Die Welt auf der Couch

Überforderte Eltern, depressive Reiche: Wie der Therapeut Yin Pu Chinesen hilft, die im rasenden Wandel des Lands den Halt verlieren

Er läuft über den psychedelisch gemusterten Teppich eines Hotels im Norden Pekings. Ein Mann von 50 Jahren, Igelfrisur, Arsenal-Schal, immer in Bewegung, neue Projekte, Ideen, voranvoranvoran. Sein Schritt ist voller Anspannung, gleich beginnt sein Auftritt. „Yin Pu“, sagten seine Mitschüler früher, „du wirst mal Schauspieler oder Moderator.“ Aber Yin Pu, der sich auf Englisch Paul nennt, wurde Therapeut.

Er steuert auf einen Seminarsaal zu, 40 Eltern warten dort auf ihn, chinesische Mittelklasse, einige haben ihre Kinder mitgebracht. Es sind Eltern, die ihren Kindern eigentlich Raum lassen möchten, wäre da nicht dieser beklemmende Konkurrenzdruck. So viele andere Kinder und so viele andere Eltern, die ihr Kind von einer Nachhilfestunde zur nächsten kutschieren. Zwei Eltern, vier Großeltern, sechsfache Hoffnungen, Ängste, Obsessionen, und alle richten sich auf ein einziges Kind – mehr sind da aufgrund der chinesischen Einkindpolitik ja meist nicht. Was, wenn dieses Kind zurückbleibt?

„Gemeinsam mit den Kindern wachsen“ ist der Titel von Pauls Seminar. Er springt auf die Bühne, on stage ist er eine Maschine, dampfbetrieben. Er hüpft, reißt die Arme nach oben, spricht mit verstellter Stimme. Dann eine Kunstpause. „Ich habe noch kein einziges rebellisches Kind erlebt. Aber eine Menge rebellischer Eltern.“ Zwei Sätze, die revolutionär sind in China, wo konfuzianische Schriften über „Kindespietät“ einst den Jungen priesen, der sich nackt vor das Bett der Eltern legt, damit die Moskitos sein Blut saugen und nicht das ihre. Ein Kind, sagt Paul, wachse, wie es die Natur vorgesehen habe. Dazu gehöre, dass es mit 15 seine Meinung verteidige. Eltern, die das nicht akzeptieren könnten, seien die wahren Rebellen: „Sie rebellieren gegen die Natur.“ Er schaut streng: „Lege nicht den Traum, den du dir selbst nicht erfüllen konntest, auf die schwachen Schultern deines Kindes.“

Psychotherapie in Peking: Chinas nächste Revolution
Yin Pu © Stefanie Schweiger

„In China“, sagt Paul nach dem Vortrag, „machen viele Eltern ihre Kinder im Namen der Liebe zu ihren Sklaven: Sie müssen Leistungen erbringen, die die Eltern nie erreichen konnten.“ Er sitzt im Hotelrestaurant, die Sonne erhellt sein Gesicht. Er ist ein vielschichtiger Typ, dichtet, begeistert sich für klassische Musik, Buddhismus und Quantenphysik, er arbeitete als Radiomoderator und Musikjournalist. Manchmal weint er vor seinen Klienten, auch, weil er ihnen zeigen will, dass es in Ordnung ist, seine Gefühle zu zeigen. Das ist für einen chinesischen Mann sehr ungewöhnlich, aber Paul stammt auch aus einer außergewöhnlichen Familie. Schon die Großmutter rebellierte gegen das Füßebinden und rauchte, seit sie 12 war. Als ihr Enkel mit 18 in die USA ging, gab sie ihm einen Rat mit auf den Weg: „Bleibe 20 Jahre lang. Wie auch immer du zurückkommen wirst, verwundet, abgebrannt und ohne einen Cent in der Tasche, in meinen Augen bist du dann ein Mann. Denn ein Mann sollte ein Abenteurer sein, ganz gleich, was dabei rauskommt.“ Paul blieb 21 Jahre. Studierte Psychologie in Kalifornien, diente den Exilanten der Tiananmen-Bewegung als Pressesprecher, bis er sich, enttäuscht von der Politik, zurückzog. Ein paar Jahre lang durfte er nicht in sein Heimatland reisen, erst 2003 kehrte er nach China zurück. Es sollte ein kurzer Besuch werden, doch er blieb, „denn der Bedarf an psychologischer Hilfe war einfach überwältigend“. Einen guten Psychologen zu finden ist in China selbst in den Städten unglaublich schwer, auf dem Land ist es so gut wie aussichtslos. Wer eine Hotline für Selbstmordgefährdete erreichen will, kann dies wochenlang ergebnislos versuchen. Eine Pekinger Freundin sucht seit Jahren nach einem guten Therapeuten, ihre Depression hat sie vorläufig auf sehr chinesische Weise kuriert: Sie kaufte sich eine Wohnung, „danach fühlte ich mich erst mal besser“.

Paul reist mit seinen Vorträgen durchs ganze Land. Mal spricht er vor Bauern in der Provinz, dann vor Generälen, die sich mit steinerner Miene Notizen machen. Verstörte Kinder und überforderte Eltern haben sich ihm in Therapiesitzungen anvertraut, liebeshungrige Teenager und traumatisierte Alte, Arme und Reiche. Paul ist ein Kartograf der modernen chinesischen Seele. Einer, der versucht, dieses unbekannte Gebiet zu vermessen, eine Ahnung zu bekommen von seinen Untiefen und Höhen.

Viel ist geschrieben worden über das chinesische Wirtschaftswunder, wenig darüber, was es mit der Seele macht. Kaum ein Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegender gewandelt als China. Dörfer wurden zu Millionenstädten, Bauern zu Fabrikarbeitern, Arme zu Reichen. Das ganze Land ist in Bewegung, nein, mitten im Sprint. Kaum ein Chinese wird das Haus, in dem er aufgewachsen ist, so vorfinden, wie es einmal war. Längst steht dort eine Fabrik oder ein neues Stadtviertel. „Es ist, als würden die Menschen seit 30 Jahren Tag für Tag ihr Hotelzimmer wechseln“, sagt Paul. „Sie fühlen sich unsicher, ganz egal, wie viel Geld sie auf ihrem Konto haben.“

Eine eigene Praxis hat Paul nicht. Er behandelt die Menschen, wo er sie treffen kann. Bei ihnen zu Hause oder bei Starbucks, bisweilen mietet er ein Zimmer in einem Krankenhaus. Hin und wieder stellt ihm ein Freund seine elegante Junggesellenwohnung zur Verfügung. Dort sitzt Paul an einem Mittwochnachmittag auf der Couch. Neben ihm ein junger Regisseur, der von außen betrachtet ein gelungenes Leben führt: Karriere, Frau, tolle Wohnung, schickes Auto. Wäre da nicht die Wut, die ihm so oft die Luft raubt. Morgens im Aufzug geht es los, wenn er die Werbung an den Wänden sieht: Auto, Wohnung, Flitterwochen. Kaufe, investiere, lass dir die Chance nicht entgehen. Die Kollegen tun, als sprächen sie nicht über Geld, „dabei reden sie über fast nichts anderes. Immer haben sie Angst, um ihre Stellung oder ihr Gesicht.“ Sie reden nicht über ihre wahren Gefühle, so wie er nie über die seinen spricht. Am wütendsten aber machen ihn die Wärter. Parkplatzwärter, Parkwärter, Siedlungswärter. Immer gibt es einen, der sagt: Das darfst du nicht. Manchmal geht der Regisseur tagelang nicht aus dem Haus, um nicht wütend zu werden.

Paul versucht, der Wut auf den Grund zu gehen. Steigt hinab in die Vergangenheit des Regisseurs. In der Grundschule hatte er eine Lehrerin, die ihn förderte, bis seine Ergebnisse schlechter wurden. Als er die Schule wegen eines Umzugs verlassen musste, sagte sie zur Klasse: „Bitte applaudiert und freut euch über diese gute Nachricht.“ Er stand da, den Kopf gesenkt, und ließ Applaus auf sich regnen, der nach Demütigung schmeckte. In der Mittelschule mussten er und seine Mitschüler jede Woche einen Aufsatz darüber verfassen, was in der Klasse passiert. Sie sollten sich gegenseitig denunzieren. „Damals verstand ich“, sagt der Regisseur: „Gesellschaft ist Verrat.“

Um zu verstehen, wo dieses Gefühl seine Wurzeln hat, muss man mit Paul von der Gegenwart in die Vergangenheit reisen. Paul geht eine sechsspurige Straße entlang, vorbei an Bürogebäuden, der Glitzerwelt des neuen Peking. Dann biegt er in eine Gasse ein. Hinter den Hochhäusern tut sich eine andere Welt auf: das alte Peking. Einstöckige Hofhäuser, geschwungene Dächer, Großmütter, die auf der Straße schwatzen. Hier ist Paul aufgewachsen. Mitten im Chaos der Kulturrevolution. 1966 blies Mao Zedong zur politischen Hexenjagd, die zehn Jahre dauerte und Unzählige das Leben kostete. Rotgardisten marodierten durch Städte und Dörfer, der Verrat in öffentlichen Denunziationsversammlungen war alltäglich. Schüler verrieten ihre Lehrer, Arbeiter ihre Chefs, Ehemänner ihre Frauen, Kinder ihre Eltern. Kleinigkeiten konnten das Verderben bringen: wen man liebte, welche Bücher man las, woran man glaubte. Es konnte nur eine Loyalität geben, und das war die zum Großen Vorsitzenden. Mao zerstörte das Vertrauen, das eine Gesellschaft zusammenhält. Es fehlt ihr bis heute. „Es war nicht nur die Kulturrevolution“, sagt Paul, „das ganze 20. Jahrhundert ist in China eine Geschichte der politischen Kampagnen. Unter Warlords, in Krieg und Bürgerkrieg konnte Vertrauen lebensgefährlich sein.“ Auch seine Familie geriet in den Strudel der Politik. Seine Eltern, beide Geschichtslehrer, wurden von ihren Schülern in der Schule eingesperrt, nur manchmal durften sie für eine Nacht hinaus. Er merkte es daran, dass morgens Essen für ihn auf dem Tisch stand.

Mao wollte einen radikal neuen Menschen schaffen. Einen, der nicht nur gehorchte, sondern wirklich anders dachte und fühlte. Alles, was einen abweichenden Einfluss auf ihn hatte, sollte zerstört werden: Religion und Tradition, Architektur und Brauchtum, „reaktionäre“ Familienbande. „Viele kauften damals die neuen sozialistischen Werte“, sagt Paul. Doch auch die hatten nur kurzen Bestand. Denn auf Mao folgte der Reformer Deng Xiaoping, mit ihm umarmte China den Kapitalismus. Abermals erlebte das Land einen radikalen Wertewandel. Die Wunden der Kulturrevolution wurden nie aufgearbeitet. Die Partei bot ihrem Volk den Aufstieg an und forderte im Gegenzug das Vergessen.

In kürzester Zeit, sagt Paul, hätten die Chinesen zwei Wertebrüche erlebt. Viele junge Chinesen suchten nach Sinn, doch da sei keiner, der ihnen dabei helfen könne. „Der Glaube der Jungen gleicht einer Zitatsammlung: ein bisschen Einstein, ein wenig Papst. Doch die Zitate hängen nicht zusammen, haben keinen Kern.“ Das Gleiche gelte für die traditionelle Kultur, der sich viele wieder zuwendeten, Kalligrafie, Konfuzianismus, Taoismus, Malerei, Feng-Shui oder die Teekultur. „Sie lernen, wie man eine Teetasse hält, doch sie wissen nichts von den Werten, die dahinterstecken. Die aber sind die Essenz.“

Das Wertevakuum macht den Wandel des Landes atemloser, es bringt die Begierden deutlicher zutage, die Ängste und die Unsicherheit. Weil nichts mehr da ist, was sie verdeckt. „Wenn Kultur und Spiritualität keinen festen Grund mehr bieten, ist das Einzige, worauf der Mensch zurückfallen kann, die primitive Seite der Existenz.“ Das Geld sei die größte Falle. Von allen, die er behandelt habe, seien die Neureichen vielleicht die Unglücklichsten: „Bevor einer reich ist, kann er sich sagen, dass alles besser wird, wenn er Geld hat. Dann aber hat er welches und sieht: Es gibt keinen Ausweg.“

Die Menschen wollten die Vergangenheit zurücklassen, in die Zukunft stürmen, „doch letztlich wissen sie nicht, wohin. Die Älteren haben die Reformen, die von oben auferlegt wurden, umarmt. Sie gingen mit dem Fluss. Jahrtausendelang war das so: Chinesen tun vieles, weil sie keine andere Wahl haben.“ Und das macht Pauls Arbeit im Grunde sehr politisch, denn sie setzt dort an, wo der Autoritarismus ankert. „In China arbeiten alle an der Illusion einer großen Harmonie. Und letztlich geht es allen schlecht dabei.“ Paul setzt seine Hoffnung in die jungen Chinesen. In jene, über die die Älteren schlecht reden: Sie kündigten schnell ihre Jobs, beendeten ihre Beziehungen, bissen sich nicht durch. Aber immerhin, sagt Paul, träfen sie eine Entscheidung. Und sei es nur die, Nein zu sagen. „Das ist ein Fortschritt. Denn vorher hat nie einer etwas selbst entschieden.“

Veröffentlicht in Zeit Magazin 3. Juli 2014