Die Weite umarmen

Mongolischer Hirte @Sam Greenhalgh

Zu Besuch bei mongolischen Nomaden

Manchmal, wenn das Taxi durch die Pekinger Nacht gleitet. Und die Neonlichter blinken: Iss mich, kauf mich, begehr mich. Menschen ziehen vorbei, so viele, tauchen auf und sind schon wieder weg, kaum hat man begonnen, in ihren Gesichtern zu lesen. Wenn es ringsum hupt und tost und braust, die Reizüberflutung so groß wird, dass die Stadt sich zu drehen beginnt wie ein Karussell. Dann ist er plötzlich da. Der Traum.

Wer wie ich in Peking lebt, sehnt sich manchmal nach dem einfachen Leben. Aufstehen, vor die Tür treten, von Weite umarmt werden. In meinen Träumen fliege ich im Galopp über die Ebene, schaue den Pferden beim Grasen zu, in meinen Träumen lebe ich bei den mongolischen Nomaden. Unter Dschingis Khan gelang es ihnen, ein Weltreich zu errichten, eines, das damals unerhört modern war, auf Wissensaustausch, Religionsfreiheit, freiem Handel und Kommunikation beruhte. Sie waren so viel mehr als die blutrünstigen Reiterhorden, als die sie der Westen beschreibt. Bis heute leben die mongolischen Nomaden, wie einst weite Teile der Menschheit lebten. An diesen Ursprung will ich zurück.

Gemeinsam mit meinem besten Freund buche ich eine Tour bei der mongolischen Agentur Ger to Ger, die von einem Amerikaner gegründet wurde. „Auf dem Pferderücken zum Hujiriin-Vulkan“. Sechs Tage lang werden wir weitgehend auf uns selbst gestellt sein. Wir werden uns mit Händen, Füßen und mithilfe eines kleinen Ratgebers, der die wichtigsten mongolischen Redewendungen auflistet, durchschlagen müssen. Bei Ger to Ger gibt es keine Reiseführer. Die Reisenden leben bei Nomadenfamilien, eine Familie führt sie zur nächsten – mal zu Pferd, mal mit dem Ochsenkarren. Übernachtet wird in Gers, den traditionellen runden Zelten. Im Agenturbüro in Ulan-Bator erhalten wir eine Einführung in nomadische Benimmregeln sowie eine Notfallnummer, die theoretisch 24 Stunden erreichbar sein soll – wenn man denn Netz hat, was bei uns sechs Tage lang nicht der Fall sein wird.

Am Morgen um acht schaukeln wir mit einem bunt geschmückten Bus in Richtung Tsetserleg, Hauptstadt der zentralmongolischen Provinz Archangai. Unsere Mitreisenden riechen nach Milch und Butter, dem Parfüm der Steppe. Tsetserleg ist ein Ort von bezaubernder Schläfrigkeit, bunte Häuser kriechen einen Hügel hinauf, dazwischen stehen Gers. Ein himmelblauer russischer Bus bringt uns in einer halbstündigen Fahrt zu unserer ersten Gastfamilie.

Grasland. Hügel, so weich, als wären sie mit Samt bespannt. Ein paar verstreute Gers, weiß und leicht scheinen sie über die Ebene zu treiben wie Segelschiffe an einem Sommertag. Ein kleiner Bach plätschert vorbei, umstanden von weit ausladenden Bäumen. Tiere grasen, ganz frei und ohne Zaun, Yaks und Pferde, Schafe und Ziegen. Unser Ger-Camp besteht aus drei Zelten: dem Zelt der Familie, dem Kochzelt und demjenigen, in dem wir schlafen werden. Die Tage und Abende verbringt man gemeinsam im Familienzelt, nur zum Schlafen zieht man sich in sein eigenes Ger zurück.

Geübte können so ein Zelt, das von Holzpfeilern, -latten und -streben getragen wird, innerhalb einer Stunde auf- und wieder abbauen. Platz haben darin Betten, Tisch und Stühle, es gibt kleine Truhen, Schränke und einen Hausaltar, die Wände sind mit Teppichen, manchmal auch mit Postern dekoriert.

Die Kinder hängen an unseren Armen und Beinen. Sie wollen spiiiiielen!

Im Ger herrscht eine eigene Etikette. Man stoße sich beim Eintreten nicht den Kopf am Türrahmen, das bringt Unglück. Genauso wie im Zelt zu pfeifen. Man laufe stets im Uhrzeigersinn. Lehne sich nicht an die tragenden Pfosten. Spiele nicht mit dem Feuer, das Feuer ist heilig. Man nehme alles, was einem gereicht wird, mit beiden Händen an, zumindest aber mit der rechten, während die linke den Ellbogen stützt.

Unsere Gastmutter Erdenetsetseg empfängt uns in grünen Shorts und grünem Spaghettiträgershirt, sie ist Mongolisch-Lehrerin. Ihr Mann besucht gerade seine Mutter, dafür hat Erdenetsetseg Verstärkung von einer Verwandten mit ihren beiden Kindern bekommen. Sie reicht uns Buttertee. Sämig, salzig und schwer breitet er sich im Mund aus. Es gibt Menschen, die sagen Böses über den Buttertee, ich liebe ihn vom ersten Moment an. Wir versuchen, Konversation zu betreiben. Blättern in unserem Buch hin und her, probieren jeden Satz in unterschiedlicher Aussprache. Das geht – übertragen – etwa so: „Was sind Sie von Beruf?“ – „Juschalusch.“ – „Wie?“ – „Jilabasch.“ – „Wie?“ – „Journalist.“ – „Aaaaaaah.“ Schon bald versiegt die Konversation im Teeschlürfen. Die Kinder übernehmen die Initiative.

Er, ein Racker von vier Jahren, die Haare kurz geschoren, hinten ein kleiner Schweif. Er trägt eine Sonnenbrille, wegen Psy. Solarbetriebene Fernseher tragen den Südkorea-Pop bis in den letzten Winkel des Graslands. Sie, zwei Jahre älter, die Haare von dunklem Weizenblond, bei vielen mongolischen Kindern ist das so, erst später werden sie sich dunkel färben. Sie hängen an unseren Armen und Beinen, sie wollen spiiiiielen! In die Luft geworfen werden! Im Kreis gedreht werden! Wir lassen uns von den begeistert vor sich hin stolpernden Kindern jagen und tun im Gegenzug, als würden sie uns immer wieder entwischen. Sie werden einfach nicht müde. Ein paarmal versuchen wir, uns heimlich wegzustehlen, doch jedes Mal ertappen sie uns, mit dem Spürsinn eines Hirtenhundes, der ein entlaufenes Schaf stellt. Sie purzeln über uns, sie lachen und johlen. Mein Notizbuch füllt sich mit gemalten Pferden, Elefanten, Yaks und Ziegen. So lerne ich langsam ein wenig Mongolisch: Mör für Pferd. Jama für Ziege.

Nie zuvor habe ich so viele Varianten von Gras gesehen

Der Abend malt riesige Schatten aufs Gras, Yakschatten, Kuhschatten, Pferdeschatten, er hüllt die Ebene in Dämmerung, lässt die Bergkuppen ein letztes Mal erstrahlen. So weit der Himmel. Er gibt nicht ein Schauspiel, er gibt gleich vier davon. Im Osten sind die Wolken schwer vom Regen, im Süden tanzen sie lichttrunken. Im Norden ziehen sie wie eine mächtige Flotte über das Himmelsmeer, der Westen probt schon mal das Abendrot. Süchtig werden könnte man nach diesem Licht, golden und weich, in dem die Dinge so leicht scheinen, als könnten sie schweben. Kinder kreisen mit weit ausgestreckten Armen über das Grasland, Ziegen klettern aufs Feuerholz, ein Zweijähriger läuft in einem rollenden Laufstall über das Gras.

Später kommt ein Nachbar vorbei, wobei das Wort Nachbar in der Mongolei ein weit gefasster Begriff ist. Dieser hier ist der Familie der nächste, er lebt etwa einen Kilometer entfernt. Er zeigt uns, wie man mit Pfeil und Bogen schießt, was zum Konzept dieser Reise gehört: Bei jeder Familie lernt der Gast eine Fertigkeit aus dem Nomadenleben. Ich bin nervös. Das letzte Mal habe ich als Kind in einer Westernstadt Bogen geschossen und dabei so kläglich versagt, dass man mich ins Westernstadtgefängnis sperrte, die Strafe für Supernieten. Ich lege den selbst gemachten Bogen an, spanne das Bogenseil, bis es ein wenig zittert, lasse los, mit einem leisen Surren schießt der Pfeil weit ins Grasland hinaus, vorbei an verdutzt glotzenden Yaks. Ich schieße und schieße, diesmal ist es ganz leicht, vielleicht weil es im Grasland kein Supernietengefängnis gibt.

In der Nacht kuscheln wir uns in Schlafsäcken auf den Boden unseres Gäste-Gers, am nächsten Morgen holt uns ein anderer Nachbar mit dem Ochsenkarren ab. Ein alter Mann, knorrig wie ein Baum, er raucht Selbstgedrehte, die er aus Zeitungspapier rollt, und singt manchmal seinem Ochsen ein Lied. Der Ochse ist ein furchteinflößend großes Tier, Bremsen saugen sich an seinen Nüstern und Beinen fest, ein wandelndes Festmahl. Wir ziehen durchs Grasland, über Hügel und durch Flüsse, in denen die Frösche quaken, dem Ochsen steht das Wasser bis zum Bauch.

Nie zuvor habe ich so viele Varianten von Gras gesehen. Gelbes, stoppeliges Steppengras, frisches Almengras, kobaltgrünes Sumpfgras, Sommerwiesengras. Es duftet nach Kräutern und Zitronenmelisse, der Morgen riecht anders als die Mittagshitze. Das Gras ernährt zottelige Yaks am Wegesrand und blökende Schafe. Pferdeherden traben an uns vorüber. Erdmännchenartige Tiere wittern auf ihren Hinterbeinen, um dann in Windeseile in ihren Löchern zu verschwinden. Gewaltige Grashüpfer schwirren durch die Luft, grüne, braune, gelbe und die roten, die ein lautes Klackern von sich geben.

Das Gras bestimmt das Leben der Nomaden, die Familien wandern mit dem Gras. Haben die Tiere die Sommerweide abgefressen, ziehen sie auf die Herbst- und dann auf die Winterweide. In der fruchtbaren Provinz Archangai liegen sie oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Nomaden aber, die große Tierherden halten, laufen im Winter oft Hunderte von Kilometern, bis sie eine Stelle finden, die ihre Tiere ernährt. Viele Familien besitzen ein Winterhaus oder ein Ger in der Stadt, dort leben die Kinder mit Verwandten, wenn sie die Schule besuchen.

Ich steige vom Karren ab und gehe zu Fuß. Mit jedem Schritt ist mir, als fiele etwas von mir ab, bliebe am Wegrand zurück, bei den Yakschädeln, die in der Sonne bleichen. Die Gedanken verziehen sich, der Kopf wird freier.

In unserem nächsten Camp reiht sich gleich ein ganzes Dutzend Gers an einen Fluss, in dem Sommerfrischler aus der Hauptstadt baden. Ihre Ferien verbringen auch die Städter gerne im Grasland. Etwa die Hälfte der knapp drei Millionen Mongolen leben als Nomaden, viele derer, die heute in der Hauptstadt wohnen, sind im Grasland aufgewachsen. Unser Gastvater Batdelger ist ein beeindruckender Mann mit einer noch beeindruckenderen Nase. Er ist ein berühmter Pferdemann, auf dem Hausaltar thronen die Medaillen, die seine Pferde bei Rennen holten. Der Jockey der Familie ist ein Elfjähriger, der sich gibt wie ein ganzer Kerl. Er runzelt verwegen die Stirn, geht breitbeinig wie ein Preisboxer. Bewegt sich mit dem Selbstbewusstsein von einem, der weiß, dass er die Ehre der Familie zu verteidigen hat. Indem er draufgängerisch ist und reitet wie der Wind.

Wir sehen ihm und seinen Verwandten zu, wie sie die Pferde ins Gatter treiben. Prächtige Tiere, langmähnig und kräftig, glänzend das Fell. Die Jungs scheuchen sie johlend ins Gatter. Jetzt müssen die Pferdehüter die Fohlen herausholen, damit die Stuten gemolken werden können. Der Jockey tänzelt barfüßig zwischen Pferdehufen hindurch, zieht die Fohlen an Mähne und Schweif hinaus. Sein Cousin schwingt sich auf ein Pferd, das noch nie einen Reiter trug, es bäumt sich auf, wiehert, rast über die Ebene hinweg, es will ihn abwerfen, er aber krallt sich an seinem Leib fest und lacht. Staub wirbelt auf, es ist ein Teufelstanz.

Genauso habe ich mir mein Nomadenleben vorgestellt. Tatsächlich würde es wohl eher dem von Iyma, 24, gleichen. Sie ist eines der sechs Kinder unserer Gastfamilie, trägt Leopardenleggins und besitzt das wohl umwerfendste Lächeln des ganzen Graslands. Sie studiert Zahnmedizin in Ulan-Bator und spricht Englisch, den Sommer verbringt sie draußen bei ihrer Familie. „Urlaub?“ Sie seufzt. „Nein, Urlaub ist das hier ganz sicher nicht.“ Um fünf steht sie auf und melkt die Pferde, danach kochen, waschen, buttern, „in der Uni kann ich mich wieder entspannen“. Sie führt mich ins Kochzelt. Milch, wohin man schaut, in Trögen, Töpfen und Pferdehäuten. Kuhmilch, Yakmilch, Pferdemilch, Ziegenmilch, Schafsmilch. Sie wird zu Butter und Käse verarbeitet, zu Airag, der vergorenen Stutenmilch, zu Joghurt und Wodka. Immerzu muss gerührt, gebuttert, geschlagen werden, ein Knochenjob.

Unter Iymas Ägide versuche ich mich am Melken eines Yaks. Vorsichtig ziehe ich an den Zitzen, drücke die Milch nach unten, doch während bei Iyma ein kräftiger Strahl aus dem Euter schießt, ist es bei mir nur ein klägliches Rinnsal. Für ein Stückchen Käse müsste ich Stunden hier verbringen.

Am Abend kommt der Sturm. Man sieht ihn schon von Weitem aufziehen. Er peitscht über die Ebene, jagt die Pferde vor sich her, mit wehenden Mähnen galoppieren sie davon. Er reißt an den Zelten, braut schwere Gewitterwolken zusammen, das Ende der Welt scheint nah. Doch so schnell der Sturm gekommen ist, so schnell ist er wieder vorbei. Zurück bleibt ein Regenbogen. Genau dort, wo er auf den Boden trifft, weidet eine Kuh. Und wahrscheinlich kackt sie in diesem Moment einen Topf pures Gold.

Leben bei den Nomaden heißt: Leben in einer Großfamilie

Am nächsten Morgen reiten wir mit unserem Gastvater Batdelger zur nächsten Familie. Ich habe einen kräftigen kleinen Schimmelwallach, mein Herz klopft in Erwartung wilden Galopps. Der Wallach sieht das offensichtlich anders. Was immer ich anstelle: Er trabt. Langsamer Trab, schneller Trab, sehr schneller Trab. Irgendwann beginnt es zu regnen. Durchweicht erreichen wir das Camp unserer nächsten Familie.

Batdelger legt sich aufs Bett neben das schlafende Baby der neuen Gastgeber und beginnt Sekunden später zu schnarchen. Auch mir fallen die Augen zu. Der Wind rüttelt am Zelt, das Holz knackt im Ofen. Ein Ger ist eine wunderbare Welt. Schließt man die Luke, durch die der Rauch des Herdes abzieht, ist es drinnen dunkel und gemütlich wie in einer Höhle. Öffnet man sie aber, wird alles licht und leicht. Ich erwache vom Zirpen der Grillen, die Sonne scheint auf mein Gesicht.

Neben mir, am Tisch, sitzt Nerguibaatar – Mitte 30, pockennarbiges Gesicht, kurzes Haar, dicht wie das eines Tieres. Sein Lachen ist warm und breit. Er lebt hier mit seiner Frau und den vier Töchtern. Nerguibaatar ist Veterinär, wissbegierig, er möchte Englisch lernen. Stundenlang nimmt er sich Zeit, mit uns zu sprechen. Ein wenig Englisch, ein wenig Mongolisch, ein wenig lost in translation. Wir deuten in unserem Handbuch herum, gestikulieren, zeichnen, wenn uns die Worte fehlen. Lachen, wenn keiner mehr irgendwas versteht. Er kramt in seinen Schränken, zeigt uns seine Fotos, Urkunden, Abzeichen. Ein ganzes Nomadenleben. Wehrdienst, Hochzeit, Besuche in Ulan-Bator, die Geburt des ersten, zweiten, dritten, vierten Kindes. Bei einem Spaziergang über sein Land zeigt er uns stolz die Winterställe, den Gemeinschaftsraum, das Kartoffelfeld, das er gemeinsam mit seinen Nachbarn bewirtschaftet, sie haben eine Kooperative gegründet. Er wirkt ganz bei sich. Er sagt mit Stolz und Freude: Ich bin Tierzüchter. Wir haben einen neuen Freund gefunden.

Am nächsten Morgen möchte ich lesen, doch alle zwei Minuten marschiert der hinreißende Vier-Töchter-Trupp auf und ruft „Anschiiilaaaa“. Sie schleppen Steine, Bretter, Blumen herbei, wollen Flusssuppe kochen, verlangen, dass ich ihnen das Englische auf Müslipackungen, Schokoriegeln und Gummibärchen vorlese. Wollen baden, spielen, malen. Der Satz „Ich möchte mal eben meine Ruhe“ erscheint nicht in unserem klugen Handbuch, wahrscheinlich würde ihn ohnehin keiner verstehen. Leben bei den Nomaden heißt: leben in einer Großfamilie.

Mittags reiten wir mit Nerguibaatar und zwei kleinen Nachbarjungs los. Ich schwinge mich auf einen mongolischen Holzsattel. Man hat mich gewarnt, aber ich will es ausprobieren. Dumme, äußerst dumme Idee. Wir traben die Hügel hinan, zu einer Reihe weißer Stupas, die wir im Uhrzeigersinn dreimal zu Pferd umkreisen, die mongolische Art des Betens. Dann traben wir und traben, über Stunden hinweg, weiß der Himmel, woher diese kleinen Pferde die Energie nehmen. Den Galopptraum hab ich längst aufgegeben, als wir den Gipfel des Berges erreichen. Unter uns breiten sich Wald und Ebene aus. Und mit einem Mal spannt sich der Rücken meines Pferdes, wir galoppieren. Jagen über den Hügel hinweg und in den Wald hinein. Die Nomadenjungs an meiner Seite singen und pfeifen, auf dass die Pferde noch schneller laufen. Der Wind saust um meine Ohren, der Hintern, vom Holzsattel aufgerieben, brennt wie Feuer, doch das ist egal. Fliegen.

Als wir das nächste Ger erreichen, hat der Schmerz aufgeholt. Der Hintern ist blutig geritten, die Schenkel schmerzen nach zwei Tagen Dauertrab, das Bogenschießen hat auf der Innenseite des rechten Armes einen Bluterguss hinterlassen. Der Rücken ist nach den Nächten auf dem Boden und auf harten Betten ebenfalls lädiert. Wir wandern zu einem Fluss in der Ebene, an dessen Ufer Schafe grasen. In der Ferne ein lichter Wald, die nächsten Gers liegen Kilometer entfernt. Wir baden im eiskalten Wasser, Duschen gibt es im Grasland nicht. Und bekommen einen völlig grundlosen Lachanfall. Kichern wie verrückt, möglich, dass uns all das Grün den Verstand geraubt hat.

Unser grundlos berauschter Zustand wird am Abend vom selbst gebrannten Wodka befeuert, den uns unser neuer Gastgeber Sumyadash serviert, ein leutseliger Mann, der alle drei Minuten fröhlich und meist völlig ohne Anlass „Merci, Merci, Merci“ singt. Unter seinen begeisterten Rufen verköstigen wir den Wodka, der noch immer nach dem Joghurt schmeckt, aus dem er gewonnen wird. Nachts hören wir die Hunde bellen, sie sind außer Rand und Band.

„Wahrscheinlich ein Wolf“, sagt Sumyadash später. Und erzählt mit großen Gesten vom Überleben im Grasland. Von den Wölfen, die Schafe reißen, den Bussarden, die ihnen die Augen auspicken, vom Zud, der extremen Winterkälte, die das Vieh dahinrafft. Wie es wohl wäre, für immer hier zu leben? Schon im Juli sind die Nächte im Zelt frisch, den Dezember möchte ich mir gar nicht ausmalen. Beschlossen habe ich dennoch, irgendwann zurückzukommen und länger zu bleiben. Vielleicht lerne ich dann sogar, mit etwas mehr Grazie ein Yak zu melken.

An unserem letzten Abend im Grasland schauen wir in den Himmel, stundenlang. Trinken das Blau. Wandern mit den Wolken. Wir werden nicht müde davon, alle paar Minuten wandelt er sich. Er zieht alle Register. Baut Wolkentürme auf, um sie gleich danach wieder aufzulösen, lässt Federwolken, Wattewolken, Regenwolken aufmarschieren. Zeigt sich in seinen verschwenderischsten Sonnenuntergangsfarben.

Die alten Mongolen beteten den Himmel an, jetzt weiß ich, warum. Denn bei allem, was gut ist: Der Himmel ist das Beste

Veröffentlicht in DIE ZEIT 12. September 2013