verständnis von Demokratie zentral ist, hilft es, die Ministerin einen Moment lang zu verlassen und in die Welt einzutauchen, aus der sie stammt: das Reich der bürgerlichen Hacker. Alle zwei Monate findet am Informatikinstitut der Universität Academia Sinica in Taipeh ein Hackathon von g0v statt, jenem Kollektiv, das einst die Sonnenblumenbewegung unterstützte.

Ein Hörsaal mit quietschgrünen Stühlen, auf denen etwa 100 junge Menschen mit Laptops Platz genommen haben. Informatiker und Mathematikerinnen, Rechtsanwälte und KI-Expertinnen, Datenanalytiker, eine Ärztin, ein Philosoph, Expertinnen für Robotik und Maschinenlernen. Eine Frau sucht Mitstreiter für ein Projekt, das visualisieren möchte, wie Kandidaten für das Parlament zu LGBTQ-Rechten stehen. Ein Mann bittet um Helfer für eine medizinische

Konferenz. »Wir suchen Leute, die sich mit Medizin und Finanzen auskennen.« Ein Jurastudent sorgt sich nach einem gewaltigen Leak um den Datenschutz. Alle Anwesenden sind gekommen, um ihre Expertise in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, um unentgeltlich für Demokratie und

Transparenz zu arbeiten.

Im Getümmel sitzt CL Kao, er hat g0v mitgegründet und sagt, er kenne Tang seit mehr als 20 Jahren. Inzwischen hat die Ministerin zwar keine Zeit mehr für Hackathons, die Hacker können sie aber über den gemeinsamen Slack-Channel immer noch erreichen. Die Bewegung begann 2012, er-

zählt Kao, als er sich über einen Werbespot der damaligen Regierung im Fernsehen ärgerte. Darin hieß es, die Bürger sollten sich nicht darum sorgen, wie die Politik ihr Geld ausgebe, sondern ihr vertrauen. »Ich fand das skandalös.« Er rief einen Hackathon aus, Mitstreiter besorgten sich die öffentlich zugänglichen Daten und visualisierten, wie die Regierung mit den Steuergeldern umging. Später nahmen sie sich Wahlkampfspenden vor, erzählt Kao. »Mehr als 10.000 Hacker machten mit.« Die meisten Informationen könne man direkt von der Regierung bekommen, doch oft seien sie in den Aktenschränken der Ämter vergraben oder in unverständlichem Behördenchinesisch verfasst. »Es geht darum, wie man sie für alle erreichbar macht.« Techies wie er seien für diese Aufgabe prädestiniert. »Doch diese Leute sind traditionell apolitisch. Sie verdienen gut.Kaum einer glaubte, dass sie sich einer Bewegung anschließen würden. Jetzt aber identifizieren sie sich

damit.«Sie könnten hier auf jede Situation reagieren, sagt Kao. »Es geht uns darum, eine Gemeinschaft zu schaffen.«

Nach Ansicht der Hacker von g0v leidet Politik oft unter einem Informationsproblem. Bürger wissen zu wenig über die Belange der Regierung, Regierende zu wenig über den Willen der Bürger.

Eine Erkenntnis, die Ministerin Audrey Tang aus ihrer Zeit bei g0v mitgebracht hat. Mit digitalen Umfragen versucht sie, die Bürger einzubeziehen. »Demokratien nutzen digitale Technologien, um den Staat transparent für Menschen zu machen, Autokratien, um die Menschen transparent für den Staat zu machen«, sagt Tang. »Wir brauchen glaubhafte neutrale Institutionen, die weder die Wünsche von Werbekunden, Aktieninhabern noch von Ministern berücksichtigen müssen«, erklärt sie in ihrem Ministerinnenbüro. Soziale Infrastruktur, davon ist sie überzeugt, müsse von der Zivilgesellschaft betrieben werden. Konzerne hätten ein Interesse daran, »die User in Abhängigkeit zu halten, damit die Werbekunden gezielt Werbung schalten können«. Menschen bekämen dann das Gefühl, dass die Demokratie nicht funktioniere, dabei seien sie nur am falschen Ort: in den sozialen

Medien, die Tang »antisozial« nennt,weil die Menschen darin isolierter und polarisierter würden. Es sei, sagt Tang und lacht, »als würde man eine Rathaussitzung in einem sehr lauten Nachtklub abhalten, wo dauernd Alkohol serviert wird«.

Demokratie zu praktizieren, sagt Tang, sei die beste Immunisierung gegen die Propaganda der Autokraten. Anders als anderswo hat Corona in ihrer Heimat nicht zur Demokratiemüdigkeit geführt. Das liegt am guten Pandemiemanagement, daran, dass die Taiwaner mit China die Alternative direkt vor Augen haben. Aber auch ein wenig an Audrey Tang.

Veröffentlicht in Spiegel 1. Juli 2023