Die Freien und die Großen

Eine Familie lebte auf beiden Seiten der Taiwanstraße – in der Volksrepublik und Taiwan. Szenen von Annäherung und Entfremdung

Dass eine neue Zeit begonnen hatte, wusste Liu Wenbin, als vor ein paar Jahren eine Freun- din der Verwandten vom chinesischen Festland zu Besuch kam. Sie hatte nicht viel Zeit und keine Augen für die Sehenswürdigkeiten Taiwans, es gab Wichtigeres: zum Beispiel Handtaschen. Mit perfekt manikürten Fingernägeln scrollte sie durch ihr iPhone und betrachtete die Bilder von Luxusgütern. »Das, das, das«, sagte sie, als sie auf dem Gerät herumtippte. Am Ende, erzählt der heute sechzigjährige Liu, habe sie tütenweise eingekauft, »Schuhe, Taschen für 400 000 Taiwan-Dollar« (mehr als 10 000 Euro).
Liu ist ein leutseliger Typ, einer, von dem seine Frau sagt, »er redet halt gern«; bisweilen muss man im Restaurant eine Weile warten, weil er sich mit dem Koch festgequatscht hat. Er macht gerne Witze. Sich selbst und die hal- be Million taiwanesischer Geschäftsleute, die auf dem Festland Geschäfte macht, nennt er den »Sturm auf die Kommunisten«, so wie es einst Taiwans oberster Generalissimo Chiang Kai-shek gebellt hatte, der davon träumte, das Festland einzunehmen.

Liu erinnert sich noch gut daran, wie er das erste Mal aufs Festland reiste, Ende der achtziger Jahre; er wollte Geschäfte machen. Und die Verwandten seiner Frau in der Provinz Fu- jian sollten ihm helfen. Das war, bevor er einen landwirtschaftlichen Betrieb auf der chinesischen Insel Hainan eröffnete. Meine Güte, waren die Verwandten arm! Liu schaute in braun gebrannte Gesichter und auf ärmliche Klamotten. Selbst diejenigen, die jünger waren als er, sahen um Jahre älter aus.

Taipeh, Taiwan. Die Stadt versinkt im Nebel, kaum auszumachen von Lius Haus oben auf dem Berg, das weiß und filigran ist. Alles ist raffiniert, einfach, aber elegant, die Familie trinkt selbst angebauten Kräutertee, »organisch natürlich«. Neben Liu sind da sei- ne Frau Jessica Hsu und deren Mutter. »Ist dir aufgefallen«, fragt Liu, »dass die auf dem Fest- land dir immer unter die Nase reiben wollen, wie viel Geld sie verdienen?« – »Dieser Mate- rialismus«, seufzt Jessica Hsu. »Sie haben das Geld, aber sonst?« Die offiziell immer noch kommunistische Volksrepublik China ist für die Taiwanesen, die schon lange in einer Marktwirtschaft leben, zum Inbegriff einer krassen, etwas vulgären Wirtschaftswunder- welt geworden.

Xiamen, Provinz Fujian, auf der anderen Seite der Straße von Taiwan, der Meerenge, die zwischen dem chinesischen Festland und der Insel liegt. Ein Restaurant, das gern hoch- klassig wäre; nur leider ist da der Moderator einer Hochzeitsgesellschaft, der stetig vor sich hinplärrt. In einem jener Separees, in denen überall in China Geschäfte gemacht werden, hebt sein Glas: Chen Jin, Chefökonom des Büros für wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Xiamen. Neben dem 55-Jährigen finden sich hier ein Architekturprofessor aus Taiwan und ein amerikanischer Überseechinese, Im- mobilienentwickler – beide voll wie die Strandhaubitzen. »Auf euch, Brüder«, ruft Chen, die beiden lallen Gutgemeintes zurück. Chen wirkt im Vergleich zu ihnen beinahe stocknüchtern. Als er seine Geschäftspartner hinauskomplimentiert hat, sagt er: »Wenn du es zu was bringen willst, musst du was vertragen. Du musst derjenige sein, der bis zum Ende verhandeln kann.«

Erinnert er sich daran, wie sein Verwandter Liu zum ersten Mal nach Fujian kam? Und wie! »Hatten die Geld. Was die alles mitbrach- ten,Elektrogeräte,Fernseher,Haushaltsgeräte, wir trauten unseren Augen nicht! Man hatte uns doch immer gesagt, dass es den Taiwane- sen viel schlechter ginge als uns. Und dann so was!« Doch bevor die Menschen kamen, kam die Musik. Süßer Pop, hingehauchte Liebes- schwüre, von der Partei untersagt, weil sie den »Geist verschmutzen«. Taiwan lieferte dem Festland den Soundtrack zur Moderne, die Kultur zum Kapitalismus. Taiwan hatte immer eine enge Verbindung zu den USA und im Gegensatz zu China auch zu Japan, dem mo- dernsten Land Asiens. Es rezipierte die westli- che Konsumkultur, bereitete sie für den chine- sischen Geschmack auf.

Liu, sagt Chen, habe seine Schüssel und die Stäbchen immer in hundert Grad heißem Wasser gewaschen. »Er fand es wohl nicht so hygienisch bei uns. Na und später dann, als er seinen Betrieb auf Hainan hatte? Da hat er mit den Bauern gegessen, Dinge, die ich im Leben nicht runterkriegen würde!« Jetzt aber, sagt Chen, und Zufriedenheit kriecht in sein Gesicht, »verlieren wir nicht mehr gegen sie«. 2007 war er zum ersten Mal in Taipeh, »und das ist von der Stadtentwicklung her auch nicht besser als Xiamen«. Liu habe ein schönes Haus in Taipeh? »Na, ihr solltet mal mein Haus sehen!«

Chen und Liu, zwei Männer mittleren Al- ters, verwandt: Chen ist ein Onkel von Lius Frau. Beide sind in einem Land aufgewachsen, das sich China nennt. Und doch könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Chen kommt aus der Volksrepublik China. Er hat die Armut er- lebt, die Kulturrevolution und den rauschhaften Aufstieg seines Landes zur Weltmacht. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), jener Partei, die sich Taiwan ein- verleiben möchte.

Liu stammt aus Taiwan. Er hat die Jahre der Diktatur Chiang Kai-sheks erlebt und die De- mokratisierung nach 1987. Auch Lius Land hat einen Aufstieg erfahren – nicht zur Welt- macht, aber immerhin zu einem der wirt- schaftlich erfolgreichen asiatischen »Tigerstaa- ten«. In der internationalen Politik aber verlor es an Bedeutung. Einst galt die Republik den meisten Ländern als legitime Vertreterin Chi- nas. Bis sie 1971 unsanft aus den Vereinten Nationen gestoßen wurde, damit die Volksre- publik ihren Platz einnehmen konnte. Taiwan wird heute nur noch von 23 Ländern offiziell anerkannt, die meisten von ihnen sind Mini- staaten in Ozeanien oder Lateinamerika. Die Insel ist ein bisschen größer als Baden-Würt- temberg, also winzig im Vergleich zur Volksre- publik. Seit Liu wählen kann, stimmt er für die Partei, die einst als Erzfeindin der chinesischen Kommunisten galt: die Kuomintang (KMT).

Auf dem Festland hatten Kommunisten und Antikommunisten jahrelang erbittert um die Macht gekämpft. 1949 mussten die KMT- Leute nach Taiwan flüchten, mit Kisten voller Kunstschätze und Gold. Mit ihnen floh auch Lius Schwiegervater; in Taiwan traf er seineFrau, die ein Jahr früher auf die Insel gelangt war. 39 Jahre lang, bis 1987, sollte die Familie keinen Kontakt zu ihren Verwandten auf dem Festland haben. Nur einmal gelang es, über Hongkong und die USA einen Brief zu schicken. Das Festland wie die Insel nahmen für sich in Anspruch, ganz China zu vertreten, beide schworen, das Land des Gegners zu er- obern. Aber wie sollte das winzige Taiwan die gewaltige Volksrepublik einnehmen? Doch auch die Volksrepublik konnte Taiwan nicht einfach überrennen, denn die Insel hat die USA als mächtigen Freund. Die Amerikaner billigen Taiwan zwar keine formelle Unabhängigkeit zu, wollen es aber auch nicht chinesischer Eroberung preisgeben. Ein Kampf um Taiwan wäre der Super-GAU, der militärische Konflikt zweier Großmächte. Bisher ist es nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung gekommen. Aber die Chinesen lassen keinen Zweifel daran, dass sie Taiwan zurückhaben wollen.

Xiamen. »Es ist, als habe ein Sohn die Mutter verlassen, weil sie arm ist«, sagt Chen, der ja auch Funktionär des chinesischen Re- gierungsapparats ist, über die Taiwanesen. »Und jetzt, wo sie reich geworden ist, will er wieder in ihre Arme zurück.« Ja, einige auf Taiwan wollten die Unabhängigkeit. »Doch sollen die etwa allein bestimmen? Wenn, dann müsste ganz China abstimmen.« Natür- lich könnte China die Insel militärisch ein- nehmen. »Doch das braucht es gar nicht.« Al- les werde seinen natürlichen Lauf nehmen, »in der Politik ist die Wirtschaft das Wichtigs- te. Nur auf Taiwan haben das einige nicht verstanden. Doch auch die wollen in China Geschäfte machen.«

Wahrscheinlich wird Chinas derzeitige Taiwanpolitik eines Tages als wichtigstes Vermächtnis des chinesischen Präsidenten Hu Jintao gelten, der im nächsten Jahr abtreten wird. Sein Vorgänger rasselte noch mit dem Säbel, ließ 1996 vor einer taiwanesischen Wahl Raketen abfeuern, eine Warnung an die Bürger der Inselrepublik. Nur wählten die dann erst recht den in Peking verhassten Kandidaten.

Der jetzige chinesische Präsident hingegen umwirbt Taiwan, er appelliert an den großchinesischen Patriotismus. Er hat der Insel zwei Pandas geschenkt, »Tuantuan« und »Yuanyu- an« – zusammengenommen bedeutet das: Wiedervereinigung. Statt Raketen abzufeuern, kaufte Peking vor dieser Wahl viel Gemüse und Fisch aus dem Süden Taiwans – dort sit- zen die eingefleischten Unabhängigkeitsbefürworter. Die Taiwanesen werden trotzdem nicht vergessen, dass China viele Raketen auf ihr Land gerichtet hat.

Taipeh. »Wenn sie mich in China fragen, ob ich für die Wiedervereinigung bin, dann rufe ich: ja, klaaaaar!«, sagt Liu und streckt den Arm nach vorn wie Superman. »Natürlich denk ich ganz anders, aber ich will ja Geschäf- te mit denen machen.« Liu hat nichts dagegen, von der Stärke Chinas zu profitieren. Nur sei- ne Freiheit will er dafür nicht opfern. Er hat bei der Präsidentschaftswahl am vergangenen Wochenende für den am Ende siegreichen Amtsinhaber von der KMT gestimmt, die in- zwischen recht gute Beziehungen zu Peking pflegt. »Der steht für Stabilität«, sagt Liu. »Wäre die Opposition an die Macht gekommen, hätte China uns abgestraft.« Das hätte die Errungenschaften der Entspannungspoli- tik gefährdet: Es gibt direkte Flug- und Schiffsverbindungen, seit 2010 ein Freihan- delsabkommen; chinesische Touristen und Auslandsstudenten tummeln sich in Taiwan. China ist zum wichtigsten Handelspartner Taiwans geworden. 2010 wuchs das Handels- volumen um 36,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, auf 145 Milliarden US-Dollar.

Doch das gefällt nicht allen. Zum Beispiel Lius dreißigjährigem Sohn David. »So viel Ab- hängigkeit ist doch gefährlich. Das sind doch keine Verhandlungen unter Gleichen. Sie wollen, dass wir kapitulieren.« David hat daher für die Opposition gestimmt, die stärker auf Dis- tanz zu Peking gehen will. Wie viele Gebäude, fragen einige in Taipeh, wurden bereits heimlich von Chinesen übernommen? Wie viele Touristen sind Spione? Mit der Volksrepublik vereinen möchten sich jedenfalls die wenigsten Taiwanesen. Mehr als 45 Prozent sind strikt dagegen, gerade mal 7 Prozent dafür. Am liebs- ten wäre der Mehrheit die vollständige Unabhängigkeit, gefolgt von einer losen Föderation mit Festlandchina. Weil die Taiwanesen aber wissen, dass das ein unerreichbares Ziel ist, befürworten sie den Status quo. Es ist ein heikler Balanceakt.

Chen auf dem Festland hatte gemeint: »Es gibt doch eine hervorragende Lösung.« Man schaue nach Hongkong. »Ein Land, zwei Sys- teme, ein großer Erfolg.« China sei der große Bruder, Taiwan, Hongkong und Macau seien die kleinen. »Ein großer Bruder wird für seine kleinen Brüder doch nur das Beste wollen, nie würde er sie ärgern oder unterdrücken.«

Die Taiwanesen sind sich da nicht so sicher. Der Regierungsberater Huang Guangguo, Universitätsprofessor in Taipeh, findet den chinesischen Umgang mit kleineren Brüdern wenig ermutigend: »Gerade in Hongkong se- hen wir doch, dass die nicht unabhängig sind, dass China sich einmischt.« Huang plädiert für »ein Land, zwei Verfassungen«. Anfangs, be- richtet er von Verhandlungsrunden mit Vertretern der Volksrepublik, »waren sie total da- gegen. Sie sagten: Wie können wir unter Gleichen verhandeln, wenn wir so groß sind und ihr so klein?« Inzwischen aber, glaubt Huang, seien die Festlandchinesen offener geworden.

Jessica Hsu jedenfalls, Lius Ehefrau, eine erfolgreiche Künstlerin, laden sie jetzt öfter aufs Festland ein. An Unis und zu Moden- schauen. Sie spricht dann über Buddhismus, TaoismusundKonfuzianismusunddarüber, wie sie ihre Arbeiten beeinflussen. »Sie sagen, ich stünde für einen grünen Lebensstil, der Moderne und Tradition vereine. Und sie zahlen sehr gut.« Professoren, Mönche, Tao- istenmeister pilgern von Taiwan aufs Fest- land, um den Chinesen dort die Traditionen wieder beizubringen, die eigentlich von dort kamen. Für die ist es ein Paradox: dass ein Land modern und traditionell zugleich sein kann. Glaubte doch Mao Zedong, er müsse erst die Tradition zerstören, um sein Land zu modernisieren.

Den Festlandchinesen fehlten die Wurzeln, sagen die Taiwanesen. Deshalb litten sie heute unter einer Identitätskrise. Bei der Kultur füh- len sich die kleinen Taiwanesen plötzlich als Großmacht. Nicht nur, weil sie im Gegensatz zu den neureichen Festlandchinesen schon fast den alten Wohlstand repräsentieren. Weil sie sozialer, grüner, pluralistischer, demokratisch geworden sind. Sondern, weil sie sich als Be- wahrer chinesischer Überlieferung sehen. »Gruselig, wie sehr sie ihre Kultur zerstörten«, sagt Künstlerin Hsu. »Ihre Schrift haben sie zerhackt mit ihren Kurzzeichen. Nicht mal die klassischen Schriftzeichen können sie mehr lesen! Mao war ein Krimineller.« Gut, die Künstler auf dem Festland seien sehr erfolg- reich, sagt Hsu. Aber immer gehe es ihnen um Politik, Politik, Politik – da liege so viel im Argen, dass sie sich um gar nichts anderes kümmern könnten. »Es fehlt ihnen einfach an kultureller Substanz«, sagt Hsu. »Sie haben nichts im Bauch.« Sie seufzt. »Aber immerhin geben sie eine Menge Geld aus, um das aus- zugleichen.« Eine Spur von Nachsicht gleitet über ihr Gesicht. »Sie lernen.«

DieWahl

Am vergangenen Wochenende hat Taiwan gewählt: Mit einer Mehrheit von 51,6 Prozent wurde Präsident Ma Ying- jeou von der Kuomintang-Par- tei (KMT) im Amt bestätigt. Seine Herausforderin Tsai Ing- wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) un- terlag mit 45,6 Prozent. Ma steht für eine Annäherung an das chinesische Festland, hat sich allerdings gegen eine Wiedervereinigung ausgespro- chen. DPP-Anhänger favori- sieren eher die Unabhängig- keit Taiwans. Die politischen Gegensätze werden von einer sozialen Spaltung überlagert. Die »Draußengeborenen«, die ursprünglich vom Festland stammen, neigen zur GMD, die »Hiergeborenen« aus der eingesessenen Inselbevölkerung mehr zur DPP.

Veröffentlicht am 9. Januar 2012 in Die Zeit