Die chinesische Regierung lädt zu einer seltenen Propagandareise nach Tibet. Was gibt es dort zu sehen?
Zhaxigang. Ein Dorf, so idyllisch, als wäre es einem Katalog entsprungen. Großes Bergpanorama. Wildflüsse und Schlüsselblumen, schwarze Schweine, die in Handtaschen passen könnten, Almduft, so frisch, dass man ihn in Flaschen konservieren möchte. „Herrlich“, schwärmt die hanchinesische Touristin. „Und die Tibeter, so freundlich, gar nicht so wild und barbarisch, wie immer erzählt wird.“
Zhaxigang liegt in der Präfektur Linzhi, im Osten der Autonomen Provinz Tibet. Einst war dies ein abgeschotteter Flecken Erde, erzählt der lokale Parteisekretär, ein Ort, an den man Kriminelle abschob. Dann aber baute die Regierung Straßen und einen Flughafen, förderte den Tourismus. Seither geht es bergauf. Die Schweiz des Ostens nennen sie es hier, doch der Parteisekretär ist der Ansicht, die Schweiz solle sich lieber das Linzhi des Westens nennen. „Na gut, die Schweizer haben keine Höhenkrankheit. Doch darüber sollen die Touristen nicht schimpfen: Höhenkrankheit ist eine touristische Erfahrung!“
Zhaxigang, erstes touristisches Modelldorf der Region, ein Weiler voll bunter tibetischer Bauernhäuser, ein jedes hat die chinesische Flagge gehisst. In einem von ihnen wohnt Pingzuo, 67, einer der freundlichen Tibeter. Er hat seine Geschichte schon oft erzählt, im chinesischen Staatsfernsehen etwa. Und all den Besuchern aus Medien, Wirtschaft und Politik, deren Visitenkarten er stolz in seiner Wohnküche ausgestellt hat. An der Wand hängt ein Porträt des jungen Mao. „10.000 Jahre soll er leben!“, ruft Pingzuo. Und damit Mao nicht allein ist, ziert den Ehrenplatz ein Poster der einstigen Führer Mao, Deng, Jiang und Hu, umringt von singenden und tanzenden Tibetern.
Einst war Pingzuo ein bettelarmes Bauernkind: „Vater und Mutter vom Großgrundbesitzer erschlagen, weil sie ihm weniger Getreide lieferten, als er verlangte.“ Vor 17 Jahren erreichten hanchinesische Touristen das Dorf, sie fragten ihn, ob sie bei ihm wohnen könnten. So kam das eine zum anderen. Er eröffnete ein Hotel, führte die Touristen auf Wanderungen, lieh ihnen seine Tracht. „Da waren sie glücklich.“ Inzwischen hat sich fast das ganze Dorf auf Touristen spezialisiert, 50 der 66 Haushalte. Insgesamt bieten sie 800 Betten an, und bald sollen es noch mehr werden. 200.000 Yuan macht Pingzuo in guten Jahren, umgerechnet fast 25.000 Euro, sein Dorf ist eines der reichsten Tibets. „Was für eine großartige Entwicklung“, ruft er, mittlerweile Parteimitglied, „dafür danke ich der Partei!“
Pingzuo hat seine Geschichte gut erzählt, doch nur für den Fall, dass es, sagen wir, Missverständnisse geben sollte, sitzen acht Aufpasser von der Regierung neben den drei deutschen Journalisten. „Die Menschen in Tibet verehren Mao noch viel mehr als die im Rest Chinas“, sagt einer. „Für viele ist er ein Bodhisattwa. Kommunisten und Buddhisten, wollen sie nicht beide das Gute für den Menschen?“
Für gewöhnlich ist es ausländischen Journalisten untersagt, in die Autonome Provinz Tibet zu reisen. Es sei denn, es ereilt sie eine der seltenen und heiß begehrten Einladungen der chinesischen Regierung, an einer geführten Tour teilzunehmen. Ein Schauspiel zu erleben, wie es nur ein äußerst mächtiger und reicher Regisseur zu inszenieren vermag: die Regierung der Volksrepublik China. Das Stück ist eine furiose Erfolgsgeschichte, sie könnte den Untertitel tragen: „Wie die Partei den Tibetern Wohlstand und Wachstum bringt. Umweltfreundlich. Nachhaltig. Sozial. Mit Respekt vor kulturellen Eigenheiten“. Die Wirtschaft in Tibet wächst so schnell wie sonst fast nirgends im Land, um 12 Prozent im Jahr. Die Partei schenkt den Tibetern das Glück.
Man könnte behaupten, dass auch Tibet der Partei ein wenig Glück schenkt. Auf Mandarin heißt Tibet Xizang, „Schatzhaus des Westens“. Seine strategische Lage ist für China von größter Wichtigkeit. Gletscher und Hochland der Qinghai-Tibet-Hochebene speisen alle großen Flüsse Asiens, den Brahmaputra und den Mekong, den Jangtse und den Indus, den Gelben Fluss und den Saluen. Das ist für ein Land, in dem viele Regionen unter Wassermangel leiden, von unschätzbarem Wert. Die Provinz ist reich an Bodenschätzen.
„Das Leben wird immer besser“
Die Geschichte, die uns auf dieser Reise erzählt wird, steht in krassem Gegensatz zu einer anderen Geschichte, die ein großer Teil der Welt so viel besser kennt. Die Geschichte des Dalai Lama, der 1959 nach Indien floh. Der zahlreichen Aufstände, die letzten großen ereigneten sich im Jahr 2008, kurz vor den Olympischen Spielen. Der 120 Tibeter, die sich in den vergangenen vier Jahren selbst anzündeten. Kurzum: Es gibt eine Geschichte, die die Partei gerne vergessen machen möchte. Und sie strengt sich dabei mächtig an.
Wir werden auf unserer Reise glückliche Bauern und Nomaden treffen, zufriedene Ärzte, Unternehmer, Professoren und Maler. Und immer wieder werden wir den Satz zu hören bekommen: „Das Leben wird immer besser!“ Wir werden Tänzer bewundern, die ihre Sprünge vor einem Plakat absolvieren, das sie ermahnt, „den Geist des 18. Parteitags zu verkörpern“. Wir werden das mustergültige Dorf besuchen, in dem sie „friedliche“ oder „Fünf Sterne“-Haushalte küren. Wer sich streitet oder nicht vor der Haustür fegt, bekommt Stern-Abzug. Wir werden so gut wie keine Soldaten zu Gesicht bekommen. Die unzähligen Soldaten und Sicherheitskräfte, die Lhasa für gewöhnlich bevölkern, hat die Regierung vorsorglich in Zivilkleidung verpackt, damit sich die handverlesenen Journalisten- und Diplomatengruppen nicht daran stören. Auf der langen Strecke von Linzhi nach Lhasa werden wir hübsch herausgeputzte Häuser passieren, fast jedes hat die chinesische Flagge gehisst. Eine Provinz voller Patrioten.
„Glaubt bloß nicht, dass nur die Häuser an der großen Straße so aussehen! Dass alles nur Show ist! Überall leben die Tibeter in so schönen Häusern“, sagt in Lhasa Pemba Tashi, Vizegouverneur der Provinz, ein Tibeter. Er setzt zu einem langen leidenschaftlichen Vortrag an. Das alte Tibet? Rückständig und dunkel wie das mittelalterliche Europa. „Fünf Prozent hatten alles und 95 Prozent nichts.“ Die Gesundheitsversorgung war katastrophal, die wenigsten Kinder gingen zur Schule, es gab keine Straßen, und wer 30 wurde, galt schon fast als Alter.
Heute aber! Liegt das Durchschnittsalter bei 67, und so gut wie alle Kinder gehen zur Schule. Die Wirtschaft blüht, das Pro-Kopf-Einkommen ist in zehn Jahren auf mehr als das Dreifache gestiegen, von 6.117 Yuan im Jahr 2002 auf 22.936 Yuan im Jahr 2012. Die Bewohner Lhasas gelten laut dem nationalen Glücksindex als die glücklichsten des Landes, verwöhnt von allerlei Begünstigungen. Tibetische Schüler kommen leichter auf Universitäten. Tibetischen Uni-Absolventen verspricht die Regierung eine Jobgarantie. Überall gibt es jetzt neue Flughäfen, und schon bald wird die Eisenbahn nach Shigatse gebaut sein. „Kommt das alles vom Himmel?“, ruft der Vizegouverneur voll Begeisterung. „Nein, das ist das Werk der Kommunistischen Partei!“
„Glaubt bloß nicht, dass nur die Häuser an der großen Straße so aussehen! Dass alles nur Show ist! Überall leben die Tibeter in so schönen Häusern“, sagt in Lhasa Pemba Tashi, Vizegouverneur der Provinz, ein Tibeter. Er setzt zu einem langen leidenschaftlichen Vortrag an. Das alte Tibet? Rückständig und dunkel wie das mittelalterliche Europa. „Fünf Prozent hatten alles und 95 Prozent nichts.“ Die Gesundheitsversorgung war katastrophal, die wenigsten Kinder gingen zur Schule, es gab keine Straßen, und wer 30 wurde, galt schon fast als Alter.
Heute aber! Liegt das Durchschnittsalter bei 67, und so gut wie alle Kinder gehen zur Schule. Die Wirtschaft blüht, das Pro-Kopf-Einkommen ist in zehn Jahren auf mehr als das Dreifache gestiegen, von 6.117 Yuan im Jahr 2002 auf 22.936 Yuan im Jahr 2012. Die Bewohner Lhasas gelten laut dem nationalen Glücksindex als die glücklichsten des Landes, verwöhnt von allerlei Begünstigungen. Tibetische Schüler kommen leichter auf Universitäten. Tibetischen Uni-Absolventen verspricht die Regierung eine Jobgarantie. Überall gibt es jetzt neue Flughäfen, und schon bald wird die Eisenbahn nach Shigatse gebaut sein. „Kommt das alles vom Himmel?“, ruft der Vizegouverneur voll Begeisterung. „Nein, das ist das Werk der Kommunistischen Partei!“
Die Regierung traut dem Frieden nicht. Auf den Dächern wachen Scharfschützen
Der subventionierte Aufschwung soll vor allem die politische Loyalität der Tibeter sichern. Kann Wohlstand Wohlverhalten kaufen?
Die Politik will die Tibeter durch positive Diskriminierung fördern
Die Regierung traut dem Frieden offenbar selbst nicht ganz, so viel wird auf dieser orchestrierten Reise klar. Der Barkhor-Platz in Lhasa etwa, auf dem sich die beiden Männer anzündeten, ist abgeriegelt wie ein Flughafen, an jedem Eingang eine Sicherheitsschleuse. Auf den Dächern rings um den Platz stehen Männer unter Sonnenschirmen. Wir wissen, dass es Scharfschützen sind. „Was machen die da?“, fragen wir so unschuldig wie möglich. „Ach, das sind nur Gäste, die in Restaurants sitzen“, antwortet unser Bewacher, „im Sommer ist es hier draußen so gemütlich.“ Im Jokhang-Tempel und im Potala-Palast sehen wir viele Feuerwehrleute. Sie wurden eingesetzt, das hat die Nachrichtenagentur Xinhua einst stolz gemeldet, um Selbstverbrennungen zu stoppen. Uns hingegen erzählt man: „Das ist wegen der vielen Räucherstäbchen.“ Derzeit beraten Pekinger Experten die Stadtverwaltung von Lhasa. Die Stadt wird in Raster unterteilt, in jedem wachen mit Smartphones ausgerüstete Spitzel, die Verdächtige filmen und Informationen an Zentralen weiterleiten. Schon bald, gelobte das zuständige Politbüromitglied Yu Zhengsheng, werde es diese Art der Überwachung in vielen tibetischen Städten geben, „um eine eiserne Bastion zu schaffen“.
Auf dem Weg von Linzhi nach Lhasa halten wir an einem Nomadenzelt. Kinder schlagen Purzelbäume im Gras, hyperaktive Nagetiere namens Abra, eine Mischung aus Hamster und Maus, springen umher. Vor dem Zelt wartet die Nomadin Semu mit ihrem Säugling. Im Sommer, erzählt sie, ziehen sie mit ihrem Zelt und 70 Yaks durch das Grasland. Den Winter verbringen sie im Haus. Dort haben sie Anschluss an Strom, Schule und Krankenstation.
Seit 2006 hat die Regierung laut einem Bericht von Human Rights Watch allein in der Autonomen Provinz Tibet zwei Millionen Nomaden angesiedelt. An manchen Orten profitieren die Nomaden von der Politik, sie müssen ihre traditionelle Lebensweise nicht aufgeben. Anderswo, vor allem in der Provinz Qinghai, werden sie oft gegen ihren Willen in „Neuen Sozialistischen Dörfern“ angesiedelt und zur Sesshaftigkeit gezwungen. Sie sind auf das Leben in den Siedlungen weder vorbereitet, noch sind sie ausgebildet, viele der Älteren sind Analphabeten. Einst lebten sie autark im Grasland, jetzt sitzen sie untätig in ihren Häusern und warten auf das Geld der Regierung. Sie bilden die neue urbane Unterschicht.
Die Menschen in der neuen Siedlung mögen mehr Geld haben, was aber nutzt es ihnen, wenn sie zurück in ihr altes Leben wollen und doch nicht können? Wie viel ist Wohlstand wert, wenn es keine Selbstbestimmung gibt? Und was bringt es Menschen, wenn sie zwar mehr verdienen, sich aber als Ausgegrenzte im eigenen Land fühlen?
Abends in Lhasa schleichen wir uns aus dem Hotel. Die meisten Taxifahrer, die wir treffen, sind Hanchinesen aus der Provinz Henan. „Ja“, erzählt uns einer, „wir schmeißen hier größtenteils das Taxigeschäft.“ Die Politik will die Tibeter durch positive Diskriminierung fördern, die Realität des Wirtschaftslebens konterkariert das oft. „Die Hanchinesen kontrollieren große Teile der Wirtschaft“, sagt die tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser. Die meisten Bosse, Handwerker, Minenarbeiter sind Zugereiste. Sie haben das Geld, die Kontakte, die Netzwerke. „Sie verdrängen die Tibeter sogar vom Markt des traditionellen Handwerks. Die tibetischen Schreiner arbeiten mit Holz und in Handarbeit, das ist teuer.“ Hanchinesen hingegen stellen die Möbel oft maschinell und aus Sperrholz her. Hanchinesen fertigen für hanchinesische Touristen. In tibetischem Design.