Modekonzerne wie H & M lassen ihre Kleidung seit Jahren in Asien produzieren. Jetzt haben sie einen noch billigeren Standort entdeckt: Äthiopien. Die Näherin Tigist verdient dort kaum mehr als einen Euro am Tag. Sie ist gestresst – und trotzdem zufrieden. Warum?
Steig schnell aus dem Bus. Lauf rasch weiter. Trödel nicht. Geh über die Straße, die Erdpiste entlang, durch den leeren, dunklen Markt. Bleib nicht stehen, wenn dich die Betrunkenen rufen, die Aggressiven und Notgeilen. Sie wissen, woher du kommst. Der Fabrikpass bau- melt ja um deinen Hals, und noch immer trägst du das rosa Kopftuch, das du bei der Arbeit auf- ziehen musst. Renn, wenn die Männer auf dich zutorkeln, renn, so schnell du kannst, über die Schlaglöcher, die Pfützen und Gruben hinweg. Pass auf, dass du nicht stolperst. Und selbst wenn du stolperst, renn weiter.
Das sind die Sätze, die Tigist in ihrem Kopf hin und her schiebt, wenn sie von der Spätschicht nach Hause geht.
Die Näherin
Es ist 22.45 Uhr, als Tigist, ein Mädchen von 18 Jahren, die Haare zu dünnen Zöpfen geflochten, aus dem Fabrikbus steigt. Sie ist müde, so viel wie heute hat sie noch nie genäht. 150 Hosen, das sind 300 Hosensäume. 300-mal das Ende des Hosenbeins sorgfältig umschlagen, dann mit der Maschine eine saubere Naht setzen, erstes Bein, zweites Bein. Stundenlang. Nie hat Tigist eine ganze Hose genäht, sie kann nur den Saum. Die Hosen, die Tigist und ihre Kolleginnen nähen, werden später in H&M-Läden in vielen Ländern der Welt hängen. Schwarz, Casual Chic, 14,99 Euro.
»Made in Ethiopia« steht auf dem Etikett, innen am Hosenbund. Es ist eine Hose, die Männer fast immer anziehen können, egal ob sie zur Arbeit gehen, zur Uni oder zu einem Date. Das macht sie so praktisch, aber darüber denkt Tigist nicht nach. Genau wie die meisten Männer in den Einkaufsstraßen von New York, Berlin und Singapur nicht darüber nachdenken, wer wohl den Saum ihrer Hose genäht hat.
Neben Tigist geht ihre Freundin, die auch in der Fabrik arbeitet. Gemeinsam eilen sie über den Weg durch die Dunkelheit, vorbei an Schuppen
aus Wellblech und Holz. Da vorne steht eine Stra- ßenlaterne, da ist es heller, dann noch eine. Dann keine mehr. Tigist hält jetzt ein billiges Mobil- telefon in der Hand, dessen Display einen Streifen Licht spendet.
Plötzlich ein Geräusch. Ein Umriss zwischen den Bäumen. Aber diesmal sind es keine Betrunkenen, nur ein paar Hyänen, die im Dunkeln nach Abfällen suchen. Manchmal kommen sie in der Nacht aus den Bergen herunter an den Stadtrand.
Tigist und ihre Freundin erreichen einen Well- blechzaun, sie öffnen ein Tor und überqueren einen kleinen Hof, an dessen Ende ein flaches steinernes Haus steht. In diesem Haus ist ein Zimmer mit eigener Tür, nicht groß, sechs Quadratmeter viel- leicht. Ein paar Teller und Töpfe stehen herum, ein Wasserkanister, ein wenig Feuerholz. Auf dem Boden liegt eine Matratze, die teilen sie sich zu dritt, drei Frauen, drei Näherinnen.
An den Wänden hängen Plastiktüten, darin ver- wahren sie ihren Besitz. Es ist nicht viel, ein wenig Seife, ein bisschen Haaröl, über einer Wäscheleine hängen Kleider, damit ist das Zimmer schon voll. Ein zerschlissenes Tuch vor dem Fenster soll die Kälte der Nacht draußen halten. Zum Kochen gehen die Frauen in den Hof, dort ist eine Feuer- stelle, in einer Ecke neben dem Haus können sie sich waschen.
1055 Birr im Monat verdient Tigist in der Fa- brik, umgerechnet 32,36 Euro, für acht Stunden Arbeit am Tag, sechs Tage die Woche, Schicht- dienst, keine Urlaubstage. Kaum mehr als ein Euro pro Tag. Davon kauft sie Linsen und Hirse, manchmal ein wenig Gemüse und was sie sonst noch zum Leben braucht. Wenn das Geld mal wieder nicht reicht, leiht sie sich ein paar Scheine von den Händlern in ihren Schuppen. 200 Birr im Monat, 6,14 Euro, kostet ihr Platz im Zim- mer. Sie hat Glück. In der Innenstadt von Awassa müsste sie doppelt so viel bezahlen.
Awassa hat 300 000 Einwohner. Wohlhabendere Äthiopier machen hier Urlaub. Die Stadt liegt auf 1700 Meter Höhe an einem See, die Promenade ist gesäumt von Cafés und Fischrestaurants. In den Wipfeln alter Bäume turnen Affen. Es gibt
saubere, schöne Viertel in Awassa, zum Beispiel das Villeneck am See, und es gibt die Siedlungen am Stadtrand wie die, in der Tigist wohnt.
An den nackten schlecht verputzten Wän- den in ihrem Zimmer haben die Frauen ein paar fotokopierte Blätter aufgehängt, darauf stehen Zeilen aus der Bibel.
Jeremia, Kapitel 40, Vers 4: »Und nun siehe, ich habe dich heute losgemacht von den Ket- ten, womit deine Hände gebunden waren.«
1. Korinther-Brief, Kapitel 10, Vers 12: »Darum, wer meint, er stehe, soll zusehen, dass er nicht falle.«
Tigist sitzt jetzt in dem Zimmer auf der Matratze. Sie hat von ihrem Leben erzählt, mit leiser Stimme und vorsichtigen Worten, die auf einmal sehr entschlossen wirken, als sie sagt, dass sie sich vor allem eines wünsche: zu lernen, wie man eine Hose näht, eine ganze Hose, nicht nur den Saum an den Beinen.
Tigist sagt: »Hier ist es besser als da, wo ich herkomme.«
Der Fabrikleiter
Jetzt ist er also in Afrika gelandet. In diesem Büro ganz oben in der Fabrik, das er Morgen für Morgen
über eine Stahltreppe erreicht. Seit einem Jahr ist er hier: Äthiopien, Industriepark Awassa. Die Werkshallen stehen in langen Reihen, dazwischen Rasenflächen und frisch gefegte Straßen.
Drinnen, in der Fabrik mit der Nummer 39, stehen die Nähmaschinen in langen Reihen. Wenn der Manager aus seinem Büro an das Geländer tritt und hinunter in die Halle blickt, sieht er Hunderte leise surrende Maschinen und dahinter Hunderte rosafarbene Kopftücher. An den Wänden hängen Schilder mit einer Anleitung, wie die Tücher korrekt um den Kopf zu wickeln sind. Die Tücher sind wichtig, damit die Haare der Nähe- rinnen nicht in die Maschinen geraten.
Irgendwo in einer der Reihen muss Tigist sitzen, ein kleiner rosa Punkt über einem Hosensaum. Der Manager kennt sie nicht, wie sollte er auch, bei 1500 Angestellten, die für ihn arbeiten, 97 Prozent sind Frauen.
Egal ob in China, in Vietnam, in Kambodscha oder in Bangladesch, die Textilunternehmen stellen gerne Frauen ein. Frauen haben geschicktere Hände. Frauen geben sich mit weniger Geld zufrieden. Frauen rebellieren nicht so schnell.
Der Manager heißt Kushaan Vijithananda, er ist 47 Jahre alt und stammt aus Sri Lanka. Als er jung war, schlossen viele Bekleidungsunternehmen ihre Fabriken in Europa und eröffneten sie in Sri Lanka neu, weil dort die Löhne der Näherinnen niedriger waren. Eine andere Industrie gab es nicht in Sri Lanka, also fing Kushaan an, in der Textilindustrie zu arbeiten, das war vor 22 Jahren. Er wurde Manager, leitete mehrere Fabriken, dann stiegen auch in Sri Lanka die Löhne, und viele Unternehmen zogen um in andere asiatische Län- der. Kushaan ging nach Bangladesch und baute dort eine Fabrik auf. Bis auch in Bangladesch die Löhne stiegen. Jetzt ist Kushaan also hier, in Äthiopien, und wer weiß schon, was als Nächstes kommt.
Kushaan Vijithananda, breites Lächeln, leutseliges Wesen, wirkt wie jemand, der sich schnell im Neuen einrichten kann. Und das muss er auch. »Die Industrie ist immer in Be- wegung, sie zieht ständig weiter«, sagt er. Und mit ihr ziehen Manager, Händler und Repräsentanten – die internationale Elite der Bekleidungsbranche.
Unter den Managern des Industrieparks in Awassa ist kein einziger Äthiopier, aber viele Chinesen, Inder, Türken, Amerikaner, sie feiern das chinesische Neujahr und das indische Holi-Fest, sie spielen Bridge und Tischtennis. Die meisten von ihnen leben in einem großen Wohnheim direkt am Industriepark, Kushaan wollte das nicht. »In meiner Freizeit will ich nicht die Fabrik vor Augen haben«, sagt er in seinem Büro oben über den Nähmaschinen. Also ist er mit seiner Familie in eine Villa am See gezogen.
In Awassa sei nicht viel los, sagt Kushaan. Manchmal fährt er in die Hauptstadt Addis Abeba, um ins Kino zu gehen. Er lacht sein breites Lachen. »275 Kilometer nur für einen Film.«
Einst zogen europäische und amerikanische Unternehmen nach Asien. Jetzt gehen asiatische Unternehmen nach Afrika. Ein Headhunter hat den Manager Kushaan in Bangladesch abgeworben und zu dem chinesischen Unternehmen gelockt, dessen Name in Awassa auf einem großen Schild vor der Fabrik steht: Indochine.
Indochine beschäftigt weltweit 11400 Mitarbeiter, das ist einem Hochglanzkatalog zu entnehmen, den Kushaan überreicht. Das Unternehmen fertigt Kleidung für europäische und amerikanische Marken, es betreibt Fabriken in Sri Lanka, China, Kambodscha, Myanmar, Vietnam und Äthiopien. Der Gründer von Indochine, sagt Kushaan, sei ein Inder. Das Manage- ment aber sitzt in China. Trotz der Größe des Unternehmens finden sich im Internet kaum Einträge über Indochine. Kushaan sagt lächelnd, das Management sei da »etwas zurückhaltend«.
Noch gibt es nicht sehr viele Textilfabriken in Äthiopien, noch sind es nicht sehr viele westliche Bekleidungsunternehmen, die ihre Hemden und Hosen hier herstellen lassen. H&M und Tchibo zählen dazu, auch kik, die Phillips- Van-Heusen-Gruppe, zu der die Marken Calvin Klein und Tommy Hilfiger gehören, und die VF-Gruppe mit Wrangler, The North Face un Timberland. Kushaans Aufgabe ist es, die Fabrik in Awassa aufzubauen und zu vergrößern. »Bis zum Jahr 2025 sollen hier 5000 Nähmaschinen im Einsatz sein, eines Tages sogar 7500«, sagt er. Bei einem Zwei-Schicht-Betrieb wie bisher würde das Arbeit für 15 000 Näherinnen bedeuten.
»Fabriken aufzubauen ist meine Leidenschaft«, sagt Kushaan und fügt hinzu, man könne in dieser Branche schnell aufsteigen und sehr viel Geld ver- dienen – »falls man mit dem Druck umgehen kann«. Dieses Wort benutzt Kushaan oft, wenn er über seine Arbeit redet: pressure, Druck. Er spricht vom Druck der Preise und der Zahlen, von Umsatz- zielen und Renditeanforderungen, er sagt nicht »Textilindustrie«, sondern »Druckindustrie«.
Es klingt, als sei Kushaan zuständig für eine Maschine, die in atemberaubendem Tempo läuft, und er müsse den Druck weiter steigern, ohne dass es sie auseinandersprengt.
Der Funktionär
Vor der Millennium Hall von Addis Abeba flattern Flaggen vieler Nationen im Wind, Menschen aus aller Welt drücken sich durch die Sicherheits- schleusen auf das Messegelände. Eine Gruppe chinesischer Geschäftsmänner, kettenrauchend, der Repräsentant von H&M, ein Tross Äthiopier, ein pakistanischer Unternehmer, eine blonde Frau mit Rollkoffer. Die Africa Fashion Week war auf Plakaten überall in der Stadt angekündigt, jetzt schieben sich die Besucher von Messestand zu Messe- stand, die meisten Aussteller kommen aus China, es sind Textilhersteller, aber auch Lieferanten von Knöpfen und Produzenten von Nähmaschinen. Überall Lächeln, Visitenkarten, Schulterklopfen, Gespräche über alte Kunden und neue Märkte.
Fasil Tadesse ist mittendrin, immer von einer Traube Menschen umgeben, immer am Reden. Er spricht, während er durch die Gänge läuft, er spricht beim Besuch an einem Messestand, er spricht, hinter dem Rednerpult oben auf dem Podium der Messehalle stehend, zu mehreren Hundert Zuhörern, dort, wo gleich noch der Staatspräsident reden wird. Tadesses Thema ist immer dasselbe: der Standort Äthiopien und seine Stärke.
Fasil Tadesse, Schnurrbart, rauchige Stimme, ist Vorsitzender des äthiopischen Verbandes der Textil- und Bekleidungshersteller, der auf einmal an die Vereinten Nationen erinnert.
Amerikanische, indische, chinesische, französische, türkische, koreanische, italienische Textil- und Bekleidungsunternehmen – sie alle sind nun in dem äthiopischen Textilverband vertreten, sie alle denken darüber nach, in Äthiopien produzieren zu lassen.
An einem anderen Tag, fern der Hektik der Messehalle, empfängt Fasil Tadesse in seinem Büro, in einem schweren Ledersessel sitzend, ein Mann, erfüllt von Erfolg und Zuversicht, was in einem einzigen Satz kulminiert: »Wir werden das China Afrikas!«
Um die Bedeutung seiner Worte zu begreifen, muss man sich für einen Moment die jüngere Geschichte dieses Kontinents in Erinnerung rufen.
Noch in den sechziger Jahren, als viele afrikanische Staaten die Unabhängigkeit von ihren einstigen Kolonialmächten erlangten, wirkte Afrika und nicht Asien wie der Kontinent der Zukunft. Ein Kenianer war damals im Durchschnitt wohlhabender als ein Südkoreaner. Hätten sich die Hoffnungen erfüllt, dann würde ein Äthiopier heute vielleicht eine Tex- tilfabrik in Sri Lanka aufbauen. Doch es kam anders. Asien stieg auf, Afrika ab. Ausländische Kreditgeber wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds verschrieben den afrikanischen Regierungen harte Reformen. Sie sollten ihre Länder für den Weltmarkt öffnen. Gegen die internationale Konkurrenz jedoch konnten sich die heimischen Unternehmen nicht durchsetzen. Viele gingen pleite, Fabriken schlossen.
Heute konzentrieren sich die meisten afrikanischen Länder auf den Export von Rohstoffen und Agrarprodukten. Aber Kaffeefelder und Kupfer- minen bieten nicht genug Jobs für Millionen arbeitsfähige Menschen – ein Grund, weshalb sich so viele auf den langen Weg nach Europa machen. Was der Kontinent braucht, sind eine eigene In- dustrie und Investoren, die bereit sind, diese Industrie aufzubauen. Zum Beispiel in Äthiopien.
Die Textilindustrie, sagt Fasil Tadesse in seinem Büro, sei der Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung. Sie biete Arbeit für die breite Masse.
Der Kapitalismus
Als Mitte des 18. Jahrhunderts in Groß- britannien das einsetzte, was heute industrielle Revolution genannt wird, da war es tatsächlich die Textilindustrie, die den Anfang machte. Englische Manufakturen lieferten Hosen und Hemden bis nach Amerika und Indien. An- dere Länder folgten dem britischen Beispiel, immer mehr Textilfabriken entstanden. Die industrielle Revolution teilte die Erde in zwei Teile, die reichen und die armen Länder, und die Industriegesellschaften in zwei Klassen, die Arbeiter, die ihr Leben in den Fabriken ver- brachten, und die Kapitalbesitzer, denen die Fabriken gehörten.
Jahrhundertelang hatten die Menschen in handwerklichen Betrieben gearbeitet. Wenn sie eine Hose nähten, dann bedeutete das, sie nähten die ganze Hose, vom Bund bis zum Saum. Das konnte nicht jeder, man musste das Hand- werk erlernt haben. Nun aber kam es auf einmal nicht mehr auf den Menschen an, sondern auf die Maschine. Der Arbeiter musste nichts können, er musste nur die Maschine bedienen, er war bloß zuständig für einen kurzen Arbeitsschritt in einer langen Produktionskette. Eine neue Idee war geboren: die Fabrik.
Die industrielle Revolution schuf entsetzliche Ausbeutung, aber auch nie da gewesenen Reichtum. Sie gebar den Kapitalismus, aber auch die Arbeiterbewegung und den Wohlfahrtsstaat, der am Ende dafür sorgte, dass die Arbeiter reicher wurden, als es die Handwerker je gewesen waren.
Praktisch jedes wohlhabende Land der Welt ging irgendwann diesen Weg der Industrialisierung, und meistens machte die Textilindustrie den Anfang. Das neueste und erfolgreichste Bei-
spiel ist China. Bis vor Kurzem stammten sechs von zehn Kleidungsstücken auf dem Weltmarkt aus diesem einen Land. Millionen Menschen waren aus dem riesigen Reich in die südchinesischen Textilfabriken gezogen, um zu arbeiten. Sie machten Überstunden für Hungerlöhne, es gab Arbeiterinnen, denen ein Finger fehlte oder gleich die ganze Hand. Produktionsunfälle, für die sie niemand entschädigt hatte. Menschen stürzten sich von Fabrikdächern, weil sie monatelang kein Geld bekamen oder die Schufterei einfach nicht mehr aushielten.
China entwickelte sich zur Werkbank der Welt, an der bald nicht nur Hemden und Hosen entstanden, sondern auch Kinderspielzeug und Küchengeräte, Mobiltelefone und Flachbildschirme. Irgendwann gingen vielen Fabriken aufgrund der Ein-Kind-Politik die Arbeitskräfte aus, die Löhne stiegen, und die Arbeiter lernten, sich trotz aller Restriktionen zu organisieren. Das war der Moment, in dem die Textilindustrie nach neuen Produktionsorten suchte.
Die Näherin
In der Fabrik sitzt Tigist an ihrem Platz hin- ter der Maschine. Vor ihr liegt ein Stapel schwarzer Männerhosen für H&M. Tigist näht, linkes Bein, rechtes Bein, linkes Bein, rechtes Bein.
Die Nähmaschine hat Tigist am Anfang Angst gemacht. Sie war so schnell, so unbeherrschbar. »Sie rannte einfach weiter, sie rannte und rannte, blieb gar nicht mehr stehen, sie nähte weit über die Hose hinaus«, sagt Tigist. Jetzt, nach vier Monaten, hat sie gelernt, die Maschine zu zähmen. Sie hat auch gelernt, sich an die Regeln zu halten, die in der Fabrik gelten. Die Vorarbeiter haben sie den Näherinnen eingetrichtert, immer wieder, Tigist kann sie auswendig aufsagen, ohne auch nur einmal zu stocken.
Näh schnell.
Näh sauber.
Red nicht mit den anderen Näherinnen. Komm nicht zu spät. Wenn du viermal zu spät kommst, fliegst du raus.
Werd nicht krank. Für jeden Tag, den du fehlst, werden dir 135 Birr vom Lohn abgezogen, umgerechnet 4,14 Euro. Und du verdienst nur 35 Birr am Tag. Nur wenn du ein Attest vorlegen kannst, bist du entschuldigt, aber dafür musst du ins Krankenhaus. Das kostet 100 Birr, allein für die Aufnahme, und dann hast du noch keine Medizin.
Pass auf, dass dir keine Nadel ins Fleisch sticht.
Wenn es doch passiert, bleib sitzen. Warte, bis jemand kommt und dir die Wunde verbindet.
Du darfst deinen Platz in der Produktionslinie nicht verlassen, egal wie schlecht es dir geht.
Die Produktion darf nicht aufgehalten werden. Näh schnell.
Näh sauber.
Denk an nichts anderes.
Das sind die Regeln.
Linkes Bein. Rechtes Bein. Nächste Hose. Immer wenn Tigist sieben Hosensäume genäht hat, kommt der Qualitätsmanager an ihren Tisch. Er prüft die Nähte. Ist er zufrieden, hängt er ein Pappschild mit einem grünen lächelnden Gesicht an Tigists Nähmaschine.
Findet er einen Fehler, bekommt sie ein gelbes Gesicht, das nicht lächelt. Findet er zwei oder mehr Fehler, kriegt sie ein rotes Gesicht, das sehr unglücklich aussieht. Wer zu viele rote Gesichter hat, wird noch einmal geschult. Wer es dann immer noch nicht kann, fliegt raus.
Von den 14,99 Euro, die H&M in seinen Geschäften für die Hose verlangt, gehen etwa 80 Cent an das Unternehmen Indochine. Etwa 1 Cent pro Hose landet bei Tigist.
Der Fabrikleiter
Manchmal steht der Manager Kushaan an dem Geländer über der Werkshalle, schaut hinunter auf die rosa Kopftücher und überlegt, wie viel er den Frauen zumuten kann. Es ist ein feines Gleichgewicht. Übt er zu wenig Druck auf die Näherinnen aus, produziert seine Fabrik zu wenig Hosen. Übt er zu viel Druck aus, schaffen die Frauen die Arbeit nicht, sie machen Fehler, sie werden krank, sie bleiben zu Hause. Dann gerät die Produktion ins Stocken.
Auch jetzt geben jede Woche Näherinnen auf, vor Erschöpfung oder weil ihnen der Lohn zu niedrig ist. Aber noch kann Kushaan sie schnell ersetzen. Die Produktion läuft weiter.
Kushaan sagt, nicht jede Frau sei geeignet für die Arbeit in der Fabrik. Seine Trainer hätten mit dem Essenziellen beginnen müssen: »Hygiene, ein- und auschecken, acht Stunden sitzen.« Die Frauen hätten das alles nicht gekannt. Die meisten kämen direkt aus der Landwirtschaft. »Bauern arbeiten nie gegen die Uhr«, sagt Kushaan. »Sie stehen auf, wann sie wollen, und gehen ins Bett, wann sie wollen, hier aber arbeiten wir gegen die Uhr.«
Er sagt, wenn er alles zusammenrechne, die Schulung, den Lohn, die Kosten für den Fabrikbus, dann koste ihn eine Näherin umgerechnet 60 Euro im Monat, in Bangladesch seien es 110 Euro, fast doppelt so viel. Aber die Näherinnen in Bangladesch seien fast dreimal so effizient.
Wenn Kushaan Erfolg haben will, wenn er das erreichen will, wofür ihn die Headhunter zu Indochine holten, muss er die Effizienz erhöhen, möglichst schnell. Er sagt, Textilmanager aus Sri Lanka hätten einen guten Ruf, wenn es darum gehe, eine Fabrik zum Laufen zu bringen.
In zwei Monaten müssen 30000 Hosen für H&M fertig sein.
Der Funktionär
Fasil Tadesse sagt, der größte Standortvorteil Äthiopiens seien die Arbeitskräfte. Sie sind so billig. Äthiopien hat 100 Millionen Einwohner, Platz zwei in Afrika. Die meisten Menschen sind jung, die Bevölkerung wächst je- des Jahr um zwei bis drei Millionen. Und alle, die irgendwie arbeiten können, konkurrieren miteinander um Jobs. Also bieten sie ihre Arbeitskraft für wenig Geld an. Oder für noch weniger.
Tadesse sagt: »Die Gehälter werden auch in den nächsten 15 bis 20 Jahren sehr wettbewerbsfähig sein.«
Vorteil Nummer zwei: »Wir haben eine sehr stabile Regierung«, so Tadesse. Und diese Regierung unternehme alles, um die äthiopische Industrie zu stärken. Mit neuen Berufsschulen und neuen Universitäten, mit neuen Krankenhäusern und neuen Gesundheitsstationen. Und einer neuen Eisenbahnverbindung zum Hafen des Nachbarlandes Dschibuti. Äthiopien hat keinen Zugang zum Meer. Die Textilfabriken brauchen Stoffe, Fäden, Knöpfe, Reißverschlüsse. All das kommt über Dschibuti ins Land.
Die Regierung, die Tadesse als »stabil« lobt, ist in Wahrheit ein autoritäres Regime, das nach den Parlamentswahlen 2015 erklärte, 99 Prozent der Stimmen erhalten zu haben. Seither sitzt kein einziger Oppositioneller mehr im Parlament. Angeblich arbeitet jeder fünfte Äthiopier für den Geheimdienst, das erzählen sich die Menschen hier. Das Land hat also schon jetzt einiges mit dem großen Vorbild China gemein.
Die Chinesen wissen das zu schätzen: China baut in Äthiopien Straßen, Industrieparks und Eisenbahnstrecken. China hat in Addis Abeba das Hauptquartier der Afrikanischen Union errichtet. China gewährt der äthiopischen Regierung viele Kredite.
Der Fabrikleiter
Ein Manager, der seine Arbeiter dazu bringen will, schneller, besser zu arbeiten, muss nicht unbedingt den Druck steigern. Er könnte, rein theoretisch, auch die Löhne erhöhen, er könnte Sonderzahlungen in Aussicht stellen, als zusätzliche Motivation. Kushaan sagt, er kümmere sich um die Rechte aller Angestellten, er wolle fair zu jedem sein, aber höhere Gehälter seien nicht geplant. »Wir gehen da gemeinsam mit der Regierung vor.«
In einem Land, das weniger autoritär regiert wird als Äthiopien, hätte die Regierung nichts mit der Lohnentwicklung zu tun. Gewerkschaften würden für bessere Gehälter streiten, die Arbeiterinnen würden vielleicht streiken. In Äthiopien aber unterliegen auch die Gewerkschaften der Kontrolle der Regierung. Und die Regierung will nicht, dass die Löhne steigen.
Der Vorarbeiter
Es ist ein Vormittag vor der Spätschicht. Tigist sitzt mit zwei Kollegen in einem Café, einer jungen Frau und einem jungen Mann, Plastikstühle, Plastiktisch, ein Sonnenschirm. Die Frau ist Näherin in der Fabrik, so wie sie. Der Mann ist der Vorarbeiter, der die beiden beaufsichtigt. Auch das ist in fast allen Textilfabriken so, fast überall auf der Welt: An den Nähmaschinen sitzen Frauen. Die Aufpasser sind meist Männer.
Zu den Aufgaben des Vorarbeiters gehört es, dafür zu sorgen, dass die Näherinnen die Zielvorgaben erreichen. Nähen die Frauen zu langsam, schreien die Submanager die Vorarbeiter an. Wie der Fabrikleiter Kushaan kommen auch die Submanager aus Sri Lanka.
Wenn die Näherinnen die Fabrik nach Schichtende verlassen wollen, müssen sie sich in eine lange Schlange stellen. Sie werden dann kontrolliert, damit sie keine Kleidungsstücke stehlen. Erst neulich, sagt der Vorarbeiter im Café, habe er beobachtet, wie einer der Submanager eine Näherin, die nicht ordentlich in der Schlange stand, am Hals gepackt und zurückgestoßen habe.
Der Vorarbeiter sagt, wenn die Submanager sie, die Vorarbeiter, anschrien, dann meinten sie: »Erhaltet den Druck aufrecht!«
Und deshalb schrien die Vorarbeiter dann die Näherinnen an.
Am Anfang, sagt der Vorarbeiter, seien die meisten Arbeiterinnen in der Fabrik aus der Stadt gekommen. Inzwischen aber sei in Awassa fast niemand mehr bereit, diese Arbeit für diesen Lohn zu übernehmen.
Die Näherin
Tigist hat lange geschwiegen bei diesem Gespräch im Café. Jetzt aber wiegt sie den Kopf. Die Arbeiterin Tigist, die umgerechnet kaum mehr als einen Euro am Tag verdient, versucht zu erklären, warum sie so froh ist um die Arbeit in der Fabrik.
Tigist ist nicht aus der Stadt, sie kommt vom Land, aus einem Dorf, 40 Kilometer von Awassa entfernt. Ihre Eltern sind Bauern, sie pflanzen Mais, Bohnen, Kaffee und Zierbananen an, sie haben ein paar Schafe und Ziegen. Es ist gerade genug, um die neun Kinder zu ernähren. Und wäre Tigist im Dorf geblieben, dann hätte sie wohl dieses Leben weitergeführt, was hätte sie auch tun sollen?
Aber Tigist blieb nicht.
Sie sagt mit fester Stimme: »Ich wollte nie so werden wie sie. Wenn du ein Mädchen bist, zwingen sie dich, früh zu heiraten. Manchmal schon mit zwölf. Das ist nicht erlaubt, aber sie müssen es trotzdem tun. Und bevor sie je ein eigenes Leben hatten, bekommen sie Kinder.«
Eine Freundin erzählte Tigist von dem Industriepark in der Stadt, von den Fabriken und der Arbeit an den Nähmaschinen. Tigist beschloss zu gehen.
Tigist sagt, natürlich hätte sie gerne einen höheren Lohn. Aber viel wichtiger sei etwas anderes: dass sie überhaupt Geld verdiene. Eigenes Geld, zum ersten Mal in ihrem Leben. Das Leben in der Stadt sei viel besser als das Leben auf dem Land, sagt sie. Sie habe jetzt mehr Freiheit. Sie könne ihren freien Tag so verbringen, wie sie es wolle.
Was das bedeutet? Tigist kichert und sagt lange nichts. »Sonntags gehe ich in die Kirche. Und danach manchmal spazieren. Später müssen wir unsere Kleider waschen.«
Der Manager Kushaan hatte gesagt, die Textilindustrie habe in allen Ländern die Geschlechterverhältnisse verändert. Sobald eine Frau Kaufkraft habe, wandle sich ihr Status. Wenn man neue Arbeiterinnen suche, werbe man daher mit einem Traum: der emanzipierten afrikanischen Frau.
Der Kapitalismus
Auch nach der industriellen Revolution lebten Millionen Menschen über viele Jahrzehnte ein Leben fern des Kapitalismus. Die Marktwirtschaft, sie breitete sich nur langsam aus, und halbe Kontinente versuchten andere, meist sozialistische Wege zu gehen. Heute aber ist der Weltmarkt fast überall, er reicht bis in die Sahara und das Amazonasbecken, er hat die Arktis und den Himalaya erfasst. Das macht es für arme Länder zunehmend schwierig, einen alternativen Weg der Entwicklung zu gehen. Ein riesiges Land wie China ist mächtig genug, die Spielregeln in seinem Sinne zu dehnen, zumindest ein Stück weit. Ausländische Investoren wussten zum Beispiel, dass die Chinesen ihre Produkte kopieren würden. Die Investoren kamen trotzdem.
Äthiopien kann das nicht. Es gibt auf dem Weltmarkt schwache und starke Akteure, und manche werden immer stärker. Die großen Konzerne zum Beispiel, die sich immer neue Marken einverleiben und sich zu noch größeren Konzernen zusammen- schließen. Sie entscheiden, wo sie ihre Produkte herstellen lassen. Sie bestimmen, wo Arbeitsplätze entstehen und wo sie verschwinden.
Womöglich wird Äthiopien tatsächlich das China Afrikas, wie der Funktionär Fasil Tadesse es sich vorstellt. Womöglich aber ergeht es Äthiopien auch wie einem anderen Land, dessen Regierung einst glaubte, den Weg zum Reichtum gefunden zu haben, als in seiner Hauptstadt die ersten Textilunternehmen eröffneten. Heute gibt es in Bangladesch Tausende Unternehmen, die Kleidungsstücke für westliche Konzerne produzieren. Aber das Land und die Näherinnen sind immer noch arm. Bangladesch hat es nicht geschafft, den nächsten Schritt zu gehen und in die Herstellung höherwertiger Produkte ein- zusteigen. Vielleicht, weil die Regierung es nicht fertigbrachte, Investoren anzulocken. Vielleicht weil die Investoren kein Interesse hatten an diesem unbedeutenden Land.
Die Näherin
Manchmal, nach Schichtende, geht Tigist zu den anderen Näherinnen und lässt sich zeigen, wie man die restlichen Teile einer Hose näht. Den Bund, die Taschen, die innere und die äußere Seitennaht. »Dann übe ich«, sagt Tigist. Irgendwann werde sie genug Geld zusammengekratzt haben. Und dann werde sie ein kleines Unternehmen gründen, ohne Manager, ohne Vor- arbeiter, die sie anschreien. Sie wird dann ihr eigener Chef sein, mit ihrer eigenen kleinen Näherei. Ein Stuhl, ein Tisch, eine Nähmaschine.
Der Fabrikleiter
Eine letzte Frage an den Manager Kushaan, der von sich sagt, Fabriken aufzubauen sei seine Leidenschaft. Könnten hier, in dieser Halle, anstelle Hunderter von Frauen eines Tages Roboter die Hosensäume nähen? Roboter, die keine Fehler machen und keinen Lohn verlangen? Roboter, die die endlose Suche nach einem neuen, billige- ren Standort für immer beenden?
Kushaan schüttelt erst mal den Kopf, dann über- legt er eine Weile. Er schaut auf die Nähmaschinen und die Näherinnen, auf die Hunderte rosa Punk- te unten in der Fabrik. Er lächelt und sagt: »Das wäre ja wie im Film … Aber warum eigentlich nicht?«
Veröffentlicht im Dezember 2017 in Zeit Dossier
–