Früher war der Dalai Lama beliebt wie ein Popstar und ständig auf Welttournee. Und heute?
Werden die Tibeter immer noch unterdrückt. Nun will China seinen Nachfolger bestimmen
Sie warten, ein wenig aufgeregt. Blicken auf den ergonomischen Drehstuhl, der vor dem
Eingang der Residenz steht. Jemand hat ein Tuch über ihn geworfen. Noch ist er leer.
Die buddhistische Nonne aus Australien schließt die Augen und meditiert. Der tätowierte
Jesus aus Leipzig rückt seine Amulette zurecht. Die Pilgerin aus Vietnam führt letzte
Wartungsarbeiten an ihrem Haarturm durch und ordnet die Schokoladenschachteln, die sie
überreichen möchte. Der alte Tibeter im Rollstuhl lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Einige Hundert Besucher haben sich versammelt, so wie jeden Montag, Mittwoch und
Freitag, eine schillernde Gruppe Menschen aus aller Welt.
Hier in dem Park, der die Residenz umgibt, scheint die Betriebsamkeit der kleinen Stadt
Dharamsala ganz im Norden Indiens mit einem Mal verschluckt zu sein. Mächtige Kiefern.
Alte Zedern. Am Himmel kreisen Falken, schrauben sich hinauf in Richtung der Gipfel des
Himalaya, an dessen Ausläufern Dharamsala liegt. Die Besucher sitzen auf dem Mäuerchen
neben der Auffahrt, weiter hinten belegen sie die Straße. Sie warten, ohne diesen Moment
irgendwo im Internet zu posten, zu kommentieren, in Sepiafilter zu tauchen – ihre Handys hat
man ihnen abgenommen. Menschen ohne Ablenkung. Menschen, die einfach nur sind.
Um Punkt halb acht an diesem Morgen fährt ein Golfcart vor. Alle drehen die Köpfe nach
links. Ein alter Mann steigt aus. Nimmt, von Mönchen gestützt, auf dem Drehstuhl Platz,
seinem improvisierten Thron: der Dalai Lama. Ikone des gewaltlosen Widerstands.
Friedensnobelpreisträger. Geistiges und einst auch politisches Oberhaupt aller Tibeter. Als er
1940 im Alter von vier Jahren inthronisiert wurde, bereitete sich Hitlers Wehrmacht gerade
auf den Angriff gegen Frankreich vor. Charlie Chaplin drehte Der große Diktator, der
amerikanische Präsident hieß Franklin D. Roosevelt, und im zerrissenen China waren Mao
Zedongs Kommunisten noch weit entfernt von der Macht.
Gleich werden sie vor ihn treten, einer nach dem anderen. Die buddhistische Australierin. Der
Jesus aus Leipzig. Die Pilgerin aus Vietnam. Sikhs in Turbanen, Frauen im Sari, tibetische
Bauern, Israelis, Russen, Ukrainer, Amerikaner, europäische Studenten. Der Dalai Lama lässt
seinen Blick über sie gleiten. Wie mag es sich anfühlen, jemand zu sein, von dem andere
Trost, Ermutigung, vielleicht sogar ein Wunder erhoffen – Tag für Tag, ein knapp
neunzigjähriges Leben lang? Jemand zu sein, der weiß: Sobald ich einmal sterbe, wird der
Kampf um meine Nachfolge vollends entbrennen – ein Kampf, bei dem das Schicksal meines
Volkes auf dem Spiel steht.
Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Dalai Lama allgegenwärtig. Er flog umher, traf
Staats- und Regierungschefs, hielt Reden, gab Pressekonferenzen. Hinter der Residenz, in
einem Museum, haben sie sein Jahrhundertleben in ein paar Räume gepackt. Die 80
Ehrendoktorwürden. Die 22 Ehrenbürgerschaften. Fotos seiner Begegnungen mit Papst
Johannes Paul II., Michail Gorbatschow, Barack Obama. Der Dalai Lama schien auf einer
immerwährenden Welttournee zu sein. Wo er auch hinkam, sprach er von Liebe und
Vergebung – und erzählte vom Leid seines Volkes.
Es ist eine traurige Geschichte, sie handelt davon, wie sich das kommunistische China im Jahr
1951 Tibet einverleibte, wie es Soldaten und Regierungsbeamte schickte und sich an die
systematische Auslöschung einer uralten Kultur machte. Doch der Dalai Lama, Herrscher
ohne Herrschaftsgebiet, seit Ende der Fünfzigerjahre im indischen Exil, wirkte nur selten
traurig. Oder verbittert. Oder zornig.
Er scherzte. Er lachte sein berühmtes Lachen. Und die Menschen liebten ihn dafür.
Auf unzähligen Autos klebten Free-Tibet-Aufkleber, von unzähligen Balkonen wehten
tibetische Gebetsflaggen. Vor allem in den 1990ern, als die globale Tibet-Begeisterung ihren
Höhepunkt erreichte und sich alle um den Dalai Lama rissen, Intellektuelle, Filmstars,
Popgrößen. Die Beastie Boys, die Red Hot Chili Peppers und weitere Bands traten damals auf
den größten Benefizkonzerten des Jahrzehnts auf und widmeten die Erträge der Sache der
Tibeter. Hollywood brachte zwei Filme heraus, Kundun von Martin Scorsese über die
Kindheit und Jugend des Dalai Lama und Sieben Jahre in Tibet, in dem Brad Pitt einen
Österreicher spielt, der sich mit ihm anfreundet.
Kaum ein anderes unterdrücktes Volk besaß je einen Anführer, der über eine ähnliche
Popularität verfügt hätte. Man könnte meinen, der Dalai Lama habe alles erreicht.
Hat er überhaupt etwas erreicht?
Dharamsala, der Wohnort des Dalai Lama im Norden Indiens, ist der Mittelpunkt der
tibetischen Diaspora. Die tibetische Exilregierung und der Fernsehsender Tibet TV haben hier
ihren Sitz, es gibt eine Bibliothek mit wichtigen tibetischen Büchern und alten Manuskripten,
außerdem Klöster, Tempel, Schulen, mehrere Krankenhäuser. Um die 8.000 Tibeter leben
hier. Eine von ihnen ist eine 37-jährige Frau namens Phenthok; wie so viele Tibeterinnen und
Tibeter hat auch sie nur einen einzigen Namen. Vor zwölf Jahren hat sie ihre Heimat
verlassen, die längst zur Volksrepublik China gehört, und ist hierhergekommen. Ihre
Geschichte wirft ein Licht auf die Lage dieses Volkes, mehr als ein halbes Jahrhundert nach
der Flucht des Dalai Lama.
Phenthok ist in Osttibet aufgewachsen, sie ist das einzige Kind ihrer Eltern, die dort in den
Neunzigern einen Lebensmittelladen betrieben. Es war die Zeit der Benefizkonzerte und Free-
Tibet-Kampagnen in aller Welt. Sie sei sehr gut in der Schule gewesen, erzählt Phenthok, so
wurde die Kommunistische Partei auf sie aufmerksam, schickte sie auf ein Internat, weit weg
von der Heimat. Später ging Phenthok auf eine renommierte chinesische Universität. Für viele
junge Chinesen wäre ein Studienplatz dort ein Traum, und auch Phenthok eröffneten sich
Aufstiegschancen: Sie sollte der Volksrepublik China in Tibet als hohe Beamtin dienen. Dafür
sollte sie die Vergangenheit hinter sich lassen. Ihre eigene. Und die ihres Volkes.
»Schon im Internat«, erzählt sie, »sagten sie ständig: Ihr seid zurückgeblieben. Wilde.
Barbaren. Wir bringen euch Fortschritt.« Fortschritt bringen, das bedeutet in Tibet nicht nur
Investitionen und Wirtschaftswachstum. Sondern auch dies: Die Partei entsendet ihre Kader in
Dörfer und Klöster. Fordert Tibeter auf, sich gegenseitig zu bespitzeln. Verhaftet alle, die sich
für Mitsprache und Selbstbestimmung einsetzen, treibt die Unterwerfung des Glaubens, des
Bildungssystems, der ganzen Gesellschaft voran. Als Tibeterin habe sie am Flughafen oder
am Bahnhof ständig besondere Sicherheits-Checks durchlaufen müssen, erzählt Phenthok.
Nahm sie sich in der tibetischen Hauptstadt Lhasa ein Hotel, kam nachts ein Mann von der
Staatssicherheit zum Verhör. Der Staat, den Phenthok repräsentieren sollte, vertraute ihr nicht.
»Und wenn es schon mir so geht – was sollen dann erst die anderen sagen?«
Tibeterinnen und Tibeter im Staatsdienst, wie Phenthok eine werden sollte, sind wichtig für
China. Sie sollen der Bevölkerung das Gefühl geben, es gehe hier nicht um ein koloniales
Herrschaftsprojekt, sondern um etwas, das gut ist für alle. Eine enge Freundin von ihr, erzählt
Phenthok, wurde tatsächlich Beamtin. »Nach nur einem Jahr auf diesem Posten sah sie zehn
Jahre älter aus. Sie hat nur noch auf ihre Rente gewartet.« Phenthok hingegen entschied sich
zur Flucht nach Indien. Dort begann sie als Journalistin über die Repression in Tibet zu
schreiben.
Die Staatssicherheit rächte sich, indem sie ihre Eltern zwei Wochen lang einsperrte. So sollte
Phenthok zur Rückkehr gezwungen werden. Doch die brach alle Kontakte nach Hause ab. Bis
heute weiß sie nicht, wie es ihrer Familie und ihren Freunden geht – jeder Versuch, das
Schweigen zu brechen, wäre zu gefährlich für die Zurückgebliebenen. Phenthok nutzt jetzt
ihre Chinesischkenntnisse, um für das Tibet Policy Institute, einen Thinktank, Chinas Politik
in Tibet zu analysieren.
Das Interesse der Kommunistischen Partei an Tibet ist allein schon wegen der Geografie
gewaltig. Der Himalaya bildet eine natürliche Barriere nach Süden und Westen – ohne Tibet
würde Chinas Staatsgrenze viel weiter im Landesinneren verlaufen. Auf dem tibetischen
Hochplateau entspringen einige der bedeutendsten Flüsse Asiens, es birgt kostbare
Bodenschätze. Und: China ist ein Vielvölkerreich, mit Dutzenden ethnischen Minderheiten.
Die Mehrheits-Chinesen aus der Volksgruppe der Han stellen zwar 91 Prozent der gesamten
Staatsbevölkerung. Doch auf 60 Prozent des chinesischen Territoriums siedeln traditionell
andere Ethnien.
Nichts fürchtet die Partei so sehr wie den Zerfall dieses Reiches, mit ethnischen Konflikten
und Kriegen wie nach dem Ende der Sowjetunion. Die Politik der Repression erwächst aus
dieser Angst. »Sie wollen, dass Tibet Han-chinesisches Gebiet wird«, sagt Phenthok. »Wir
Tibeter sollen Chinesisch sprechen, die Han-Kultur leben, aber weiterhin unsere Tracht tragen
und tanzen. Wir sollen eine Touristenattraktion sein.«
Der Dalai Lama, sagt einer seiner Berater über dessen Status als globale Ikone, habe eine Welt
gewonnen. Aber sein Land, das habe er verloren.
Die chinesische Staatsführung sieht in ihm einen potenziellen Unruhestifter, ein Hindernis auf
dem Weg zur Assimilation der Tibeter. Regelmäßig verurteilt ihn die Parteipresse als
Separatisten. Sie verglich ihn mit Hitler, nannte ihn einen feudalen Sklavenhalter, einen »Wolf
in Mönchskleidung«, einen Mann mit dem »Gesicht eines Menschen und dem Herzen einer
Bestie«.
Und er, der Dalai Lama? Sagt Sätze wie diese: »Wir können unseren Feind als Lehrer
verstehen. Wir sollten ihn dafür verehren, dass er uns die kostbare Möglichkeit gibt, uns in
Geduld zu üben.« Immer wieder hat er sein Volk auf Gewaltfreiheit eingeschworen. So wie
vor ihm Mahatma Gandhi, den der Dalai Lama sein Vorbild nennt und dem er einmal im
Traum begegnet sein will, so wie auch Martin Luther King und Nelson Mandela.
Der Dalai Lama ist der Letzte in der Reihe der großen Vorbilder des friedlichen Widerstandes.
Und die Tibeter sind ihm gefolgt: Als einige keine Geduld mehr aufzubringen vermochten,
verübten sie nicht etwa Angriffe gegen den chinesischen Staat oder dessen Diener, sondern
gegen sich selbst. Seit 2009 haben sich 169 Tibeterinnen und Tibeter im Protest gegen die
chinesische Fremdherrschaft angezündet.
Hätte eine andere Strategie ein anderes Ergebnis erzielt? Hätte der Dalai Lama an irgendeiner
Stelle das Schicksal Tibets wenden können? Mit ihm selbst kann man darüber nicht reden, er
gibt keine Interviews mehr; wegen seines hohen Alters, sagt ein Mitarbeiter. Doch in
Dharamsala leben andere, die etwas über ihn erzählen können.
Tenzin Geyche Tethong ruft seinen Schäferhund zurück und öffnet die Tür zu seinem
Wohnzimmer. Viel Holz, ein offener Kamin, an der Wand eine Ansicht des Potala-Palasts in
Lhasa, in dem jahrhundertelang die Dalai Lamas residierten. Tenzin Geyche Tethong, 81,
wurde in Lhasa geboren, er ist einer der wenigen, die noch das alte Tibet erlebt haben. Nach
der Flucht wurde er Privatsekretär des Dalai Lama und blieb es mehr als vierzig Jahre lang.
Woran erinnert er sich, wenn er an die Heimat denkt? Da sei nicht mehr viel, antwortet
Tethong. »Vor allem an die Landschaft, die Berge.«
Um nachzuvollziehen, warum es den Tibetern trotz der Berühmtheit des Dalai Lama so
schwer gefallen ist, ihr Land zurückzugewinnen, muss man sich bewusst machen, wie sie es
verloren haben. Tenzin Geyche Tethong sagt: »Es war auch unsere Schuld.«
Vor hundert Jahren herrscht der 13. Dalai Lama, Vorgänger des gegenwärtigen, über ein Tibet,
das nach dem Zusammenbruch des letzten chinesischen Kaiserreichs de facto unabhängig ist.
Es hat in langer Zeit der Abschottung seine einzigartige buddhistische Kultur bewahrt, es ist
sehr arm – und streng hierarchisch gegliedert. So gut wie keine asphaltierten Straßen. Kein
einziges richtiges Krankenhaus. Nur die wenigsten Einwohner können lesen und schreiben,
und sehr viele leben in Klöstern; Schätzungen zufolge zeitweise jeder Dritte. Das Land wird
beherrscht von einer dünnen Oberschicht aus Mönchen und Adligen, mit dem Dalai Lama an
der Spitze.
Der 13. Dalai Lama beobachtet, wie sich jenseits der Berge, in China, neue Ideen durchsetzen.
Der Nationalismus, der Sozialismus. Er fürchtet eine chinesische Invasion, in seinem
Testament schreibt er damals: »Wenn wir keine Vorkehrungen treffen, uns selbst zu
verteidigen, haben wir nur sehr wenige Chancen, zu überleben. Dann werden unsere
spirituellen und kulturellen Traditionen ausgelöscht werden.« Er will Tibet verändern, will ein
modernes Schulsystem aufbauen, eine moderne Armee. Aber die Elite aus Adligen und
Mönchen, besorgt um ihre Privilegien, verhindert den Wandel. »Das alte Tibet, die
konservativen Kräfte bestanden fort«, sagt Tenzin Geyche Tethong.
Ende 1933 stirbt der Reformator, der keiner sein durfte. Einige Jahre später machen sich
mehrere Teams aus Mönchen auf den Weg, das Reich zu bereisen. Es sind Suchtrupps,
losgeschickt, um den nächsten Dalai Lama zu finden.
»Lama« – so nennen die Tibeter ihre spirituellen Meister. Das Wort »Dalai« bedeutet Ozean.
Der Dalai Lama ist der höchste aller Lamas. Tibeter glauben, dass er die Welt seit dem Jahr
1391 mit seiner Präsenz beschenkt: Weisheit so groß und tief wie das Meer, in ständig
wechselnden sterblichen Hüllen. Zum bislang letzten Mal geboren wird er im Sommer 1935
in einem Dörfchen fernab von Lhasa als Sohn einer Bauernfamilie. Der Junge ist zwei Jahre
alt, als einer der Suchtrupps das Dorf erreicht – der einbalsamierte Kopf des verstorbenen
13. Dalai Lama hat nach Nordosten gezeigt und den Mönchen so die Richtung gewiesen. Sie
sitzen im Haus der Bauernfamilie. Der oberste Mönch, der sich als Diener seiner Begleiter
ausgibt, nimmt eine Gebetskette des 13. Dalai Lama in die Hände. Da nähert sich das
Kleinkind und will sie haben.
So wird es der Dalai Lama später selbst beschreiben. Nach weiteren Zeichen und Prüfungen
steht fest: Dieser Junge ist der Richtige.
Zunächst übernehmen Regenten an seiner Stelle die weltliche Macht. In China gründen die
Kommunisten die Volksrepublik. Als 1950 Zehntausende Soldaten der Volksbefreiungsarmee
zunächst im östlichen Teil Tibets einfallen, erklärt ein tibetisches Regierungsmitglied: »Wir
sind ein Land der hohen Lamas. Die Chinesen können uns nichts antun.« In dieser
Krisensituation werden dem Dalai Lama, einem Teenager von 15 Jahren, die
Regierungsgeschäfte übertragen. Die Tibeter flehen im Ausland um Unterstützung, bitten um
Hilfe bei den Vereinten Nationen. Doch vergeblich. Nur das kleine El Salvador unterstützt ihr
Anliegen.
Ein tibetischer Unterhändler unterzeichnet schließlich unter Druck ein Abkommen, mit dem
ganz Tibet ein Teil Chinas wird – gegen den ausdrücklichen Willen des Dalai Lama, der erst
aus dem Radio davon erfährt. Die Tibeter haben ihr Land verloren. Schnell bringt die
Volksbefreiungsarmee es unter Kontrolle.
Es kommt zu einem Guerillakrieg gegen die Besatzer. Während der Dalai Lama zur
Gewaltfreiheit aufruft, hält sein Bruder Kontakt zu den tibetischen Kämpfern. Chinas Armee
lässt Bomben auf Klöster werfen, zwingt Menschen, auf den Leichen der Exekutierten zu
tanzen. Bald sind 97 Prozent der Klöster zerstört. Nach Angaben der Exilregierung werden in
den folgenden zwei Jahrzehnten mehr als eine Million Tibeter an Hunger oder durch Gewalt
sterben.
Im März 1959 droht die Lage auch in der Hauptstadt Lhasa zu eskalieren. Eine aufgebrachte
Menge umstellt den Palast, in dem der Dalai Lama ausharrt, die Menschen fürchten, die
Chinesen könnten ihn entführen. Die Volksbefreiungsarmee bringt sich in Stellung. Verkleidet
als einfacher Soldat, schafft es der Dalai Lama aus dem Palast und gelangt nach einer
zweiwöchigen Tour durch den Himalaya nach Indien. Seine Flucht wird zur großen
Medienstory, und er mit einem Schlag weltberühmt.
»Das Ausmaß der Popularität hat uns selbst sehr überrascht«, sagt sein ehemaliger
Privatsekretär Tenzin Geyche Tethong. »1973 unternahmen wir die erste Reise nach Europa,
1979 eine in die USA.« Ganz bewusst wenden sie sich an die globale Zivilgesellschaft: Die
Strategie des gewaltfreien Widerstands beruht darauf, den Preis für ein Unterdrückungssystem
zu hoch werden zu lassen, weil die Bürger anderer Staaten das moralische Unrecht erkennen
und auf Wandel drängen. Gegen das Apartheidregime in Südafrika verhängt die
Weltgemeinschaft damals Sanktionen, die schließlich zum Ende der Unterdrückung beitragen
werden. Und öffnet sich China nicht ab Ende der 1970er der Welt? Ein armes Land,
angewiesen auf ausländisches Kapital und westliche Technologie – liegt hier nicht ein
Druckmittel, um eine andere Politik gegenüber Tibet zu fordern?
Ja, das tut es. Aber die westlichen Regierungen haben es niemals wirklich eingesetzt. Denn
auch die Kommunistische Partei Chinas verfügt über ein Droh- und Lockmittel – eines, gegen
das der Dalai Lama nichts ausrichten kann. Wie wirksam es ist, beginnt die Partei damals zu
begreifen: die Größe der eigenen Bevölkerung. China ist nicht irgendein Absatzmarkt. China
ist ein Markt mit mehr als einer Milliarde potenzieller Konsumenten. Wer den Zugang zu ihm
kontrolliert, kann Regierungen und multinationale Konzerne auf Kurs bringen.
1997: Auf dem Höhepunkt der popkulturellen Begeisterung für Tibet
laufen Kundun und Sieben Jahre in Tibet im Kino, die beiden Hollywood-Filme. Kundun ist
von Disney produziert worden. Bald kommen alle Geschäfte des Unternehmens in China zum
Erliegen. Der Chef von Disney führt ein vertrauliches Gespräch mit dem chinesischen
Premierminister, dessen Inhalt später öffentlich wird. »Wir haben einen dummen Fehler
gemacht«, sagt er. »Dieser Film stellte eine Beleidigung für unsere Freunde dar. Die schlechte
Nachricht ist, dass der Film gedreht wurde. Die gute Nachricht, dass niemand ihn gesehen hat.
Ich möchte mich entschuldigen. So etwas wird nicht wieder vorkommen.« Weitere geplante
Filme über Tibet, auch die anderer Studios, werden nicht gedreht. Sony, verantwortlich
für Sieben Jahre in Tibet, schickt seine Manager auf eine Entschuldigungstour durch China
und spricht sich für die Aufnahme des Landes in die Welthandelsorganisation aus.
1998: Für eine Werbekampagne mit dem Slogan Think different entwirft der
Computerhersteller Apple ein Poster mit dem Gesicht des Dalai Lama. Es kommt in Asien
nicht zum Einsatz, angeblich weil der Dalai Lama nicht bekannt genug sei. Drei Jahre später
beginnt Apple damit, seine Produkte in der Volksrepublik herstellen zu lassen.
2007: Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt den Dalai Lama zu einem »privaten
Austausch« im Kanzleramt. Sie lässt sich mit dem weißen Begrüßungsschal fotografieren, den
er ihr überreicht hat. Ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier übt öffentlich Kritik an dem
Treffen: Das sei nur »Schaufensterpolitik für die schnelle Schlagzeile«. Nun müsse man
sehen, wie sich das zerschlagene Porzellan kitten lasse.
2019: Hollywood bringt doch noch einen Film über Tibet heraus. Diesmal als Co-Produktion
mit einem chinesischen Studio. In Everest – Ein Yeti will hoch hinaus entdeckt ein Mädchen
aus Shanghai einen Yeti auf dem Dach ihres Hauses und bringt ihn zurück nach Tibet. In dem
Film ist allerdings kein einziger Tibeter zu sehen, und das Wort Tibet fällt auch kein einziges
Mal – wie von der Parteipropaganda gewünscht. Der von ihr bevorzugte Begriff lautet xizang.
Er bedeutet »westliche Schatzkammer«.
Heute reist der Dalai Lama kaum noch ins Ausland. Es ist zu anstrengend für den alten Mann
geworden, auch sind weniger einflussreiche Menschen bereit, sich mit ihm sehen zu lassen.
Und das, obwohl der Dalai Lama den Anspruch auf Unabhängigkeit für Tibet längst
aufgegeben hat. Er fordert nur, was die Invasoren in jenem Abkommen von 1951 zugesichert
hatten: wirkliche Autonomie und Religionsfreiheit in einem chinesischen Staat. Seine
politischen Aufgaben hat er mittlerweile an den gewählten Vertreter der 150.000 Exiltibeter
weltweit abgegeben. Derzeit ist dies ein Mittfünfziger namens Penpa Tsering.
Besuchte der Dalai Lama vor anderthalb Jahrzehnten Berlin, fuhr er in einer Wagenkolonne
mit Polizei-Eskorte zum Brandenburger Tor. Dort bestieg er eine Bühne, bejubelt von
Zehntausenden. Tibet-Flaggen, Luftballons, ein riesiges Transparent: »Freiheit – Deutschland
für Tibet – Tibet für die Welt«. Besucht sein politischer Nachfolger heute Berlin, kann man
ihn in der Lobby des Motel One am Alexanderplatz treffen, wo er unerkannt zwischen
Geschäftsleuten und Touristen steht, in der Hand einen Pappbecher Kaffee, den er sich bei
Dunkin’ Donuts geholt hat. »Ich bin nur ein einfacher Tibeter«, sagt Penpa Tsering. »Also
muss ich viel mehr Beinarbeit leisten.« Er sieht sich nicht nur als Sprecher der Exiltibeter,
sondern auch als Repräsentant der sechs Millionen Menschen in der Heimat, die nicht wählen
dürfen. Gleich wird er zu einem Bürogebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes fahren. Er
wird am Eingang noch eine Zigarette rauchen und dann das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung betreten. Wen er dort trifft, soll nicht
verraten werden. Seine Gesprächspartner fürchten die Reaktion der chinesischen Regierung.
China ist zu einer Weltmacht geworden, der es gelingt, Debatten und Kritik auch in einem
Land wie Deutschland zu unterdrücken. Doch der Vertreter der Tibeter gibt nicht auf. Sechs
Monate im Jahr ist er auf Reisen. »Immerhin«, sagt Penpa Tsering, »jetzt, da China
geopolitisch so aggressiv auftritt wie nie zuvor, sind wieder mehr Regierungen bereit, uns
zuzuhören.« Militärmanöver vor Taiwan, Einschüchterung von Nachbarn wie den
Philippinen, die neue Konfrontation der Machtblöcke: Für die Tibeter liegt darin auch ein
wenig Hoffnung. Hoffnung, dass der Westen engagierter für sie Partei ergreift.
Die Residenz des Dalai Lama in Dharamsala ist ein gelb gestrichener Bau, schlicht und
elegant. Im Innenhof ein kleines Basketballfeld, hat der Dalai Lama hier jemals Bälle
geworfen? Auf einem Tisch legen Mönche jetzt die Dinge aus, die Menschen aus aller Welt
geschickt haben, damit der Dalai Lama sie segnet. Buddha-Statuen, Räucherstäbchen,
tibetische Schals.
Der elegante Protokollchef gibt ein Signal. Die Besucherschlange setzt sich in Bewegung.
Einer nach dem anderen tritt vor den Drehstuhl, auf dem der Dalai Lama sitzt, beugt sich zu
ihm herab. Der Protokollchef verliest Namen und Nationalität, zwei Fotografen schießen
Fotos, die den Gästen später zugeschickt werden. Jedem gewährt der Dalai Lama ein paar
Augenblicke seiner Zeit. Dem tätowierten Jesus aus Leipzig. Der Pilgerin aus Vietnam, die
ihm ihre Schokoladenschachtel überreicht. Dem alten Tibeter im Rollstuhl.
Besucher aus China sind nicht dabei.
Die Strategie des friedlichen Widerstands richtet sich niemals nur nach außen, an die
Weltöffentlichkeit. Sie richtet sich immer auch an die Bürger des Täterstaates. Die sollen
erkennen, dass ihre Regierung das Falsche tut: Mahatma Gandhi bewegte mit seiner Botschaft
Briten dazu, sich für ein Ende der Kolonialherrschaft über Indien einzusetzen. Martin Luther
King brachte weiße Amerikaner dazu, sich der Bürgerrechtsbewegung anzuschließen. Nelson
Mandela inspirierte weiße Südafrikaner im Kampf gegen die Apartheid.
Es ist nicht so, dass es solche Menschen nicht auch in China gäbe. Der tibetische Buddhismus
gehört seit vielen Jahrhunderten zu China, die Herrscher mehrerer Kaiserdynastien hingen
ihm an. Auch heute verehren viele Han-Chinesen den Dalai Lama, bis vor wenigen Jahren
machten sie ihm hier in Dharamsala auch ihre Aufwartung. Doch wegen der geopolitischen
Spannungen zwischen Indien und China im Himalaya ist es so gut wie unmöglich für sie
geworden, ein Visum zu bekommen.
In ihrer Heimat haben diese Menschen sowieso nichts zu sagen. Anders als im Großbritannien
der 1930er-, in den USA der 1960er- und im Südafrika der 1980er-Jahre wird heute jede
öffentliche Kritik von der chinesischen Führung schon im Ansatz unterdrückt. So kommt es,
dass die Partei ihre Tibet-Politik immer noch weiter verschärfen kann und dabei keinen
Widerspruch fürchten muss.
In China besuchen inzwischen vier von fünf tibetischen Kindern ein Internat, wo sie vor allem
Chinesisch lernen. Die chinesische Führung hat die Grenze zu Indien so gut abgeriegelt, dass
nur noch wenigen Tibetern die Flucht gelingt. Und die Zensur macht die Kommunikation der
Exiltibeter mit der Heimat schwieriger denn je. »Die Abstammung, die Wurzeln, die
Verbindungen, die Herkunft brechen« – so beschrieb es ein Politiker namens Chen Quanguo.
Ab 2011 diente er fünf Jahre lang als Parteichef in Tibet. Später ließ er in der Provinz
Xinjiang Massenlager errichten, in denen Uiguren interniert werden. Die Taktik, Druck gegen
daheimgebliebene Verwandte auszuüben wie gegen die Eltern der Tibeterin Phenthok, kommt
in Xinjiang genauso zum Einsatz. Tibet war für die Partei eine Blaupause, um auch gegen
andere ethnische Minderheiten im Vielvölkerreich vorzugehen.
Frühmorgens in Dharamsala: Eine Frau mit kurz geschorenem Haar und Brille verlässt ein
Nonnenkloster. Weicht einem heranbrausenden Auto aus, schlängelt sich an einer Kuh vorbei
und biegt auf den Pilgerweg ein, der rings um die Residenz des Dalai Lama führt. Weit geht
der Blick ins Tal. Noch ist es still hier. Aufgespannt an Seilen, wehen tibetische
Gebetsflaggen im Wind.
Die Frau ist Mitte fünfzig, sie trägt die bordeauxrote Robe tibetischer Nonnen und
Turnschuhe in gleicher Farbe. Ihr Name ist Kelsang Wangmo. In einem früheren Leben hieß
sie Kerstin Brummenbaum, ihren rheinischen Einschlag beim Sprechen hat sie sich von
damals bewahrt. Sie war 20, als sie beschloss, buddhistische Nonne zu werden. Fast zwei
Jahrzehnte lang studierte sie den Buddhismus, als einzige Ausländerin unter tibetischen
Mönchen. Als erste Frau überhaupt hat sie den »Geshe«-Titel erlangt, den Doktorgrad des
tibetischen Buddhismus. Damit ist sie die richtige Ansprechpartnerin für die Frage, um die
sich schon jetzt ein politischer Machtkampf entwickelt hat – und die entscheidend sein könnte
für die Zukunft der Tibeter: Was wird geschehen, wenn der 14. Dalai Lama seine derzeitige
sterbliche Hülle hinter sich lässt? Wann wird er wiedergeboren? Wo? In welchem Körper?
Die Tradition, Mönche wundersame Zeichen deuten zu lassen, um das richtige Kind zu
finden, war immer anfällig für Manipulationen. Im 19. Jahrhundert etwa starben der neunte,
der zehnte, der elfte und der zwölfte Dalai Lama alle jung und unter mysteriösen Umständen.
Heute versucht ausgerechnet die atheistische Kommunistische Partei, diesen zutiefst
mythischen und fremdartig wirkenden Prozess zu kontrollieren. Wird es ihr gelingen, einen
eigenen Dalai Lama zu installieren? Eine Marionette, die sich von ihr lenken lässt und die
zugleich das tibetische Volk lenken kann?
Die staatliche chinesische Behörde für religiöse Angelegenheiten hat 2007 ein Dokument
namens »Maßnahmen zum Umgang mit Reinkarnationen lebender Buddhas« veröffentlicht,
auch Befehl Nummer fünf genannt. Nur die chinesische Regierung könne die Autorität
gewähren, nach einem wiedergeborenen Lama zu suchen, heißt es darin. Ja, ein Lama dürfe
überhaupt nur mit Erlaubnis der Partei wiedergeboren werden. Laut Robert Barnett, Tibet-
Experte an der School of Oriental and African Studies in London, hat die Regierung bereits
damit begonnen, Vorbereitungen für die Auswahl ihres Kandidaten zu treffen. Eine 25-
köpfige hochrangige Kommission wurde gegründet, geleitet vom Parteisekretär in Tibet.
Wie ernst die Regierung es meint, hat sie schon einmal gezeigt. In den 1990ern hatte
der Dalai Lama einen sechsjährigen Jungen als sogenannten Panchen Lama identifiziert, als
zweithöchsten spirituellen Meister nach ihm selbst. Die Regierung ließ den Jungen entführen
und installierte ihren eigenen Panchen Lama. Die Eltern des Neuen waren Parteimitglieder, er
ist von klein auf in Peking aufgewachsen und hat direkten Zugang zu Xi Jinping, dem
Staatspräsidenten. Unter den Tibetern allerdings bleibt sein Einfluss begrenzt. Der Entführte
ist bis heute nicht aufgetaucht.
Wahrscheinlich wird es eines Tages zwei Dalai Lamas geben. Einen, den die Tibeter
identifiziert haben. Und einen, den die Kommunistische Partei Chinas gekürt hat. Der
derzeitige Dalai Lama bleibt dazu in seinen öffentlichen Äußerungen vage. Vielleicht werde
sein Nachfolger eine Frau sein, hat er gesagt. Oder die Tradition werde mit ihm selbst an ihr
Ende kommen. Sicher sei nur eines: Ein neuer Dalai Lama werde nicht in China geboren
werden. Sondern in einem freien Land.
»Der Dalai Lama wird als Frau wiedergeboren?« Kelsang Wangmo lacht. »So weit ist die
tibetische Gesellschaft noch nicht.« Nach der tibetischen Lehre habe
der Dalai Lama allerdings durchaus Handlungsspielraum, was seine Reinkarnation betrifft.
»Ein geistig so weit entwickeltes Wesen kann sich in zwei, drei oder sehr vielen Körpern
manifestieren.« Er könnte zum Beispiel seinen Geist noch zu Lebzeiten auf einen oder
mehrere Nachfolger übertragen. Oder einen bereits erwachsenen Menschen präsentieren –
wobei viele Tibeter so etwas wohl nur schwer akzeptieren könnten, glaubt Kelsang Wangmo.
Populärer wäre aus ihrer Sicht der althergebrachte Weg: Mönche identifizieren die
Wiedergeburt im Körper eines Kindes. Was den Nachteil hätte, dass dieses Kind erst groß
werden müsste. Die Tibeter müssten Jahre auf einen aktionsfähigen 15. Dalai Lama warten.
Gut für ihre Gegner.
Kelsang Wangmo betritt ein modernes Gebäude und eilt zu einer Dolmetscher-Kabine. Hier
wird sie gleich sitzen, während sich der Dalai Lama im Großen Tempel von Dharamsala an
die tibetische Jugend wendet. In seiner Unterweisung wird es darum gehen, wie Menschen
ihren Geist so verändern können, dass sie weniger leiden und inneren Frieden finden. »Der
Weg, dies zu erreichen, besteht darin, fehlerhafte Bewusstseinszustände zu vermeiden und
hilfreiche Zustände zu vermehren«, wird der Dalai Lama mit seiner noch immer tiefen,
kräftigen Stimme sagen. Kelsang Wangmo wird ihr konzentriert folgen und die Worte ins
Deutsche übersetzen.
Sie begrüßt die anderen Dolmetscher. Der Auftritt des Dalai Lama wird über das Internet
Menschen auf der ganzen Welt erreichen, in mehr als einem Dutzend Sprachen. Bevor
Kelsang Wangmo sich verabschiedet und die Tür zu ihrer Kabine schließt, hält sie noch einen
Moment inne. »Zeiten des Vakuums waren für Tibet immer gefährlich«, sagt sie.
Eine Handvoll Exilanten hat sich in einem alten britischen Kolonialbau in Dharamsala
versammelt. Wissenschaftlerinnen, Aktivisten, ein Regisseur. Sie sind an diesem Abend zu
Gast in der Wohngemeinschaft des Poeten Tenzin Tsundue. Draußen tobt sich ein
Regenschauer aus, die Tropfen prasseln auf das Dach, Frösche quaken. Ab und zu geht das
Licht aus, Stromausfall, dann zünden sie Kerzen an. Die meisten hier sind in ihren
Zwanzigern und Dreißigern und schon in zweiter Generation im Exil, Tenzin Tsundue ist mit
seinen 50 Jahren der Älteste. Er hat sein Leben dem Kampf für die Sache seines Volkes
verschrieben. »Meine Großmutter hat immer von Tibet erzählt, einem Land, das wir nie
gesehen haben. Wir haben die Erinnerung geerbt. Aber auch die Verantwortung. Wir leben in
einer Art Schuld.« So viele haben es nicht geschafft, vor den Chinesen zu fliehen. »Wir sind
frei. Also müssen wir etwas tun.«
Die Frage ist, was. Wird die Botschaft der Gewaltlosigkeit den Dalai Lama überdauern? Oder
werden die Tibeter zu anderen Methoden greifen, radikaleren?
Keiner in der WG kennt eine Zeit ohne ihn. Der Dalai Lama war immer da, wie ein Fixstern.
In manchem gehen Tenzin Tsundue und seine Gäste durchaus weiter als er. Sie lehnen die
vom Dalai Lama propagierte Politik des sogenannten Mittleren Weges ab – sie wollen keine
Autonomie innerhalb der Volksrepublik China, sie wollen ein unabhängiges Tibet. Aber fast
alle hier stimmen Tenzin Tsundue zu, als er sagt: »Wenn wir auf Gewalt zurückgreifen, dann
zählen die Prinzipien nichts mehr, nach denen wir seit mehr als tausend Jahren gehandelt
haben. Die Bedeutung des tibetischen Volkes liegt darin, dass wir ein ganzes System
entwickelt haben, das auf Liebe und Mitgefühl basiert. Alles, was wir tun, tun wir, weil wir
daran glauben: an Liebe und Mitgefühl. Das können wir der Menschheit geben.«
Ein Mann verliert sein Land. Er muss fliehen und schaut aus der Ferne zu, wie das kulturelle
und religiöse Erbe seiner Heimat zerstört wird. Aber er verzweifelt nicht darüber. Stattdessen
erschafft er im Norden Indiens einen Ort, wo dieses Erbe überleben und weiterwachsen kann.
Er gibt seinem Volk Zusammenhalt und Hoffnung, und er begeistert Menschen auf allen
Kontinenten auf eine Weise, die weit über das Politische hinausreicht. Wenn in Europa oder
Nordamerika heute so viel von Achtsamkeit gesprochen wird, wenn das Meditieren eine
Massenkultur ist und die Wahrnehmung der eigenen Gefühle nichts mehr, für das man sich
schämt, dann hat das viel mit dem Dalai Lama zu tun. Er hat den geistigen Schatz Tibets für
die Menschen geöffnet. Hat sie für diesen Schatz geöffnet.
Es geht dabei nicht nur um das spirituelle Wohlergehen Einzelner. Es geht auch um den
Fortschritt der Wissenschaft, und damit aller. Der Dalai Lama steht seit Jahrzehnten in engem
Kontakt mit Forschern, mit ihnen hat er sich oft über Erkenntnisse zum menschlichen Gehirn
ausgetauscht. Das Interesse ist auf beiden Seiten gewaltig, immer noch. Lange herrschte der
Glaube, unser Hirn sei statisch und unveränderbar. Der Dalai Lama hat aus der Nähe
miterlebt, wie eine neue Idee an Kraft gewann: Das Gehirn ist plastisch. Es kann sich in seiner
Struktur wandeln; wir können es verwandeln. Dadurch richtete sich der Blick auf
systematisches geistiges Training, wie es der Buddhismus lehrt.
Der Dalai Lama hat an vielen renommierten Universitäten vor Abertausenden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen, am Massachusetts Institute of
Technology, beim Jahrestreffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in Washington, in
Stanford, Zürich, Straßburg. Immer wieder hat er dabei betont, wie wichtig es ihm sei, den
Nutzen des tibetischen Erbes auch jenen zukommen zu lassen, die nicht an den Buddhismus
glauben.
Ein Mann verliert sein Land. Und gewinnt eine Welt.
Eine österreichische Studentin tritt zur Seite. Und plötzlich steht man selbst vor ihm. Schmal
ist sein Gesicht, Falten durchziehen es, fein wie Spinnenweben. Er nimmt die Hände der
Besucherin in die seinen, streicht über ihr Haar, bleibt stumm. Schaut, ohne sich abzuwenden,
ohne Hast. Es liegt eine ungewöhnliche Intimität in dem Vorgang, einem anderen – ihm –
lange in die Augen zu sehen. Die seinen sind sehr klar. Es ist etwas Weites darin, etwas, für
das man sehr viele Worte brauchen könnte oder sehr wenige. Mitgefühl. Die Erfahrung eines
Mönches, der diese Gabe in jahrzehntelanger Meditation praktizierte, eines Mönches, dem in
den 89 Jahren seines Lebens so viele gegenübertraten, mit ihrer Traurigkeit, ihrer Sehnsucht,
ihrer Hoffnung.
Hinterher steht der tätowierte Jesus aus Leipzig am Wasserspender, trinkt sein Glas in einem
Zug leer und sagt: »Puh.« Er schüttelt den Kopf, lächelt. »Wow.«
Erschienen am 13. Februar 2025 in Die Zeit Dossier