Der sanfte Islam

© Christian Bobst
Während sich der radikale Islam im Sahel ausbreitet, bleibt Senegal vom Terror verschont. Liegt das auch an seiner besonderen Art des Sufismus?

Lie Stadt hat ihre Geheimnisse. Sie verstecken sich dort, wo man sie am wenigsten erwartet.

Dakar, Hauptstadt Senegals. Nimm die Straße, die zu den Strandbars führt, dort, wo die Schicken ihre Cocktails trinken und die Surfer ihre Wellen reiten. Siehst du das gemalte Gesicht, schwarz auf weißer Hauswand?Biege dort ab. Gehe zum Meer. Du wirst eine steile Leiter ausmachen, die ins Erdreich führt. Steig hinab in die heilige Grotte.

Drunten ist es dunkel und kühl. Nackter Fuss gleitet über feuchten Stein. Hände tasten sich an Felswänden entlang, Moos überzieht die Klippen. Eine junge Frau, ganz in sich versunken und in Weiß gekleidet, flüstert ihre Gebete in den Stein. Sie ist so schön, dass man sich kaum abwenden mag. Ein paar Schritte weiter öffnet sich die Grotte zum Atlantik; Meerwasser umspült die Füße, in der Ferne zieht ein Fischerboot vorbei.

Mehr als Tausend Jahre lang, sagen sie, habe die Seele des Propheten hier auf ihre Wiederkehr gewartet, nachdem er im Jahr 632 in Medina verstorben war. Nacht für Nacht sei die Seele als Licht um die Welt gereist, um morgens in die Grotte heimzukehren.

Bis der Prophet auferstand, den Islam zu erneuern.

Oberhalb der Grotte im Schatten der Zypressen sitzt Abdullay Laye, 60, im Kreise der Gläubigen. Laye ist der Marabout, ein islamischer Geistlicher, Hüter der heiligen Grotte. Wie fast alle Senegalesen hängt er dem Sufismus an, einer Spielart der sunnitischen Lehre.

Vier Sufi-Bruderschaften gibt es in Senegal, vier Glaubensgemeinschaften, Laye gehört zur kleinsten, den Layene. Den Sufis geht es weniger um eine exakte Auslegung des Koran, sie streben vielmehr nach der Verschmelzung mit Gott. „Es ist eine mythische Pilgerreise auf der Suche nach dem Schöpfer“, sagt Abdullay Laye. Die Layene sind die Poeten des Sufismus, bisweilen erinnern Layes Worte an die eines Taoisten in China. „Wir lieben die Natur. Wir predigen Ruhe, Abgeklärtheit und Gemeinschaft“, sagt der Marabout und blickt auf das Meer. „Alles Leben kommt aus dem Wasser. Alles Leben kommt aus dem Licht. Und das Licht lebt noch immer in dieser Grotte.“ Wenn Abdullay Laye von seinem Glauben erzählt, hat das wenig zu tun mit dem Bild des Islam, das radikale Islamisten propagieren; engstirnig, gewaltbereit und intolerant. „Sie haben den Islam nicht verstanden“, sagt Laye. „Sie haben ihn missbraucht.“

Liegt es an dieser Haltung, die die meisten Senegalesen teilen, dass das Land im Zeitalter des internationalen Terrors noch nie einen terroristischen Anschlag erlebt hat?

15, 7 Millionen Menschen leben im Senegal, 95 Prozent von ihnen sind Muslime. Das Land befindet sich in einer unruhigenWeltgegend: Islamisten sind in der Sahara aktiv und haben 2012den Norden des Nachbarlandes Mali überrannt. Nigeria, Kamerun und Burkina Faso werden von Boko Haram terrorisiert, Somalia von al Shabab.

Auch im Senegal leben viele junge Männer ohne Job und Perspektive; trotzdem gilt das Land als Stabilitätsanker. Nie hat es einen Putsch oder Bürgerkrieg gegeben, Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen leben friedlich miteinander. Christen und Muslime feiern zusammen Weihnachten und das Opferfest, bisweilen heiraten sie untereinander. Diese Stabilität hat viel mit der Rolle der Sufi-Bruderschaften zu tun, die gegen extremistische Strömungen kämpfen, Frieden und Toleranz predigen.

Bereits im 11. Jahrhundert brachten Sufi-Missionare den Islam in den Senegal. Mit den Jahrhunderten hatte sich der Islam mit den senegalesischen Traditionen und Glaubensvorstellungen verwoben. Der Sufismus erwies sich dafür als besonders durchlässig, lässt er doch viel Raum für das Unerklärliche, Mystische, Phantastische. Er sprach viele Menschen genau deshalb an. Er verlieh ihnen die Möglichkeit, Teile ihrer Tradition in eine moderne Welt herüberzuretten, verwurzelt und trotzdem Teil einer Weltreligion zu sein. Er war wie ein Schwamm, der vieles aufnahm. Er wurde zu einer afrikanischen Religion. Und in gewisser Weise könnte man die Legende, die Imam Laye erzählt, als Parabel auf diese Geschichte verstehen.

Lange blieb der Islam eine Religion der Prinzen, erst im Widerstand gegen die französische Kolonisierung wandten sich ihm die Massen zu. Das Jahr 1843 fiel in turbulente Zeiten; Frankreich versuchte, ganz Senegal unter seine Herrschaft zu bringen. Geistliche riefen zum heiligen Krieg gegen die Besatzer auf, und viele fanden dabei den Tod.

1843 trat ein, was Sufi-Geistliche seit langem vorausgesagt hatten, erzählt Abdullay Laye: Der Prophet kehrte zurück. „In Gestalt von Seydina Limamou Laye, einem Fischer, Bauern und Analphabeten, der nie eine Koranschule besucht hatte.“

Erst im Alter von 40 Jahren gab sich der Prophet zu erkennen. „Nach seiner Proklamation wandelte er neun Tage lang durch die Gassen“, erzählt Laye. „Die eine Hälfte seines Gesichts war schwarz, die andere weiß. Es war ein Wunder! Doch eines, das die Araber nie akzeptieren konnten: ein schwarzer Prophet.“

Er zuckt die Schultern.

„Wenn einer glaubt, dass seine Hautfarbe ihn intelligenter macht, dann lassen wir ihn. Aber Gott ist doch kein Rassist!“

Der Prophet Limamou Laye rief zum friedlichen Zusammenleben mit den Besatzern aus. Ja, seine Anhänger übernahmen Elemente ihrer fremden Religion einfach in die eigene. Sie feiern ihren Gründer als Mahdi, als Wiedergeburt Mohammeds, und seinen Sohn als Messias, als Reinkarnation Jesu. Im Schatten auf seiner Stirn wollen sie ein Kreuz ausmachen. Islam, Christentum, senegalesische Traditionen, sie alle sind bei den Layene vereint.

Dort, wo im Westen ein „Entweder-Oder“ stehen würde, findet man in Senegal oft ein „Und“. Ein Mensch kann an Wissenschaft und Fortschritt, Islam und Magie gleichzeitig glauben, ohne dies als widersprüchlich zu empfinden. Die Dinge müssen sich nicht ausschließen, sie dürfen sich verweben.

Wie bei Cheikh Seye Baye, 69.

Rufisque: im Kräutergarten des Heilers

Mitten in Rufisque, nicht weit von der Hauptstadt Dakar, findet sich ein kleines Paradies, der Garten von Cheikh Seye Baye. Riesige Affenbrotbäume spenden Schatten, es riecht nach Grapefruits und Zitronen. Baye stellt seine Pflanzen vor, als seien sie Verwandte, die meisten von ihnen hat er selbst gepflanzt. Und wie er dort geht, im wallend weißen Gewand, die Dreadlocks ergraut, das Gesicht weich und offen, wirkt er wie der Inbegriff eines Kräuterdoktors. Außerdem ist er Geistlicher, Marabout der Baye Fall, die zur Bruderschaft der Mouriden gehören.

„Der Koran hat viele Anwendungen“, sagt Cheikh Seye Baye, „man kann auch mit ihm heilen.“ Die große Liebe finden, dem Unglück entwischen, die Künste Bayes sind ganzheitlich. Eltern und Großeltern haben ihn darin eingeführt, er stammt aus einer Familie von Heilern. Er lernte den Koran, las die Bücher des geheimen Wissens, studierte die schwarze und weiße Magie. „Du musst beides können. Ich weiß, wie man einen Schlangenbiss heilt, aber auch, wie man eine Schlange auf einen Menschen schickt. Nicht um es zu tun. Sondern um die schwarze Magie unschädlich zu machen.“

Cheikh Seye Baye lernte Französisch, Englisch und Deutsch, reiste durch die Welt, brachte sich IT und Computerprogrammieren bei. Die Bücherregale in seinem Haus biegen sich unter medizinischen Lehrbüchern, Kräuterfibeln, religiösen Schriften, Wörterbüchern. „Der Gedanke, je fertig zu sein, bremst dich. Wir sind wie die Bäume, jeden Tag werden die Wurzeln tiefer und die Zweige höher.“

Inzwischen hat er Patienten in der ganzen Welt, in den USA, Schweden und Mexiko. „Einmal bat mich einer meiner Patienten, mit den Dschins, den Geistern zu reisen. Ich fragte ihn: Wozu das? Dafür gibt es doch heute Flugzeuge.“

Der Islam ist im Senegal viel mehr als eine Religion, er ist ein Lebensstil. Man findet ihn überall. In den Versen der Rapper, auf den Schriftzügen der bunt bemalten Busse, in den Namen von Boutiquen, Versicherungsagenturen und Kaufhäusern. Ja, selbst der kardamongewürzte Kaffee, den es an fast jeder Straßenecke gibt, heißt nach der heiligen Stadt der Mouriden: Café Touba.

Jede der vier Bruderschaften ist ein wenig anders. Es gibt große und kleine: Der großen Tijianiyya gehört etwa die Hälfte der muslimischen Senegalesen an, den Mouriden ein Drittel, Qaddriyah und Layene sind sehr viel kleiner. Es gibt einheimische und importierte: Layene und Mouriden stammen aus Senegal, die Tijianiyya wurde im 18. Jahrhundert in Marokko von einem Algerier gegründet, die Qaddriyah entsprang dem Bagdad des 12. Jahrhundert.

In jeder Bruderschaft wird man auf ganz eigene Überraschungen stoßen. Zum Beispiel auf eine Tijidianidin wie Zeyda Moussoukoro Mbaye, 58.

Beim Gebet: Zeyda Moussoukoro Mbaye

Dakar: die mächtige Muhadam

Beim Freitagsgebet sitzt Zeyda Moussoukoro Mbaye ganz hinten. Eine Frau im weißen Kopftuch zwischen den anderen Frauen. Versteckt hinter einem Paravant. Durch die Holzleisten kann sie die betenden Männer ausmachen, das Auf- und Abwiegen ihrer Rücken verfolgen. Auf jener Seite befindet sich nach traditioneller islamischer Vorstellung die öffentlich bedeutsame Welt, der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden. Während sie auf der stillen, verborgenen Seite lebt.

Dann aber ist das Gebet vorbei, und die Männer drängen zu ihr. Eine Assistentin schiebt ihr einen Stuhl heran. Mächtige wohlhabende Männer gehen vor ihr auf die Knie. Einer nach dem anderen. Greifen ihre Hand, flüstern ihr ins Ohr.Und sie hört zu, spendet Trost, Rat und Segen. Es sind Szenen voller Vertrautheit. Sie sei für ihn wie eine Mutter, sagt einer von ihnen später, der Firmendirektor Ibrahim, 38, dessen Wohlstand man am feinen Tuch seines Boubous ablesen kann.

Die Beziehung zwischen geistigem Lehrer und Schüler ist im Sufismus essentiell, er leitet den Schüler auf seiner spirituellen Reise. Ibrahim war 20, als er mit Zeyda Moussoukoro Mbaye eine Frau zu seiner muhadam, seiner spirituellen Führerin, erkor – zum Erstaunen seiner Familie. Zwar war die Bruderschaft der Tijianiyya bei Frauen schon immer beliebt, weil sie die Initiation von Frauen erlaubt. Und weil der senegalesische Großführer Ibrahim Niasse die Emanzipation der Frau gefordert hatte. Stets aber hatten Frauen andere Frauen unterrichtet.

Das änderte sich im Senegal der 1990er- und 2000er-Jahre, als männliche Abiturienten und Studenten wie Ibrahim plötzlich Frauen zu ihren Muhadam erwählten. „Es war Schicksal. Ihre geistige Tiefe zog mich an, Und weil sie eine Frau ist, fühle ich mich ihr verbundener. Geschützter. Ich kann ihr Dinge erzählen, die ich einem Mann gegenüber nie aussprechen würde.“

Inzwischen ist Zeyda Moussoukoro Mbaye die Schirmherrin der Dahira, der religiösen Vereinigung der Studenten ihrer Glaubensgemeinschaft mit mehr als 600 Mitgliedern. Und weil aus vielen Studenten von einst Oberärzte, Politiker und Manager geworden sind, trifft Mbaye, wo immer sie auch hingeht, „ein bekanntes Gesicht.“ Sie ist zu einer mächtigen Frau geworden.

Dabei war sie davon einst weit entfernt.

Zeyda war 14, als ihre Familie sie an einen entfernten Verwandten verheiratete, einen steinreichen Diamantenhändler. Er war 26 Jahre älter als sie, und sie hatte große Angst vor ihm. „Er wollte nicht, dass du ihn liebst, sondern fürchtest.“

Insgesamt zeugte ihr Ehemann 26 Kinder mit sechs Frauen. Mehr als ein Drittel der verheirateten Senegalesen leben in Vielehe. Sowohl Mbaye als auch ihr Mann sind Muslime, doch könnte ihre Auffassung des Islam kaum unterschiedlicher sein.

Er ist Wahabit saudischer Schule, von denen es im Senegal nur sehr wenige gibt. Sie Tijianidin.

Mbaye gebar ihm sieben Kinder und zog sechs weitere seiner Exfrauen groß. Sie tat, was er von ihr verlangte.Als ihre mystischen Träume immer drängender wurden, beschloss sie, sich heimlich initiieren zu lassen – wissend, dass ihr Mann strikt dagegen war.

„Als ich es ihm schließlich gestand, geriet er in Rage. Er schaffte die Möbel aus dem Haus, stellte Wasser und Strom ab. Neun Jahre lang sprach er kein Wort mit mir. Doch je mehr er sich mir entgegenstellte, desto entschiedener wurde ich.“

Mbaye lieh sich eine Nähmaschine, nähte Kleider, bis sie das Geld hatte, ein Atelier mit sechs Maschinen zu eröffnen. Später gründete sie sechs Kosmetikstudios, in denen sie 58 Angestellte beschäftigt. Sie betreibt Ackerbau und Viehzucht, sitzt in der Handelskammer ihrer Heimatstadt Kaolack, und hat ein länderübergreifendes Netzwerk für Businessfrauen gegründet. Sie hat sich scheiden lassen, und einen neuen Mann gefunden, einen, mit dem sie lachen kann und den sie als Freund bezeichnet.

Ihren Aufstieg erklärt Mbaye mit ihrer Rolle als vielfache Mutter. „Ich habe in meinem Leben so viele Kinder aufgezogen. Noch heute bringen mir Freunde und Verwandte den Nachwuchs, mit dem sie nicht zurechtkommen. Alle Mütter verstehen etwas vom Haushalten. Von Geld. Alle Mütter sind Erzieherinnen. Deshalb sind wir ideale religiöse Führerinnen. Wir sind die Quelle.“

Mbayes Fall ist außergewöhnlich. Die meisten Frauen leben anders, Religion, Tradition und Familienrecht weisen ihnen einen untergeordneten Status zu. Und doch bewegen sie sich freier, sinnlicher und selbstbewusster als in vielen anderen muslimischen Gesellschaften. Man trifft glühende Feministinnen mit Hijab, berufstätige Mütter von sechs Kindern, aber auch Mädchen, die davon träumen, Zweitfrau eines reichen Geschäftsmanns zu werden. Man begegnet der Intellektuellen im engen Kleid, die auf High Heels ins Café stolziert, um einem mit profunder Islamkenntnis zu versichern, dass der Prophet in Wahrheit ein Förderer der Frauen war. Die Rolle der Frau im senegalesischen Islam ist vielschichtig, in Porokane gibt es etwa ein Mausoleum, das eine Bruderschaft der Mutter ihres Religionsgründers widmete. Es handelt sich dabei um die Mouriden, jene Bruderschaft, die zur politisch und ökonomisch einflussreichsten Senegals aufsteigen konnte.

Denn die Arbeit ist ihnen heilig.

Der Sandaga-Markt in Dakar: das Zentrum der geschäftstüchtigen Mouriden

Ein Viertel von atemraubender Geschäftstätigkeit. Ein Viertel von atemberaubender Geschäftstätigkeit. Einkaufszentren, Marktstände und fliegende Händler. Im Angebot: Handtaschen, gefälschte Markenturnschuhe, Mobiltelefone, Potenzmittel, Cremes für größere Brüste, sexy Unterwäsche, Computer, Rattengift, Echthaar aus Brasilien und Indien, Stoffe jeder Art. Religion und Geschäft, das geht hier reibungsfrei zusammen. In jeder Stube hängt das Bild eines Kalifen. Zu Gebetszeiten breiten die Händler im Geschäftstreiben ihre Teppiche aus. Beten zwischen Autowracks, Textilbergen, auf dem Trottoir zwischen hastenden Passanten, in jedem freien Winkeln dieses Universums der Geschäftemacherei. Fast alle Wirtschaftsaktivitäten hier sind informell, 97 Prozent der Unternehmer in Senegal haben keine Lizenz.

Sandaga ist das wirtschaftliche Zentrum der Mouriden und Knotenpunkt eines weltweiten Imperiums, das auf der Vermengung von Wirtschaft und Religion beruht. Sieht man einen Afrikaner in New York oder Rom auf der Straße Sonnenbrillen verkaufen, ist er wahrscheinlich Mouride. Mouriden kaufen in China oder Dubai Containerladungen voller Kleidung oder Elektronik, die sie in den Senegal schicken. Kutschieren europäische Gebrauchtwagen nach Westafrika. Organisieren das Import- Exportgeschäft.

Mouriden machen am liebsten Geschäfte mit Glaubensbrüdern, ohne Vertrag und mit Handschlag. Wann immer sich Mouriden in einer neuen Stadt wiederfinden, gründen sie eine Dahira, einen Lern- und Betzirkel, der gleichzeitig der sozialen Absicherung dient. Kommt ein Neuankömmling in Paris oder Bremen an, versorgen ihn die Alteingesessenen mit Informationen, manchmal auch mit Unterkunft, Startfinanzierung oder einem Job. Wird einer krank, steht eine Hochzeit oder Beerdigung an, legen seine Glaubensbrüder zusammen.

„Werdet niemals Angestellte, sondern Entrepreneure“, hatte Religionsgründer Amadou Bamba seinen Jüngern gelehrt. „Das gibt euch Freiheit.“ Und um Freiheit war es immer gegangen.

Wie Limamou Laye wurde auch Amadou Bamba zur Zeit der kolonialen Expansion geboren, im Jahr 1853; auch er sah keinen Sinn darin, die französischen Besatzer zu bekämpfen. Sich ihnen aber unterwerfen? Keineswegs. Sollten die Franzosen doch regieren, solange sie ihm und seinen Jüngern die religiöse Freiheit ließen!

Anfangs hatten die französischen Besatzer Bamba bekämpft, ihn ins Exil verbannt. Dann lernten sie, dass er und die anderen Geistlichen ihnen nützlich sein könnten. Die Franzosen strebten eine indirekte Herrschaft an und hatten anfangs auf Prinzen und Häuptlinge gesetzt.

Bald aber suchten sie die Kooperation der viel besser organisierten Geistlichen. Es war ein Arrangement, von dem beide Seiten profitierten. Die Marabouts übersetzen die Befehle der Besatzer und erhielten dafür weitgehende Autonomie – sowie einen Anteil an den Profiten der Kolonialwirtschaft. Die französische Verwaltung baute in ihren westafrikanischen Kolonien vor allem Erdnüsse an, die in Frankreich zu Seife, Wachs und Tierfutter verarbeitet wurden.

Die Mouriden, die es verstanden, die Gläubigen in Arbeitsbrigaden zu organisieren, lieferten bald zwei Drittel der Ernte. Es entstand ein sehr eigener Sozialvertrag zwischen Kolonialverwaltung und Sufi-Bruderschaften, der in Teilen noch heute existiert – wenngleich die Kolonialherren nach der Unabhängigkeit von 1960 durch eine Regierung abgelöst wurde, die Religion und Staat strikt trennt. Auch sie lässt den Bruderschaften große Freiheiten; weiß sie doch um deren enormen Einfluss auf die Wählerschaft. Vor den Wahlen pilgern alle Kandidaten, egal welcher Konfession, zu den Glaubensführern, um sich derenWohlwollen zu sichern.

Die Erdnussernte hingegen konnte die meisten Bauern bald nicht mehr ernähren. Als im Jahr 1978 die Weltmarktpreise einbrachen, zogen viele von ihnen nach Dakar, meist, um sich als Kleinunternehmer zu verdingen. Und schwärmten von dort in die Welt hinaus. Doch egal, ob einer darüber steinreich wird oder ein armer Schlucker bleibt, stets wird er einen großen Teil seiner Einkünfte nach Touba spenden.

Der heiligen Stadt der Mouriden.

Touba: der Marabout mit dem Rolls-Royce

Serigne Cheikh Abdou Karim Mbacke.

Weit sichtbar erhebt sich die große Moschee über die Stadt, mit einer dreiviertel Millionen Einwohner die zweitgrößte des Senegal, der der Staat Autonomie gewährte. Die Moschee ist die größte Subsahara-Afrikas. Willst du sehen, wie reich wir sind, dann besuche unsere Moschee, sagen die Mouriden. Die grandiosen Minarette, die blauen und grünen Kuppeln, die erlesenen Mosaike und Glasarbeiten. Finanziert durch eine gewaltige Umverteilung von Unten nach Oben, von der Peripherie ins Zentrum, weil jeder Straßenverkäufer, Busfahrer und Metallarbeiter Woche für Woche einen Teil seiner Einkünfte nach Touba gibt. Den Ruhm der heiligen Stadt zu mehren. Jahr für Jahr pilgern im großen Magal Millionen hierher, in hastig zusammengedengelten Bussen und abenteuerlich schlingernden Gefährten. Und alle Einwohner Toubas werden ihre Häuser den Pilgergästen öffnen, Gott und die große Gemeinschaft zu feiern.

Nur ein paar Kilometer von der Moschee entfernt lebt einer, von dem seine Anhänger Phantastisches berichten: Serigne Abdou Karim, 52. Marabout. Großgrundbesitzer. Sohn des zweiten Kalifen, Enkel des Religionsgründers Amadou Bamba.Durch einen Fingerzeig, sagen seine Jünger, könne er es regnen oder blitzen lassen.

Und zeige sich die göttliche Gnade nicht in seinem sagenhaften Reichtum?

Die Villa, ein Traum in weißem Marmor. Vor dem Eingangsbereich warten vier Luxuskarossen, darunter ein Rolls Royce. Pfaue, Wildgänse und Kronenkraniche schreiten durch die Höfe, eine Antilope hüpft vorbei, dazwischen wandelt der Hofstaat. Besucher und Jünger bevölkern die Gänge und Wartezimmer, in der Erwartung, dass ein wenig der göttlichen Gnade auf sie abfalle, die Ärmeren hoffen zudem auf eine milde Gabe oder wenigstens ein warmes Mahl.

Nach Stunden des Wartens empfängt Serigne Abdou Karim zu einer Audienz. Im Schatten eines Baldachins thront er auf einem Sessel, während Hunderte Jünger zu seinen Füßen sitzen.Eine Szene, die an die alten Königreiche Westafrikas erinnert.

Hinter ihm steht einer, der ihm Luft zufächelt, vor ihm steht einer, der die Fliegen vertreibt, neben ihm kauert einer, der Silberkannen auf seinen Knien balanciert. Schließlich tritt ein Griot, ein Herold, heran, der ansetzt, von der Größe des Marabout zu künden. Jünger nähern sich dem Serigne Abdou Karim auf Knien, stecken ihm Geld zu, während er den Wert der Arbeit preist. „Sie ist der größte Schatz. Sie erst hat Touba, dieses Nichts im Wald, zur zweitgrößten Stadt des Senegal gemacht!“

Nach unserer Audienz führt man uns in eine Suite, die eines saudischen Prinzen würdig wäre, wo ein Festmahl aus Hummer, Muscheln, Wachteln, Hühnchen, Schaf und Rind serviert wird. In den Stunden des Wartens sprechen wir mitJüngern des Marabouts. Zum Beispiel dem jungen Chauffeur, der kriminell und drogenabhängig war, bis er zum Glauben fand. „Der Marabout hat mir ein zweites Leben ermöglicht.“ Ausbildung, Führerschein, Gesundheitsversorgung. Sollte er keine Frau zum Heiraten finden, wird der Marabout ihm eine vorstellen, um ihnen danach ein Haus zu besorgen.

Ein Rundum-Sorglos-Paket in einem Land, in dem es so gut wie keine staatliche Sozialversorgung gibt.

Die Nacht ist fast angebrochen, als der Marabout zu einer zweiten Audienz empfängt, in einem edlen Salon, in Weiß und Gold getaucht. Erneut preisen zwei Herolde seine Güte und Großzügigkeit. „Man kann gar nicht zählen, was er jeden Tag ausgibt, den Menschen zu helfen! Gott hat ihn ausgewählt, den Armen zu helfen.“

Er selbst, sagt Serigne Abdou Karim, habe nicht mal ein Bankkonto. Alles, was er bekomme, verteile er. „Gott“, sagt er, „hat es so eingerichtet. Manche werden reich, andere arm. Das ist die göttliche Ordnung. Es ist gut, dass es die Reichen gibt. Das schafft Stabilität.“

Pah, stösst ein Geistlicher ein paar Hundert Kilometer weiter westlich aus. „Sie pressen die Leute aus wie Zitronen! Auf Knien vor einem anderen herumzurutschen: Das ist nicht der wahre Islam.“ Er habe genug Stoff gesammelt, ein Buch zu schreiben. Darüber, wie die Regierung mächtigen Geistlichen Geschäftslizenzen gewähre und die Güter, mit denen sie oder ihre Mittelsmänner handelten, einfach so durch den Zoll winke. „Sie sind wie eine Mafia, sie haben die Regierung in der Tasche.“

Seinen wirklichen Namen will er lieber nicht in der Presse lesen, so wie auch alle anderen, die Kritisches über die Koexistenz von Regierung und geschäftstüchtigen Geistlichen zu sagen haben. Da istder Expolitiker, der ausführt, wie sich Mouriden mit illegalem Holzschlag und Geldwäsche bereicherten, während die Strafverfolgungsbehörden angestrengt wegschauten. Der Wissenschaftler, der andeutet, dass sie die illegale Migration beförderten. Heftige Vorwürfe, die aber völlig unbewiesen bleiben, findet man doch in einem Land, das oft als Musterschüler afrikanischer Demokratie gefeiert wird, so gut wie keine Recherchen zu diesen Themen, über die viele munkeln. Mit einer solchen Arbeit, räumt ein Wissenschaftler ein, würde man sich„gleich zwei mächtige Feinde machen: die Bruderschaften und die Regierung.“

Unter dem Mangel an einer öffentlichen kritischen Debatte leidet aber nicht nur die Reformfähigkeit des Landes, es leiden darunter auch die Schwächsten der Schwachen: Kinder.

Mbour: die Koranschule der misshandelten Kinder

Die Stadt liegt an der Küste. Darin ein Neubauviertel, vor der Zeit gealtert. Ein Rohbau reiht sich am nächsten, Tristesse, Sand und Staub, die Wege sind von Müll gesäumt, ein Schaf frisst sich durch den Abfall. Hier liegt die Daara, die Koranschule des Tijianiyya-Geistlichen Ousman Cissé, 40.

Keiner hat sich die Mühe gemacht, den Rohbau zu beenden. Ein unfertiges Erdgeschoss, die Treppe in den ersten Stock führt geradewegs in den Himmel. Kahle Betonwände, kein Strom, kein fließend Wasser, keine Möbel, bis auf die drei Stühle, die Cissé heranrückt. Ein paar dunkle Zimmer sindmit Stroh und dünnen Matten ausgelegt, dazwischen liegen ein paar schmutzige Matratzen, von einer sind nur die Sprungfedern geblieben. Hier drängen sich nachts 200 Kinder und man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie alle hinein passen.

Ihre Eltern haben sie hierhergeschickt, den Koran zu lernen. Das tun sie gerade, in einem übervollen Klassenzimmer stehend, beim Rezitieren bewegen sie mechanisch die Oberkörper vor und zurück. Ihre Kleider sind zerschlissen, manche haben Hautausschläge. Cissé behauptet, sie seien zwischen 8 und 20 Jahre alt, tatsächlich sehen einige von ihnen aus wie fünf oder sechs.

Die Eltern hätten weder Schul- noch Wohngeld gezahlt, sagt Cissé, daher müssten die Kinder selbst dafür aufkommen. „In der Regenzeit arbeiten sie auf meinen Feldern, in der Trockenzeit gehen sie betteln. Jeder hat für seine eigenen Mahlzeiten zu sorgen.“ Was sie darüber hinaus erschnorren, haben sie an Cissé abzugeben.

Man kann die bettelnden Koranschüler an vielen Straßenecken im Senegal sehen, abgerissene Gestalten, die ihre Almosen in Plastikeimern sammeln. Laut Schätzungen der Organisation Human Rights Watch leben mindestens 50 000 von ihnen im ganzen Land. Es gibt wenige gute Koranschulen, in denen die Kinder etwas fürs Leben lernen und nicht betteln müssen. Die meisten aber sehen so aus wie jene von Cissé. Die Kinder lernen kaum Rechnen, Schreiben oder die offizielle Landessprache Französisch; viele von ihnen werden wohl eines Tages das gewaltige Heer der Tagelöhner vergrößern. Bis dahin leben sie fernab ihrer Eltern, dem unerbittlichen Gesetz des Stärkeren ausgesetzt.

„Für eine islamische Ausbildung braucht es ein wenig Strenge“, sagt Cissé. Konkret heiße das, dass man die Kinder mit Kabeln schlage, wenn sie beim Aufsagen der Verse Fehler machen. Dabei sei Cissé noch ein relativ guter Marabout, versichern Sozialarbeiter, es gäbe viel Schlimmere als ihn. Solche, die ihre Kinder einsperren, anketten, sexuell missbrauchen, bis zur Besinnungslosigkeit züchtigen, wenn sie nicht genug erbetteln.

Eine Daara zu führen, kann ein phantastisches Geschäft bedeuten. Wer 200 Kinder überwacht, die am Tag 200 westafrikanische Francs erbetteln – und das ist meist das Minimum, das ein Marabout von seinen Schülern fordert – erhält 40 000 westafrikanische Francs am Tag, umgerechnet 60 Euro. In einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen rund drei Euro am Tag ausmacht, gilt das als phänomenaler Umsatz.

„Die traditionelle Einstellung ist: die Kinder sollen die Eltern ernähren. In vielen Familien und Daaras werden die Kinder für wirtschaftliche Zwecke ausgenutzt“, sagt Madame Corumba Ndiaye Ndoye, die sich bei der Stadt Mbour um misshandelte Kinder kümmert. Keiner wisse, wie viele Daaras es im Land gäbe, sagt sie. „Jeder, der möchte, kann eine Daara eröffnen. Das wird praktisch nicht überwacht.“

Wann immer Ndoye einem Missbrauchsverdacht nachgehe, stoße sie auf das gleiche Argument: „Es heißt dann: wir seien gegen den Islam.“ Auch die Regierung scheiterte bislang bei ihrem Versuch, Lösungen zu finden, bislang am Mangel an Konzepten und der Lobbyarbeit der Bruderschaften, die größtmögliche Autonomie für sich fordern.

Licht und Schatten, sie liegen manchmal nah beieinander.

Die großen Freiheiten, die unregulierten Räume, die der Staat den Bruderschaften gewährt, vereiteln wichtige Reformen, die den Fortschritt des Landes hemmen. So werdenin einem Staat, in dem Menschen für ihre soziale Absicherung auf Familie und Bruderschaften bauen, nur wenige Steuern eingetrieben. Der Staat hat folglich auch kein Geld, ein Sozialsystem aufzubauen.

Gleichzeitig sorgen die Bruderschaften für Stabilität und sozialen Zusammenhalt. Sie vermitteln zwischen Tradition und Moderne, bieten Wirtschaftsnetzwerke und soziale Absicherung. Sie predigen Frieden und Toleranz.

Dakar am Morgen der Korité. Der Tag, an dem die Fastenzeit gebrochen wird. Die Straßen sind wie ausgestorben, dabei ist es jener Tag im Jahr, an dem die Taxifahrer der Stadt keine abenteuerlichen Phantasiepreise verlangen, sondern den tatsächlichen Betrag.

„Heute halten wir zusammen“, sagt einer, sanft lächelnd. „Morgen geht’s wieder ums Geschäft.“

Die Wolken hängen schwer am Himmel. Der Regen, auf den alle hier nach Monaten der Trockenheit warten, liegt in der Luft. Man meint ihn auf der Zunge spüren zu können. Im Viertel von Yoff machen sich die Layene auf den Weg zum Mausoleum am Strand, in dem Religionsgründer Limamou Laye bestattet liegt.

Ein ganzes Viertel ist auf den Beinen, ein phantastischer Anblick. Schwarz die Gesichter, die Leiber ganz in Weiß gekleidet, schreiten sie in ihren schönsten Roben einher. Die Frauen duften nach Parfüm und Minze. Sie haben ihre elegantesten Sonnenbrillen aufgesetzt, manche machen vor dem Beten noch schnell ein Selfie.

Die Gläubigen lassen sich im Sand nieder. Seit Stunden singen die Imame ihr Laylaylay, es trägt einen hinfort, in einen meditativen Zustand. Tausende Körper bewegen sich wie einer, vor und zurück, auf und ab. Sand knirscht unter nackten Füßen. Wellen rollen in großem Schwung heran. Kinder rennen zum Strand, springen jauchend ins Wasser.

Wie hatte der Marabout an der heiligen Grotte gesagt?

„Von hier aus wird der Islam erneuert werden. Und er wird den Frieden bringen.

Erschienen in Geo März/2019

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