Die Macht von Nebenan

Beispiel Myanmar: Geschickt baut die Großmacht China ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss in den Nachbarstaaten aus

„Fahr nach Mandalay“, hatten sie gesagt. „Mandalay ist längst eine chinesische Stadt auf birmanischem Boden.“

Und wir sind hingefahren, um zu verstehen, was der Aufstieg Chinas mit den Ländern

an seinen Grenzen macht. Jedes Reich hat seine Peripherie, seinen Hinterhof. Oft ist über die Mexikaner geschrieben worden, ihr Leben im Schatten der USA. Viel weniger weiß man über die Länder im Umkreis Chinas [.

Birma, das seit 1988 Myanmar heißt, ist ein ganz besonderer Fall. Lange war das Land international isoliert. Fünf Jahrzehnte lang regierten es die Generäle, der Westen hatte es mit Sanktionen belegt. China wurde zum alles überragenden Handelspartner des Landes. Zum großen Bruder. Und zur politischen Lebensversicherung der Junta. Jetzt aber wandelt sich das Land rasant. Die Generäle haben die Uniform abgelegt, sie verhandeln mit der Opposition, lassen dem Volk ein wenig Freiheit. Demokratie ist das noch nicht, aber ein Anfang. Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wurde ins Parlament gewählt . Die USA, Kanada und Australien, sie alle haben in den vergangenen Wochen viele Sanktionen gelindert oder aufgehoben . Was heißt das für China?

Mandalay, das klingt wie eine Zauberformel. Einst ließ der König die Stadt auf die Ebene werfen wie ein Tuch mit Schachbrettmuster. Mandalay war eine Stadt der Kaufleute, strategisch günstig auf der Handelsroute zwischen China und Indien [https://www.zeit.de/2012/07/China-Indien] gelegen, die es so

heute nicht mehr gibt. Doch schon bald nach der Unabhängigkeit schloss sich Birma in sich selbst ein. Und Mandalay fiel in tiefen Schlaf. In manchen Gassen ist es noch immer nicht ganz erwacht, da ist die zweitgrößte Stadt des Landes ganz Dorf. Menschen, die stundenlang ins Nichts schauen, Hunde, die gemächlich über Staubstraßen tippeln. Dann aber biegt man um eine Ecke, und es ist, als hätte man mit ein paar Schritten Jahrzehnte durchquert. Die Stadt rauscht und röhrt. Hier wird Geld gemacht. Und meist machen es die Chinesen.

China trifft man hier allerorten und in vielerlei Gestalt. Zum Beispiel in der des Staatsbetriebs China National Petro Cooperation CNPC. Eine Motorradstunde von Mandalay entfernt stolpert man über Betonröhren, mächtig wie die Wirbelknochen eines verendeten Dinosauriers. Sie schlängeln sich durch Gras und Gebüsch, davor steht ein chinesischer Ingenieur, der einen Kran dirigiert. Eine Röhre lässt er neben die andere setzen, den ganzen langen Weg nach China. „Kein Interview und ja keine Fotos“, ruft er, „Unternehmenspolitik.“ CNPC baut eine Pipeline, die 2013 den westbirmanischen Hafen Kyaukpyu mit der chinesischen Stadt Kunming verbinden soll. Dann werden angelandetes Öl und birmanisches Gas nach China fließen.

Myanmar verfügt über reiche Ressourcen, die China braucht

Die Chinesen werden dann die größten Importeure birmanischen Gases sein. Für sie lindert die Pipeline ein altes Dilemma: 80 Prozent der chinesischen Ölimporte schippern bisher durch die Straße von Malakka, die von Piraten belagert ist. Wer die Absicht hätte, China den Ölhahn zuzudrehen, könnte das hier vergleichsweise einfach tun. Ein Zugang zum Indischen Ozean könnte das Problem lösen, doch was liegt dazwischen? Myanmar.

Es geht nicht nur ums Öl. Lange hat sich Chinas wirtschaftliche Entwicklung auf die Küstenprovinzen im Osten konzentriert, während jene im Westen relativ arm blieben, umschlossen von Wüsten und hohen Bergen, weit entfernt vom Meer. „Was China fehlt, ist sein eigenes Kalifornien“, schreibt der amerikanisch-birmanische Schriftsteller Thant Myint-U. Ein zweites Wachstumszentrum an einem zweiten Ozean. Der Weg durch Myanmar führt geradewegs zum Meer. Chinesische Staatsfirmen bauen derzeit sechs moderne Häfen in Myanmar. Sie verlegen Straßen, sie planen Hochgeschwindigkeitszugstrecken.

Und das ist noch nicht alles. Myanmar, wenngleich ein armes Land, verfügt über reiche Ressourcen, die China gut gebrauchen kann. Und China baut Wasserkraftwerke an Myanmars mächtigen Flüssen, fördert Erze, Edelsteine und Gold, rodet Holz, betreibt Plantagen.

China holte in schwindelerregendem Tempo auf

„Wir hatten einfach keine andere Wahl“, sagt ein birmanischer Exmilitär, ein ehemals hochrangiger Mitarbeiter im Energieministerium. 1988 löste eine neue Militärjunta die alte ab, in jenen Monaten euphorischer Studentenproteste, die die neuen Herrscher schon bald mit aller Gewalt niederschlagen sollten. Die Staatsfinanzen lagen darnieder, die Währungsreserven gingen gegen null, das Land war durch Misswirtschaft zu einem der ärmsten der Welt verkommen.

Die neue Junta wusste darauf eine Antwort: den Ausverkauf der Ressourcen. Der Exmilitär kann sich noch gut daran erinnern, wie man Anfang der neunziger Jahre die Claims in den riesigen Gasfeldern absteckte. Birma verfügt über die zehntgrößten Reserven der Welt. Texaco und Total, Koreaner und Japaner, fast alle waren gekommen. Dann aber verhängte der Westen Mitte der Neunziger Sanktionen – auf Wunsch der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi [https://www.zeit.de/schlagworte/personen/aung-san-suu-kyi/index] ,

der die Generäle 1990 den haushohen Wahlsieg gestohlen hatten, die sie jahrelang einsperren ließen. „Plötzlich zogen alle westlichen Unternehmen ab“, sagt der Exmilitär. Und auch in Thailand und Indien gab es heftige Proteste der birmanischen Opposition. „Es blieben zwei Optionen. Russland und China. Russland aber war weit weg und hatte selbst zu kämpfen, China war unsere einzige wirkliche Alternative.“

China liefert Technologie, Kredite und Waffen. 70 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen stammen von dort. Vor allem aber hielt es seine schützende Hand über das isolierte Regime. 2006 bereiteten die USA und Großbritannien eine Resolution im UN-Sicherheitsrat gegen die birmanische Junta vor. China legte sein Veto ein. Es war die Zeit, in der die birmanische Regierung überlegte, wohin eine neue Gaspipeline führen sollte; Indien war interessiert, Südkorea ebenso. Zwei Monate nach Pekings Intervention wurde bekannt: Die Pipeline geht nach China.

Ganz geheuer ist den Militärs die Abhängigkeit nicht. So weiß die birmanische Regierung, dass China ganz eigene Beziehungen zu den Minderheiten an seiner Grenze pflegt, mit denen sich die Zentralregierung lange bekriegte und teilweise noch immer bekämpft. Bisweilen vermittelt China zwischen den Parteien. Doch was tut es sonst noch? Die Beziehungen sind komplex und ziemlich undurchsichtig. Ein Gesprächspartner beschreibt sie so: „Sie verkaufen Minen an die Zentralregierung und Minendetektoren an die Minderheitenmilizen.“ Und der Exmilitär sagt: „Wir können nur mit den Minderheiten verhandeln, wenn wir uns vorher mit China abgesprochen haben. China“, sagt er und zieht die Brauen hoch, „sieht uns längst als eine seiner Provinzen.“

Doch China tritt nicht nur in Gestalt des Staates in Myanmar auf. Sondern auch in jener unzähliger privater Händler.

Der Jademarkt in Mandalay. Es ist, als könne man einem gewaltigen Organismus dabei zusehen, wie er die Jade an seinen Pforten verschluckt, sie zerkleinert und verdaut. Vorne kommt sie in dicken unbehauenen Brocken an, die sonnenverbrannte Bauern aus ihren Säcken schütteln, als wären es Kartoffeln. Hinten kommt sie als Schmuck heraus: feine grünlich durchscheinende Armbänder, Ringe und Reifen. Irgendwo dazwischen sitzen die chinesischen Händler, die Hände über weiße Tischchen gefaltet. Man versucht, ins Gespräch zu kommen. „Sprechen Sie Mandarin?“ – „Was geht dich das an?“, faucht es auf Chinesisch zurück. „Wir wollen hier nur Geld verdienen, der Rest ist uns egal.“ Es droht ein katastrophaler Vormittag zu werden, bis man Lei Jianrong trifft, den glatzköpfigen, übers ganze Gesicht strahlenden Jadehändler aus Kanton. Er bittet sogleich zum Essen.

„Auf der ganzen Welt gibt es Chinesen, und das seit Jahrhunderten“

Lei Jianrong ist freundlich. Er klopft selbst Jadeverkäufern auf die Schulter, denen er ganz sicher nichts abkaufen will. Über sein Gastland weiß er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen nur Gutes zu sagen. Warum sind die Chinesen in Mandalay so reserviert gegenüber Fremden? „Ach, wir Auslandschinesen bleiben unter uns, wir wollen nicht auffallen. Überall ist das so, schau dich um, auf der ganzen Welt gibt es Chinesen, und das seit Jahrhunderten.“

Lei hat schon die Klagen vernommen, die man in Mandalay an jeder Straßenecke hören kann: Dass die Chinesen hierher kämen und das große Geld machten, während die Birmanen zurückblieben. Lei wiegt den Kopf und steckt sich eine Zigarette an. „Na ja, direkt nach den Reformen in China kamt ihr Ausländer doch auch zu uns und habt gut verdient. Und genau so, wie ihr das getan habt, machen wir es jetzt eben in Myanmar.“

Die chinesischen Kaufleute tun nichts Falsches. Sie reisen, machen Geschäfte, lassen sich nieder, so wie es Menschen auf der ganzen Welt tun. Das ist Freiheit. Und doch trifft Leis Vergleich nicht ganz zu. Als die westlichen Unternehmen 1978 nach China drangen, wusste die chinesische Regierung, dass sie über ein wertvolles Pfand verfügte: den gewaltigen chinesischen Markt. Westliche Firmen kamen nach China und sahen, dass ihre Produkte und ihre Technologie innerhalb kürzester Zeit kopiert wurden. Das ist nicht fair, sagte der Westen. Doch, sagte China. Ihr habt die Regeln gemacht, und die sind nicht fair. China holte in schwindelerregendem Tempo auf.

„Es hat keinen Sinn mehr. Lerne lieber Chinesisch“

Wer aber verdient an Chinas Engagement in Myanmar? Im vergangenen Jahr stiegen die ausländischen Investitionen um das 60-Fache. 99 Prozent aber sind Investitionen in Öl und Gas, Bergbau und Energieprojekte. Daran verdient die Regierung, es profitieren einige korrupte Beamte und die Günstlinge des Regimes, superreiche Tycoons. Der Reichste von ihnen ist übrigens chinesischstämmig: Stephen Law. Was aber geschieht mit den Arbeitsplätzen, der birmanischen Industrie?

Man kann dazu einen Mandalayer Industriellensohn befragen, der nicht will, dass man seinen Namen nennt, „das Thema ist zu sensibel“. Er ist ein typisches Kind seiner Stadt, in seinen Adern fließt chinesisches und indisches Blut, das der Minderheit der Shan und der Mehrheit der Birmanen. Myanmar ist ein Vielvölkerstaat, der offiziell 135 Ethnien zählt. Und eine Handelsstadt wie Mandalay ist besonders polyglott.

Es ist noch nicht lange her, da flatterte ein Aufruf in den Facebook-Account des Industriellensohns. „Boykottiert chinesische Waren.“ Solche Kampagnen gibt es jetzt öfter, denn viele Birmanen haben den Eindruck, dass sie bei der ganzen Sache den Kürzeren ziehen. „Vergiss es“, schrieb er damals zurück. „Du brauchst mindestens einmal am Tag ein chinesisches Produkt.“

Es gab eine Zeit, da produzierte die kleine Fabrik seines Vaters Getriebe und Zahnräder, Achsbolzen und Gewindemuttern. Einige der Maschinen stammten noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, doch ratterten sie tapfer vor sich hin. Dann aber, 1988, öffnete die birmanische Regierung den Grenzhandel mit China. Chinesische Geschäftsleute zogen nach Mandalay, erst einer, dann immer mehr, Zugvögeln gleich auf dem Weg nach Süden. Sie brachten chinesische Waren mit. Und schon bald lohnte sich das Geschäft für den Vater nicht mehr. „Mehr als 90 Prozent unseres Rohmaterials kommt aus China“, sagt er. Ein Kettenzahnrad aus chinesischer Fertigung koste in Myanmar 3.500 Kyatt, umgerechnet 3,24 Euro. Es in Birma herzustellen sei drei- bis fünfmal so teuer. „Sie stellen modern in Massenproduktion her, wir mit veralteten Maschinen.“

Eine alte birmanische Fabrik nach der anderen schloss im Industriegebiet von Mandalay. Eine moderne chinesische nach der anderen öffnete. Eigentlich ist es Ausländern verboten, Land zu kaufen oder Fabriken zu eröffnen. „Doch irgendwie findet sich immer ein Weg.“ Mal ist es ein korrupter Beamter, der einen birmanischen Personalausweis ausstellt. Dann wiederum betreibt ein Chinese sein Geschäft hinter der Fassade eines birmanischen Inhabers. „Schattengeschäfte“, nennt man das in Mandalay.

Eigentlich hatte er die Fabrik des Vaters übernehmen wollen, bis zu jenem Abend, an dem der Vater sagte: „Es hat keinen Sinn mehr. Lerne lieber Chinesisch.“ Der Sohn wird nach Peking gehen, in einem chinesischen Unternehmen als Übersetzer arbeiten und lernen, wie das die Chinesen so machen: Geschäft.

Das Problem sei nicht nur die Technologie, sagt er. Das Problem sei der ganze Rest. Eine feste Mobilfunknummer kostet in Myanmar mindestens 3.000 US- Dollar. Kredite zu bekommen ist äußerst schwer. Kreditkarten sind nicht gebräuchlich, EC-Automaten gibt es fast nirgendwo, ein Bank- und Finanzwesen existiert nur ansatzweise.

„Ich mache einfach lieber Geschäfte mit anderen Chinesen“

Wer dem Industriellensohn eine Weile zuhört, gewinnt den Eindruck, als flögen hier Vögel, denen man Gewichte an die Füße band, mit freien um die Wette. 60 Millionen Einwohner hat Myanmar; so viele wie es Auslandschinesen auf der Welt gibt. Meist sind die hervorragend vernetzt. Die Chinesen, mit denen wir in Mandalay sprechen, haben Familie in Hongkong oder Macau, in Singapur und den USA, in China sowieso. Auslandschinesen haben ihre jahrhundertealte Kreditkultur, man leiht sich gegenseitig Geld, meist braucht es das aber gar nicht. Das Geld ist so beweglich wie die Menschen, man leiht es sich in Hongkong, China oder Singapur. Oft bleibt es im Zirkel der Chinesischstämmigen. „Wie soll ich’s beschreiben?“, sagt einer von ihnen. „Ich mache einfach lieber Geschäfte mit anderen Chinesen. Da ist mehr Vertrauen.“

Die ganze Innenstadt Mandalays ist Chinatown

Der Zeygyo-Markt ist der größte Markt Mandalays, ein Universum der Farben und Gerüche. Da ist der Marktschreier, Mund und Augen aufgerissen wie ein Kugelfisch, Schwärme schwatzender Marktfrauen ziehen vorbei, nie gesehene Früchte türmen sich auf, bunt wie Korallenriffe. Vieles gibt es hier zu entdecken, nur eines muss man lange suchen: in Myanmar gefertigte Produkte. Ein paar geflochtene Einkaufstaschen, Seifen, traditionelle Kosmetik, ein wenig Handwerk. Der Rest, die Jacken und Unterhosen, Nylonstrümpfe und Küchenschwämme, Quietscheenten und Frühstückstassen kommen allesamt aus China. Chinesisch sind auch die Zementfabrik der Stadt, die Klinik, chinesisch sind 80 bis 90 Prozent der Hotels, die meisten Shoppingmalls, Möbelgeschäfte und Handyläden.

Tin Maung ist Chef der Vereinigung der Immobilienhändler in Mandalay. Er spricht Birmanisch, doch Ausdrücke wie high speed, stimulate the economy und property bubble rollen in akzentfreiem Englisch aus seinem Mund.

Mandalayer Immobilienmarktes, und das ist gleichzeitig einer durch die jüngere chinesische Geschichte. Die eine ist ohne die andere nicht zu verstehen. Da war etwa das Jahr 1997, als Hongkong an China zurückging. In kürzester Zeit vervierfachten sich die Immobilienpreise in Mandalay. „Viele Hongkong-Chinesen waren sich unsicher, wie es weitergehen würde, und kauften Grund und Boden hier.“ Auch sie nutzten dafür Schattenmänner mit birmanischem Pass.

„Zwei Monate später kündigte China die Politik Ein Land, zwei Systeme an, und der Boom ebbte schlagartig ab“, berichtet Tin Maung. 2008 stiegen die Preise auf das Neunfache, weil der Export von Edelsteinen und Landwirtschaftsprodukten nach China boomte. Und 2011, als die chinesische Regierung eine Einfuhrsteuer von 25 Prozent auf Jade verlangte, kam es zu einem weiteren Hoch: Die chinesischen Jadehändler steckten ihr Geld nun lieber in den Immobilienmarkt. „Auch die Versuche der chinesischen Regierung, den überhitzten heimischen Immobilienmarkt abzukühlen, wirken sich direkt auf uns aus. Die Chinesen investieren jetzt hier.“ Acht von zehn Großinvestoren auf dem Mandalayer Immobilienmarkt seien Chinesen, sagt Tin Maung. Sie kauften Häuser in den guten Vierteln im Zentrum, die Birmanen zögen an den Stadtrand. „Sie stellen die Oberschicht und die obere Mittelklasse. Wir Birmanen sind die untere Mittelklasse und die Unterschicht.“

Oft hört man einen Satz in Myanmar: „Die ganze Innenstadt Mandalays ist Chinatown.“ Und ja, es gibt Hotels wie das mit dem Namen „Große Mauer“, vor dem dauerqualmende chinesische Geschäftsleute stehen. Eine Klinik inseriert auf Chinesisch: „Hier können sie einen männlichen Nachfolger gebären“. Viele Häuser tragen chunlian, den Türschmuck, mit dem Chinesen das Neujahr willkommen heißen. Doch Chinatown? Ist das nicht übertrieben? Auch in anderen asiatischen Städten leben große chinesische Minderheiten, und wie viele wirklich in Mandalay leben, kann niemand sagen. Die Letzten, die hier eine Volkszählung durchführten, waren die britischen Kolonialherren.

Die Dinge liegen kompliziert in Mandalay, und das gilt am meisten für einen chinesischstämmigen wie Theint Noa, 64. Er ist ein gut gelaunter Mann und der Betreiber des charmantesten Buchladens von Mandalay. Er gilt als das Gedächtnis der Stadt. Keine Straße kann er passieren, ohne gleich ihre Geschichte zu erzählen. Er hat ein Buch verlegt, das voller Zärtlichkeit die Straßen Mandalays besingt. Einst emigrierte sein Großvater nach Myanmar, damals war das Bruttosozialprodukt Birmas doppelt so groß wie das Chinas. Heute ist das chinesische sechsmal höher als das birmanische. Theint Noa wuchs als Birmane auf, so fühlt er sich auch, nie hat er Chinesisch gelernt, den Behörden aber galt er als Ausländer. Unter dem national gesinnten Diktator Ne Win durfte er nicht Medizin studieren, obwohl er das gern getan hätte.

Spricht Theint Noa über die neu angekommenen Chinesen, trübt sich seine Laune. „Sie nehmen sich alles und lassen uns nichts. Was bekommen wir schon? Einen einfachen Job als Fahrer, als unterer Angestellter, das war’s. Wir Alteingesessenen hassen die Chinesen, nicht anders als die Birmaner.“ Sie achteten nur auf ihren Vorteil. „Man kann mit ihnen nur über Geld reden, sie haben keinerlei soziales Empfinden, empfinden keinerlei soziale Verantwortung.“ Die Neuen verweigern sich der Integration, die ihm, Theint Noa, so wichtig ist.

Andere alteingesessene Chinesen sprechen nicht ganz so drastisch über die Neuankömmlinge wie er. Doch auch sie sagen oft: „Mit den Neuen habe ich nicht viel zu bereden. Das China von heute ist eine ganze andere Gesellschaft.“ Und mit einem Mal gewinnt man den Eindruck, dass hier nicht einfach zwei Länder aufeinandertreffen, Myanmar und China. Sondern zwei Asien. Ein religiöses, alten Werten, der Gemeinschaft verpflichtetes. Und ein neues, leistungsstarkes, materialistisches. In ihrem Tempel, in ihren Vereinigungen halten die Alteingesessenen in Mandalay ein China am Leben, das es in China längst nicht mehr gibt.

Wird China seine Außenpolitik ändern müssen?
Der politische Wandel hat den Spielraum Myanmars vergrößert

Chinas Image in Myanmar ist mittlerweile so schlecht, dass es zu Rückschlägen kommt. So wie im vergangenen September, als der birmanische Präsident den Bau des Staudamms von Myitsone auf Eis legte. Sehr zum Schrecken Chinas, das das 2,7 Milliarden Euro teure Projekt finanzierte. Heftig hatte die Bevölkerung gegen das Projekt protestiert. Weil es um den Irrawaddy-Fluss ging, die Wiege der Nation. Und weil viele in dem Projekt den Inbegriff eines Ausverkaufs sahen, von dem das Volk nur Schlechtes haben würde: Umsiedelung und Umweltprobleme. 90 Prozent des erzeugten Stroms sollten nach China gehen, Myanmar aber leidet unter täglichen Stromausfällen.

Als der Präsident das Projekt stoppte, war das nicht nur ein Signal an das Volk: Von nun an werden wir mehr auf eure Stimme hören. Sondern auch eines an China: So einfach wie bisher werdet ihr es nicht mehr haben. Schon lange sehnte sich die Regierung nach einer Annäherung an die USA, den Westen, um den übergroßen Einfluss Chinas zu kontern. Doch solange die alte Junta an der Macht war, war daran nicht zu denken. Der politische Wandel hat den Spielraum Myanmars vergrößert.

Auch Myanmar wird nun ein Spiel spielen können, dass andere asiatische Länder bereits perfektioniert haben. Sie spielen den einen Riesen gegen den anderen aus. China ist ja keine neue Großmacht, sondern eine alte, die nach langer Zeit von Isolation, Chaos und Stagnation einen neuen Platz in der Welt sucht. Und China drängt nicht in ein machtpolitisches Vakuum. In vielen Ländern muss sich China mit anderen Großmächten arrangieren, in jedem auf andere Weise. Die meisten von Chinas Nachbarländern sind enge Verbündete der USA. Japan, Südkorea, Thailand, die Philippinen. Andere standen lange unter dem exklusiven Einfluss Indiens, Nepal zum Beispiel, zu dem China neuerdings innige Beziehungen pflegt.

Und dann gibt es die kleinen Schwachen, die nichts zu sagen haben, wie Laos und Kambodscha. Auch Myanmar gehörte dazu, doch werden die Karten nun eben neu gemischt.

China werde auch weiterhin eine große Rolle in Myanmar spielen, notiert ein chinesischer Universitätsprofessor, der mit dieser Ansicht nicht namentlich zitiert werden möchte. Und doch: Es müsse dringend Imagepflege betreiben. Weg vom Image des „Ressourcenräubers“, der der Umwelt schade und der Bevölkerung keinen Nutzen bringe.

In vielen rohstoffreichen Ländern der Welt verfolgt China eine ähnliche Politik. Umgarne die Eliten, beute die Rohstoffe [https://www.zeit.de/schlagworte

/themen/rohstoff] aus, der Rest muss dich nichts angehen. Fairerweise muss

man sagen, dass dies nicht nur für China gilt – auch der Westen hat das lange so gemacht. Doch in Myanmar und anderswo stößt das Vorgehen nun auf Widerstand.

Wird China seine Außenpolitik ändern müssen? Kann es das überhaupt? So verwunderlich das klingen mag: Das Außenministerium hat in China wenig Macht. Mehr als ein Dutzend Regierungsorganisationen, Provinzen, Staatsfirmen, sie alle verfolgen ihre ganz eigene Außenpolitik. Mal sehen, ob man die zu einer Charmeoffensive zusammentrommeln kann. Mal sehen, was die Menschen denken werden. In fünf Jahren. In Mandalay.

Veröffentlicht 3. Mai 2012