Die Vermessung des Ichs

Der Eremit Nanshan @Monika Höfler
Ihr Land ist laut und schnell, und viele Chinesen bewundern wieder Menschen, die sich für die Stille entschieden haben. Eine Reise zu den Eremiten der Berge

Ist es nicht komisch?So weit hat er sich von der Welt zurückgezogen, so hoch in den Bergen liegt seine Einsiedelei, und doch gibt die Welt keine Ruhe. Sie johlt in seine Stille hinein, in das Summen sonnentrunkener Bienen. Lärmt herauf wie ein knallvolles Freibad, als könne sie es nicht ertragen, dass einer nichts von ihr will. Manchmal denkt Shi Xiaohong daran, wie es war, dort unten bei den Menschen zu leben. Doch mit den Jahren ist die Erinnerung an sein früheres Leben ver- blasst. Er hat andere Gefährten gefunden. Den Wind. Und den Berg – den vor allem.

Es ist ein heiliger Berg, und so sieht er auch aus. Man muss gleich an Kung-Fu-Filme denken, in denen die Kämpfer von Gipfel zu Gipfel fliegen. Weißer Fels stürzt in schwindelerregende Abgründe, um wieder in sanften Wellen aufzusteigen. Auf Felsvorsprüngen reiten bizarre Kiefern. Mal frisst sie der Nebel, dann haucht er sie wieder aus.

Der heilige Berg Huashan @ Monika Höfler

Der Huashan, in der Provinz Shaanxi im Herzen Chinas gelegen, ist einer der heiligsten Berge des Reiches, eines seiner frühesten spirituellen Zentren. Berühmt für die abenteuerlichen Pfade, die einst daoistische Eremiten in seine senkrecht aufsteigenden Felswände hauten. Mal balanciert man auf rostigen Ketten, dann auf morschen Brettern, wer hier stürzt, hat sein Leben verspielt. Die Pfade gibt es zwar noch, aber längst drängen sich in der Gegend Touristen, zwei Millionen pro Jahr. Und doch, wer sucht, kann noch Einsiedler finden.

Erst aber geht es durch die Welt der Besucher. Am Gipfel quellen sie aus der Seilbahn. Männer, kettenrauchend, mit Aktentasche und Lederschühchen. Frauen im Minirock, kokett posierend vor gähnendem Abgrund. Dauerknipser, selbst ernannte Bergführer, trompetend wie Leitelefanten. Musik dudelt, in Hunderten von Handys auf den Berg ge- schleppt. Ein Mann trägt die Handtasche seiner Freundin um den Hals wie ein Bernhardiner sein Fässchen Rum. Eng an eng trippelt man über Pfade, eigentlich könnten jetzt alle die Hände auf des Vordermanns Schulter legen zur Bergpolonaise. Sie haben Geld, sie haben Zeit, sie sind gekommen, um sich zu amüsieren. Mit dem Wohlstand haben die Chinesen die Freizeit entdeckt.

Jetzt heißt es aufpassen. Mit den Massen drückt man sich die Steintreppen hinab. Da – an der Brücke scharf rechts abbiegen, beim Schild »Zutritt verboten«. Man tritt durch ein

teintor, mächtig, uralt, durchquert einen Tunnel, von Menschenhand in den Berg gehauen, und steht vor einer blauen Tür, die in den Angeln quietscht. Hier auf dem Huashan lebt Shi Xiaohong, in der ältesten menschengemachten Einsiedelei der ganzen Gegend.

Vor 800 Jahren hauten Eremiten Höhlen ins Halbrund des perfekt gewölbten Steins. Zwei kleine und eine zehn Meter hohe. Sie schlugen Treppen in den Berg, schmückten die Höhlendecken mit Steinblu- men. Hier ist er eingezogen vor 17 Jahren. Hat ein Gemüsebeet angelegt, ein paar Hütten gebaut, eine Solaranlage installiert, die ihn mit dem bisschen Strom versorgt, das er braucht, etwa um seine Kassetten zu hören: New Age aus den österreichischen Alpen.

Shi Xiaohongs Höhle @Monika Höfler

Anfangs ist er schüchtern, verwirrt. Misstrauisch hinter der Gastfreundlichkeit – seine Antworten sagen alles und nichts, führen in ein Nebelland aus Gedichten, Ge- schichten, dem Großen und Ganzen. Über sich will er wenig verraten, am allerwenigsten sein Alter. Seinem Gesicht ist es schwer abzulesen, den feinen Zügen, den Sommersprossen, dem klaren Blick, dem weiß und rot melierten Bart. Er trägt die Kluft der Daoisten, den schwarzen Kittel, das Haar zum Dutt gedreht. Er wirkt jung und alt zugleich. Am Ende des ersten Tages steht im Notizblock an Verwendbarem: nichts. Es hat keinen Sinn. Aufgeben, gehen. Wahrscheinlich lebt er zu lange in der Einsamkeit, ist zum Gespräch weder willens noch fähig.

Dann aber will er, dass wir bleiben. Wir haben nicht die Wahl: Am Abend bricht ein gewaltiges Unwetter über den Berg herein, der Weg ins Tal ist zu gefährlich, ein kleines Kloster bietet Zuflucht. Der Wind rüttelt am Fenster, Regen peitscht über den Kloster- hof. In den Halbschlaf drängen die alten Geschichten. Wie war das noch? Wer drei- mal ans Tor klopft, wird zweimal abgewie- sen? Testet er uns?

Am nächsten Morgen liegt auf dem Bergpfad zentimeterhoch Schnee. Stille, bis auf das Knirschen der Stiefel. Als wir an seine Tür klopfen, ist er ganz anders als gestern. Eine Viertelstunde lang fegt er die Blätter aus der Gästehöhle, ordnet die Stühle, säubert die Tassen, um seinen besten Tee, den hundert- jährigen, aufzugießen. Er beginnt zu erzählen. Vom früheren Leben. Dem Dorf, nicht weit von hier, in dem er aufwuchs, von dem aus er die Berge sah. Er sehnte sich nach ihnen – über Gipfel, durch Täler streifen, Flüsse über- queren, sich im Wald verlieren. Träumte von einer Zeit, in der sich Mensch und Himmel nahe waren. Er hatte keinen Namen für diese Träume, es wäre ihm auch nicht eingefallen, sie in eine Religion zu packen. Er wusste nur, dass ihn keiner verstand. Es waren die frühen achtziger Jahre, die Reformen in China hatten gerade begonnen, alle stürzten sich ins

Meer des Geschäftemachens. Jeder sehnte sich nach einem Fernseher, einem Fahrrad, einem Videorekorder.

Shi sehnte sich nach etwas Namenlosem. Alle genossen die neue Freiheit, die sich für Shi gar nicht wie Freiheit anfühlte. »Die mo- derne Gesellschaft ist so flatterhaft. Ich spürte immer mehr, dass ich mich ihr nicht anpassen konnte.« Damals habe er sich allein gefühlt, inzwischen habe er verstanden, dass es vielen so gehe. »Die moderne Gesellschaft hat ein Extrem erreicht, der Wunsch der Menschen nach Wohlstand, nach Luxus ist extrem. Die Welt der Objekte ist vom Geist getrennt. Die Seelen der Menschen sind leer, sie können ihr Inneres nicht mehr sehen, sie haben sich vergessen.« Shi glaubt, dass die moderne Welt ihren Zenit erreicht habe. Dass sie bald zur alten Zivilisation zurückkehren werde. »Die Daoisten nennen das Rekonstruktion.«

So spricht er heute. Damals im Dorf suchte er und wusste nicht, was. Bücher gab es kaum, die Kulturrevolution hatte das religiöse Leben zerstört, auch wenn seine Großeltern heimlich Buddha verehrten. An einen Abend in seiner Jugend kann sich Shi gut erinnern. Eine Theatertruppe hatte im Nachbardorf haltgemacht, eine seltene Attraktion, alle lie- fen hin. Unter der Bühne erblickte Shi einen Mann in schwarzem Kittel und weißen Strümpfen, das lange Haar unter einer Kappe festgesteckt – ein daoistischer Mönch, er spiel- te gerade Schach. Nie zuvor hatte Shi einen gesehen. Der Mann wirkte so, als sei er gerade- wegs aus dem alten China in das neue spaziert.

Shi wusste nicht viel über den Daoismus, Chinas älteste Religion. Ihre Weisen beschworen die Einheit des Menschen mit der Natur. Die Einfachheit. Das Loslassen aller weltlichen Konzepte, des Ehrgeizes, der Geltungssucht, des Egos. Und immer wieder – die Freiheit. »Ein guter Reisender hat keine festen Pläne und keine Absicht, anzukommen«, schrieb Laozi. Shi konnte die Augen nicht von dem Mönch lassen. »Nie habe ich einen Schach spielen sehen wie ihn. Er benutzte die Strategie des Laozi.« Das Wu Wei, im Westen oft als Nichtstun übersetzt, dabei meint es: das anstrengungslose, natürliche Tun, bei dem der Mensch ganz bei sich ist, im Einklang mit seiner Umgebung. Shi war interessiert, aber noch nicht so weit, Daoist zu werden. Er begann, in der Ziegelfabrik zu schuften, einer der härtesten Jobs im Dorf. 1988 besuchte er den Huashan. Nur als Reisender, ohne die Absicht zu blei- ben, doch dann traf er in einem der Klöster einen Mann aus seinem Dorf. Er blieb, »auch weil die finanziellen Umstände so waren«. Kurzum, er war pleite.

Sieben Jahre lebte er im Kloster, dann beschloss er zu gehen. »Sie dachten kollektiv, und ich war Individualist.« Er wollte ganz frei sein, ohne Restriktionen leben, ohne das Kor- sett des Klosters. »Der Daoismus hatte damals keine Form, keine Praxis. Die Daoisten woll- ten einfach mit der Natur verschmelzen.« In der großen Höhle steht die Statue eines Berg- gottes, doch Shi sagt, er habe nicht viel damit zu tun. »Ich habe die Grenzen der Religion überschritten.« Er will nur ein »Wilder« sein, ein »Bergmensch«. Sein wie der Wind, der mal heftig bläst und dann sacht weht, sich mal in diese, mal in jene Richtung dreht. Eremiten, sagt Shi, das Wort treffe es nicht. Eremitentum, das sei ein Konzept der Vergangenheit, als sich noch die Reichen und Mächtigen, die Beamten, ja selbst die Kaiser von der Welt zurückzogen.

Shi Xiaohong @ Monika Höfler

Seit die Chinesen begannen, ihre Historie aufzuschreiben, erzählen sie auch Geschichten von Eremiten. Huang- di, der Gelbe Kaiser, gilt als erster mythischer Herrscher des Reichs, den Chroni- ken nach regierte er von 2700 bis 2600 vor Christus. Und es sollen zwei Eremiten gewesen sein, die ihn in der Kunst unterrichteten, seine Feinde zu bezwingen und sein Leben zu verlängern. Wiederholt berichten die Chroniken von Kaisern, die weise Eremiten aufsuchten, um sie zu überzeugen, ihre Nachfolge zu übernehmen. Der Eremitenkaiser galt als politisches Ideal, es zu beschwören als frühe Form politischer Kritik: Macht sollte auf Weisheit gründen, nicht auf Blutsbanden. Die Eremiten lebten auf Bergen. Und Berge waren den alten Chinesen heilig. Auf ihren Gipfeln ließen sich die Götter nieder, hier stiegen die Weisen zum Himmel auf.

Eremit konnte jeder werden. Paradoxerweise gingen oft jene diesen Weg, deren Lebensziel dem des Einsiedlers diametral widersprach: die Beamten. Sei es, weil sie beim Kaiser in Ungnade gefallen oder ermattet waren von den Machtspielen am Hof. Oder weil sie die Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich ziehen wollten. Galt der Eremitenbeamte doch als tugendhaft. Manchmal war der Weg in die Berge eben nur der Umweg zu einer steilen Karriere. Kein Zufall also, dass die Zhongnan-Berge, zu denen der Huashan gehört, zum Zentrum der Einsiedler wurden, liegen sie doch nicht weit von der alten Reichshauptstadt Xian entfernt. Beamte, Maler, Mönche, Sinn- suchende, Poeten, Außenseiter, Spinner zog es hierher. Mythen und Legenden ranken sich um diesen Ort, in Versen und Liedern wurde er besungen. Die Zhongnan-Berge sind ein Sehnsuchtsort des alten Chinas, Gegenbild einer streng hierarchischen Gesellschaft.

Immer haben die Chinesen ihre Eremiten verehrt. Mal leuchtete das Einsiedler-Ideal stärker, mal schwächer. Und dann drohte es zu erlöschen. 1949 übernahmen die Kommunisten die Macht. In ihrem China war kein Platz für Eskapismus oder Religion, das »Opium der Massen«. In der Kulturrevolution stürmten Rotgardisten die Tempel, zerschlugen Statuen, erniedrigten Mönche und Nonnen. Das religiöse Leben kam so gut wie zum Erliegen. Wer praktizieren wollte, zog sich in die Einsamkeit zurück. Doch auch dort war er nicht sicher: Selbst in die Berge drangen die Rotgardisten vor, um

die Eremiten zu vertreiben. Nicht immer gelang es ihnen. Der amerikanische Schriftsteller Bill Porter berichtet von einem 80-jährigen Eremiten, den er Ende der achtziger Jahre in Fujian interviewte, 50 Jahre lang hatte er in den Bergen gelebt. Die beiden unterhielten sich eine Weile, bis der Greis Porter unterbrach: Er würde ja schon gerne wissen, wer eigentlich dieser Vorsitzende Mao sei, von dem Porter die ganze Zeit spreche.

1978 begannen die Reformen. Langsam ließ die Politik den Menschen einige Freiheiten. Auch das religiöse Leben regte sich wieder. Zerstörte Tempel wurden aufgebaut, Mönche und Nonnen kehrten in die Klöster zurück. Es war, als versuchten sie, eine uralte Vase wieder zu kitten, die in tausend Stücke zersprungen ist. Einige Scherben sind für immer verloren, und selbst wo es gelang, die Stücke zusammenzukleben, sind die Bruchlinien zu erkennen. Vor allem aber hat sich China verändert. Die Moderne rast durchs Land, wo sie hintritt, bleibt nichts, wie es war. Jeder will Geld verdienen, jetzt und hier, wer weiß schon, wie lange das rauschhafte Wachstum anhalten wird. Neulich erst sagte ein überaus freundlicher älterer Mann im Bus: »Ja, ihr Europäer habt ein gutes, gemütliches Leben. Doch mal ganz ehrlich: Für uns Chine- sen wäre das nichts. Wir wollen ein größeres Auto, ein größeres Haus und da- nach noch ein zweites. Ihr habt einfach nicht so viel Ehrgeiz.« Und doch – manchmal, mitten im Rennen, schleichen die Fragen herbei. Und je weniger einer ums nackte Überleben kämpfen muss, desto drängender werden sie. Bisweilen sind die Städter müde, krank und ausgebrannt. Etwas plagt sie, und sie wissen nicht, was. Und irgendwann kommen sie in ihrer Ratlosigkeit die Berge herauf. Ins Zentrum des Zhongnan- Gebirges etwa, auf jenen Berg, der verwirrenderweise ebenfalls Zhongnan heißt. Hier leben die meisten Eremiten. Nanshan zum Beispiel.

Als wir ihn das erste Mal sehen, ist er abweisend. »Jetzt nicht! Ich esse«, blafft er. Mitte 30 ist er und wirkt wie mitten durchgeschnitten, als lebe er obenrum in der Moderne und von der Taille ab im Altertum. Auf dem Pulli ein englischer Schriftzug, irgendwas mit »looking to the future«, unten eine daoistische Hose. Nanshan ist vorsichtig geworden. Neuer- dings kommen so viele Besucher auf den Berg, und einerseits will er ja helfen. Andererseits lassen die Besucher viel Müll da, den die Eremiten dann wegräumen müssen. Vor allem aber bringen sie Geld. Und das verändert den Zhongnan-Berg. Allerorten werden plötzlich Tempel und Retreat-Zentren eröffnet. Und einige wollen, was Nanshan besonders verhasst ist: Geld verdienen.

Seit 15 Jahren lebt er auf dem Berg, in einer winzigen Lehmhütte, die er sich auf einem alten Friedhof gebaut hat. Mit anderen Eremiten hat er ein Gemeinschaftshaus errichtet, in dem allen alles gehört: die Bücher, der Computer, die Tassen. Neulich aber kam eine Frau ins Gemeinschaftshaus, seit Kurzem leitet sie hier ein Retreat-Zentrum, und sagte: »Diese Tasse ist meine. Und das ist deine.« Solche Erlebnisse haben Nanshan misstrauisch gemacht, mit der Zeit aber taut er auf. Irgendwann sagt er: »Ich führe euch. Den Weg, den fast keiner kennt – zu Eremiten, die schon lange hier leben. Und zu einem, der sonst keinen empfängt.«

Früh am Morgen geht es los, auf leeren Magen. »Nicht essen«, sagt Nanshan, »ist gut.« Er biegt auf einen schma- len, überwucherten Pfad. Springt über Klippen wie ein Bergfuchs. Gleitet über Steine, Moos und Flechten, die Wur- zelwege entlang, vorbei an Bäumen, so seltsam, als seien sie aus den Tiefen des Meeres emporgewachsen. Kriecht durch

Gestrüpp, dicht wie Medusenhaar, hinterlässt keinen gebrochenen Zweig. Er deutet auf den Kot am Weg. »Das war ein Schwarzbär, letztens habe ich einen ge- troffen, 400 Kilo schwer.«

Nanshan ist ein moderner Vagabund. Er lebt, als regierte in Peking noch ein Kaiser, schwelgt in alten Zeiten und Sagen, um dann wieder Popsongs zu sin- gen oder stundenlang an seinem Smartphone zu hängen. Manchmal geht er auf Urlaub in die moderne Welt: »Freunde besuchen.« Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus, von allem hat er gelernt. Was er sei? Lachen. »Nur eine leere Glocke. Wie du sie anstößt, so klinge ich.«

Er war fast noch ein Kind, als er nachts chinesische Medizin lernte, Kampfkunst, Feng-Shui, das Wissen der alten Welt. Das der neuen interessierte ihn nicht, in der Schule fehlte er oft. Mit 16 verbrannte er die geliebten Bücher – »Bücher sind nur Wegschilder, sie hielten mich davon ab, selbst Erfahrungen zu sammeln« – und machte sich auf den Weg. Zu Fuß durch Südchina. »Ich lief zwei Paar Schuhe kaputt, um mich von meinen schlechten Eigenschaften zu lösen, der Oberflächlichkeit und der Flatterhaftigkeit.« Er ging durchs moderne China, als wäre es ein viel älteres. Aß wilde Kräuter, kochte sich Schnecken. Für ein bisschen Geld oder eine warme Mahl- zeit praktizierte er Kampfkunst, Qigong und chinesische Medizin. Er schlief, wo er gerade landete, auf einem Dachstuhl, einem Baum, einem Friedhof. Irgendwann hatte er genug. »Wie eine Kuh, die zu viel Gras gefressen hat. Ich wollte stehen blei- ben und verdauen.« So wurde er Eremit.«

Der Weg windet sich einen steilen Hang hinauf. Oben liegt, wie ein Nest an den Gipfel eines Berges geschmiegt, die Einsiedelei Shizi Maopeng. Löwenhütte. Eine Stupa, ein Denkmal für Buddha, umringt von windschiefen Hütten, der Blick von hier ist atemberaubend. Es ist die Stupa, die der buddhistische Mönch Benxu drei Monate lang umrundete. Und das ist eine der bewegendsten Geschich- ten des Zhongnan-Bergs.

Wer den Mönch Benxu, 44, zum ersten Mal trifft, der bemerkt als Erstes: seine Feinheit. Es ist die Art, wie er spricht und gestikuliert, wie er seinen Blick auf dem Gegenüber ruhen lässt. Jede Bewegung ist auf das Wesentliche reduziert, jede ist vollkommen.

Mit 28 zog er in die Einsamkeit, um die Unruhe zu besiegen, Erleuchtung zu erlangen. Jahrelang hatte der einstige Lehrer in buddhistischen Klöstern meditiert. Doch der Geist war ein Vögelchen, das einfach nicht zur Ruhe kommen wollte. Mal flatterte er hierhin, dann dorthin, mal wollte er das eine und dann das Gegenteil. In der Einsamkeit, glaubte Benxu, würde es leichter werden. Das Gegenteil geschah. Sein Geist bäumte sich auf, raste, rebellierte gegen die Einsamkeit. Keine zehn Minuten hielt es Benxu im Lotussitz aus. Verzweifelt nahm er ein Buch zur Hand, das ihm sein Vorgänger in der Löwenhütte, ein lamaistischer Mönch, hinterlassen hatte. Es ist das Bo Zhou San Mei – darin findet sich die härteste Disziplin der buddhistischen »Reines-Land-Schule«. Wer die Erleuchtung sucht, heißt es dort, der gehe drei Monate lang. Ohne zu schlafen, ohne auch nur ein Mal anzuhalten. Umrunde

die Stupa bei Tag und bei Nacht! Zähme den Geist, indem du den Körper bezwingst! »Wenn du nicht mehr gehen kannst, krieche. Wenn du nicht mehr kriechen kannst, rolle.« Benxu nahm einen Pinsel und schrieb Zei- chen auf Papier. Das heftete er an seine Hüt- te, gut sichtbar. »Der Glaube ist so groß wie der Berg, der Körper so leicht wie Staub.«

»Der erste Monat war der schlimmste.« In seinen Adern pumpte das Blut, Beine und Kopf schwollen an, die Augen waren nur noch Schlitze. Alle Kraft wich aus ihm. Schwindel, Erschöpfung. »Ich wollte nur noch umfallen. Stützte mich an den Wänden ab, irgendwann konnte ich nicht mehr lau- fen. Ich kroch.« Aufgeben, schlafen, verges- sen, doch da waren seine Zeichen an der Hüttenwand: »… der Körper so leicht wie Staub.« Und tatsächlich, im zweiten Monat fühlte er Leichtigkeit in den Gliedern. Alles geschah wie von selbst. Ein Schritt folgte auf den anderen, das Mantra kam von seinen Lippen, ohne dass er es sagen musste. »Die Gedanken verschwanden. Sie wurden eins, lösten sich im Mantra auf. Wenn du aufhörst zu denken, verbrauchst du auch keine Ener- gie mehr. Bist nicht mehr müde. Die Sinne werden schärfer. Wenn ganz unten am Berg einer etwas sagt, dann hörst du es oben ganz klar. Du entwickelst übersinnliche Kräfte.«

Als der Frühling den Berg hinaufkroch, waren die drei Monate vorbei. Benxu legte sich nieder. Kochte Tee. Der Zustand hielt an, es war der kostbarste Moment seines Le- bens. Und irgendwann verflog er wieder. Benxu lächelt ein besonderes Lächeln, Me- lancholie liegt darin, Akzeptanz und Zärt-

lichkeit. »Jetzt geht es in meinem Kopf wie- der ziemlich chaotisch zu. Erst wenn du erleuchtet bist, wird es bleiben.«

Wir verlassen Benxu, ziehen weiter. Hinunter ins Tal, über schlammige Abhänge, den ganzen Tag sind wir gelaufen, und noch immer haben wir nichts gegessen, da kommen wir an. Und sind überrascht: Hailian, der zurückgezogenste der Einsiedler, soll ausgerechnet hier leben?

Unten im Tal, gleich an der Straße, auf der am Wochenende die Sommerfrischler im Stau stehen, liegt über einem sprudelnden Wasserfall ein Stein. Er scheint über dem Wasserfall zu schweben, dick und rund wie ein Wal, der auf einer Klippe gestrandet ist. Darin wohnt Hailian. Nie hat man eine Bleibe ge- sehen wie diese. Um sie zu erreichen, muss man den Bergfluss überqueren, von Stein zu Stein springen, auf einer Leiter balancieren, die Hailian über den Wasserfall legt. Das tut er fast nie. »Ich empfange so gut wie keine Gäste. Ihr müsst wissen, mein Charakter ist nicht gut, ich gerate ziemlich leicht in Wut. Früher habe ich Touristen, die mich fotografieren wollten, die Kamera zerschmissen.«

Hailian, 59, ist ein Eremit wie aus wil- desten Aussteigerträumen. Lianengleiches Haar, hinten zum Zopf geflochten, der Bart ein wildes Gestrüpp.

Er hat sich eine gigantische zweistöckige Höhle gebaut, einen Felspalast. Obendrauf hat er eine illegale Satellitenschüssel installiert, mit der er 40 Kanäle empfangen kann. Am liebsten sieht er Kriegsfilme, epische Schinken über den Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten. Sie zeigten ihm, sagt Hailian, »wie man Krieg vermeiden und Harmonie und Frieden auf der ganzen Welt schaffen kann«. Im Hof hat er die chinesische Flagge gehisst, die für ihn alle Länder der Welt repräsentiert. Ein Licht, das plötzlich über seinem Kopf erschienen sei, habe ihm das befohlen. »Das Land zu schützen, Frieden zwischen den Ländern zu bringen.«

Hailian hat etwas von einem luziden Verrückten. Er spricht begeistert wie ein Kind, seine Hände fliegen wie aufgescheuchte Schmetterlinge durch die Luft. Einst arbeitete er im Büro für Nationale Sicherheit, das so- wohl polizeiliche als auch geheimdienstliche Aufgaben erfüllt, er war Mitglied der Kommunistischen Partei. Als solches hatte er Atheist zu sein, doch es half ja nichts, nachts er- schienen ihm Buddha, der Jadekaiser und der Drachenkönig. Eine Zeit lang lebte er in einem daoistischen Kloster, und dann kam es zu diesem mysteriösen Brand, über den sich Hailian nur kryptisch äußert. »Sie wollten mich anzünden. Aber irgendwie dachte die Polizei, ich hätte damit was zu tun gehabt.«

Tatsache ist, dass Hailian im Gefängnis landete. Und sich, freigekommen, 1994 zu Fuß auf den Weg durch das halbe Land machte, zu den Zhongnan-Bergen. Anfangs führte nur ein Feldweg an seiner Höhle entlang, bis die Regierung vor ein paar Jahren die Straße baute. Seither brausen die Besuchermassen vorbei. Er zuckt mit den Schultern, als wäre es nur der Regen, der in den Hof vor seiner Höhle prasselt. Wie heißt es doch unter den Einsiedlern? »Der größte Eremit ist der, dem es gelingt, mitten in der Stadt zu leben.“

Veröffentlicht im November 2012 Zeit Magazin