Dakar, mon amour

@Christian Bobst
Elegant und fromm, dreckig und dreist – Liebeserklärung an eine wunderbare Stadt

Ah, diese Eleganz. Man begegnet ihr selbst dort, wo man es nicht erwartet. An den Rändern Dakars, wo die Stadt ausfranst und die Häuser keine Fassaden haben. Wo sich Pferdekarren unter die Autos mischen und die Luft nach Staub schmeckt. Es sind die Viertel, deren Bewohner sich stundenlang in überfüllte Busse zwängen müssen, um einem Job im Zentrum nach- zugehen – wenn sie denn einen haben. Viele schlagen sich halt so durch, doch wer wollte sich das ansehen lassen?

Durch die Gassen schreiten Damen, die aussehen, als seien sie zu einem Empfang geladen, da- bei kaufen sie nur die Dinge des Alltags ein. Die Kleider maßgeschneidert, die Tücher kunstvoll um den Kopf gewunden. Make-up, Perücke, Maniküre, alles sitzt perfekt und wird durch die stolze Haltung, den wiegenden Gang in Szene gesetzt. Jongué heißt die senegalesische Kunst der Verführung. Eleganz ist hier kollektive Obsession. »Sich gut anziehen ist wichtiger als essen« besagt ein Sprichwort der Wolof, der größten Ethnie des Landes. In den Nachbarländern schaut man bewundernd bis augenrollend auf die senegalesischen Snobs. Lästert – um sich dann ein Kleid beim zugewanderten senegalesischen Couturier zu bestellen.

Es leben in dieser Stadt viele schöne Menschen. Abends, wenn sich die Strände in ein riesiges Outdoor-Studio verwandeln, ringen, pumpen und keuchen sie sich in Form. Doch ist Eleganz mehr als nur eine Frage der guten Figur, herrscht hier doch eine Kultur des geflügelten Wortes, des char- manten Kompliments, des federleichten Schlagabtausches.

Dakar, Hauptstadt des Senegal, etwa drei Millionen Einwohner. Was für eine Stadt! Atemberau- bend schön und sinnenbetäubend schmutzig. Auf drei Seiten von Meer umgeben, wiegt, liebkost und umschmeichelt sie dich, nur um dich dann gnadenlos anzuschnorren. Am Mittag erschlägt sie dich mit Hitze und Wüstenstaub, am Abend verführt sie dich mit Stränden und Sonnenuntergängen.

Das Schöne und Gelingende, Gleichgültigkeit und Vernachlässigung, sie liegen hier oft nah bei- einander. Wo endet religiöse Hingabe, und wo beginnt politische Apathie? Was ist noch Toleranz und was bereits Gleichgültigkeit? Bisweilen geht das eine oszillierend in das andere über. Dakar, das sind leuchtend bunte Farben vor dem Staubgelb des Sahel. Die Bougainvilleen und Flamboyants, die Frangipani und Baobab-Bäume, aus deren Kronen abends die Fledermäuse aufsteigen. Die bunt getünchten Holzboote, die Pirogen, mit denen die Fischer aufs Meer fahren. Die aufwendig bemalten

Busse, die sich in den Verkehr stürzen, in dem alles, was noch irgendwie auf vier Rädern vorankriechen kann, unterwegs ist – gerne auch nachts ohne Licht auf der Autobahn. Die Milane, die abends so zahlreich über der Küste kreisen, dass man glauben könnte, Alfred Hitchcock habe sie geschickt. Die Surfer, die über die Atlantikwellen gleiten, die Schafe, die in manchen Vierteln vor jedem Haus- eingang mähen. Die Koranschüler, die mit zerlumpten Kleidern an den Straßenkreuzungen bet- teln, die Jeunesse dorée, die sich an den Pools der Luxushotels vergnügt. Dakar ist die Stadt der Wun- derheiler und Jungunternehmer, der Studenten und fliegenden Händler, die sich für ein paar Euro am Tag durch den Verkehr schlängeln, um Cashew- nüsse, Heiligenbilder und Rattengift feilzubieten.

Dakar, das ist ein Soundteppich, aus unzähligen Klängen gewoben. Hip-Hop, Afrobeat, Mbalax, Allahu Akbar, von jedem Minarett in anderer Intonation gerufen, das Hämmern der Handwerker, das Rufen der Kinder, das Lachen der Plaudernden, die sich um eine Kanne Attaya versammelt haben, den schäumenden, pappsüßen grünen Tee. Das Tschilpen der Vögel – die westafrikanische Küste ist ein Paradies für Ornithologen.

Dakar ist hedonistisch und tiefreligiös, 95 Prozent der Senegalesen sind Muslime. Es gibt die Gläubigen, die die Nächte in der Moschee durchsingen, und die Feierwütigen, die sie durchtan-zen. Man trifft französische Tauchlehrer und Osteopathen, libanesische Geschäftsleute, chinesi-sche Unternehmer, peruanische Logistikexpertinnen, marokkanische Investoren und indonesische Kamerafrauen. Man begegnet viel polyglottem, bestens ausgebildetem Volk. Fast alle Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen, die in Westafrika tätig sind, haben hier ihren Sitz. Ihre Mitarbeiter sind meist Idealisten, gar nicht so selten aber hört man nach ein paar Gläsern Wein ihre Zweifel: Ist es sinnvoll, was wir hier machen? Profitiert davon nicht vor allem eine Elite, die sich im Strom ausländischer Zuwendungen bequem eingerichtet hat? Hilft die internationale Hilfsindustrie nicht vor allem auch sich selbst?

Man trifft Studenten aus allen Teilen des frankofonen Afrikas – die Universität gilt als eine der besten des Kontinents, sie war die erste, die die französischen Kolonialherren in ihrem afrikani- schen Reich errichteten. 1857 gründeten sie Dakar auf der Cap-Vert-Halbinsel, auf der sich bereits eine Siedlung des Fischervolkes der Lebou befand. 1902 machten sie sie zur Hauptstadt ihres afrikanischen Kolonialreiches, die Einwohner galten als französische Staatsbürger. 1960 entließen die Franzosen die Senegalesen in die Unabhängigkeit. Nun, vielleicht nicht so ganz, selbst die Währung – der westafrikanische Franc – kommt per Flugzeug aus Frankreich eingeflogen. Französische Unterneh- men ziehen absurd überteuerte Staatsaufträge an Land, das Volk murrt über Korruption und malt immer öfter France dégage, »Hau ab, Frankreich«, an die Hauswände. Französischen Rentnern ist das Land Winterdomizil, den Jungen Abenteuerspielplatz. Die Senegalesen begegnen dem meist mit freundlicher Gleichgültigkeit – man hat zur Kolonialzeit gelernt, sich abzugrenzen.

Der Dichter Leopold Senghor, erster Präsident des unabhängigen Landes, träumte von einem afri- kanischen Athen und machte Dakar zur Hauptstadt von Kunst zu Kultur. Er, der als Freund Charles de Gaulles für eine enge Bindung an Frankreich stand, feierte die Négritude. Dakar wurde zu einem Sehnsuchtsort der weltweiten schwarzen Intelligenzija. Senghor gab fantastische modernisti- sche Gebäude in Auftrag, die den himmelfahrenden Optimismus jener Zeit spiegelten. Afrika, glaubten damals viele, werde der Kontinent der Zukunft. Doch der Aufschwung blieb aus. Mit den Jahren fingen die Gebäude den Staub des Sahelsan- des, in den 1970er-Jahren erfasste die Krise das Land. Die Erdnussbauern verließen ihre Schollen – arachides waren stets das erste Exportgut des Landes gewesen. Erst zogen sie in die Städte und dann in die Welt hinaus.

Afrika urbanisiert sich rasant, fast nirgends aber wird das von einer Industrialisierung im großen Stil begleitet. Es gibt nur wenige reguläre Arbeitsplätze. 97 Prozent der Unternehmen im Senegal sind inoffiziell. Mit einem landesweiten Durchschnittseinkommen von 1300 Euro pro Kopf im Jahr ist Senegal im globalen Vergleich auf dem Weg in die untere Mittelschicht. Vielen ist das zu wenig. Laut einer Umfrage des Institut fondamental d’Afrique noire (Ifan) aus dem Jahr 2017 wollen 75 Prozent der Senegalesen zwischen 15 und 35 Jahren gerne auswandern.

Paradoxerweise ist Dakar eine Stadt sowohl der Stagnation als auch des Aufbruchs. Große Teile der Bevölkerung mögen davon nicht viel mitbekommen, doch die Wachstumsraten sind hoch, im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft um sieben Prozent.

Der Bauboom ist nicht zu stoppen, es gibt neue Autobahnen, vor den Toren Dakars entsteht eine komplett neue Stadt. Offshore-Öl- und Gasfelder lassen Hoffnung, aber auch Unbehagen wachsen – der Bruder des Präsidenten ist in einen Korruptionsskandal um die Vergabe der Bohrlizenzen verwickelt.

Den Anspruch, kulturelles Zentrum des franko- fonen Westafrikas zu sein, hat Dakar nie aufgege- ben. Er verschaffte ihr eines der kuriosesten Wahr-

zeichen, das Monument der afrikanischen Renais- sance, die größte Statue des Kontinents. Ein nordkoreanisches Unternehmen baute sie für 27 Millionen US-Dollar, offensichtlich goutieren auch hiesige Machthaber deren Monumentalstil. Mit heroischem Blick schaut eine für muslimische Verhält- nisse sehr freizügig gekleidete Familie auf das Meer. Tausende hatten vor ihrer Einweihung im Jahr 2010 gegen das »schreckliche Monument« protestiert. Im vergangenen Jahr wurde das von den Chinesen gebaute Museum für schwarze Zivilisation eröffnet. Wie überall auf dem Kontinent hat China Kredite für Bauprojekte gewährt und diese gleich ausgeführt.

Die größte Hoffnung aber verbreiten die Jun- gen, die nach dem Auslandsstudium zurückkehren. Oder von vornherein beschlossen haben, ihr Leben hier aufzubauen, obwohl es anderswo vielleicht leichter wäre. Die Produzentin und Drehbuchautorin Kalista Sy, 34, zum Beispiel, eine energische Frau, die mit Mätresse eines verheirateten Mannes die derzeit populärste Serie des Landes geschrieben hat – und sich dabei auf die Protokolle von Therapeuten stützte.

Sie malt ein Dakar der schicken Restaurants und Neubauwohnungen, eine Mittelklasse mit ih- ren Träumen, Traumata und Neurosen. »Wir haben genug von dem Zerrbild des Armuts- und Ka- tastrophenkontinents, das Europäer gerne zeichnen«, sagt sie. »Wir wollen ein würdevolles Afrika zeigen. Wir wollen, dass unsere Zuschauer sagen: Ich will es hier schaffen.«

Zugegeben: Es gibt Dinge, die klappen in Dakar weniger gut als anderswo. Dazu gehört eine funktionierende Müllbeseitigung, überhaupt mangelt es an Umweltbewusstsein. Und fragen Sie nicht, wie schwer es sein kann, jemanden zu finden, der wirklich ein Rad reparieren kann. Anderes funktioniert ziemlich gut.

Frieden zum Beispiel. Der Senegal gilt als Stabilitätsanker in einer instabilen Region, hier gab es weder Putsch noch Terroranschlag, die Angehörigen der Ethnien und Religionen leben friedlich miteinander – auch ein lange Zeit gewaltsam ausgetragener Konflikt in der südlich gelegenen Casamance ist weitgehend beruhigt. Obwohl der Senegal mit Sklaverei und Kolonisierung sicher nicht die besten Seiten des Westens erfahren hat, habe ich hier nie Hass erlebt – auch nicht gegenüber Zuwanderern aus ärmeren Nachbarstaaten. Das ist in einer Welt, in der die Wut allerorten zuzunehmen scheint, ziemlich erstaunlich.

Faszinierend ist, wie sich die Gesellschaft im Kleinen organisiert. Die Frau, die vor der Moschee mit vielen Kindern auf einer Matte sitzt und die ich anfangs für eine Bettlerin gehalten habe, ist die Kindergärtnerin des Quartiers. Die Rollstuhlfahrer haben sich – der knochenharten Konkurrenz zum Trotz – zusammengeschlossen, um gemeinsam zu betteln. Überraschend ist, dass es in einem Land, in dem so viele Arme und Arbeitslose leben, so wenig Kriminalität gibt. Es wird sehr wenig geklaut – na ja, irgendwie schon, aber, wie ein Freund gerne sagt, »nur mit dem Mund«.

Denn es gibt Tage, da erscheint mir Dakar wie die Weltkapitale der Schnorrer. Das ist jetzt ein bisschen ungerecht, denn natürlich wohnen hier auch all die vielen anderen. Leute, die hart arbeiten und echte Freunde sind. Gemeint sind auch nicht die wirklich Bedürftigen. Die Schnorrer wollen: ein besseres Handy; Urlaub in Deutschland machen, obwohl sie sich das nicht leisten können; Geld, um eine dritte Frau zu heiraten. Damit der potenzielle Wohltäter nachgibt, muss der Schnor- rer ihn weichkochen, sein Anliegen stetig und in anschwellender Dringlichkeit wiederholen, er muss ihn fatiguer, ermüden.

Opfer dieser Strategie sind in erster Linie Senegalesen selbst. In einem Land, in dem viele Men- schen kein Einkommen haben und es schwierig ist, einen Kredit aufzunehmen, wendet man sich an Onkel, Freunde oder Nachbarn – wobei »Kredit« nicht selten »Schenkung« bedeutet. Im Idealfall ist das ein gegenseitiges Geben und Nehmen, ein

Sprichwort der Wolof sagt: Der Mensch ist des Menschen Medizin. In der Praxis muss oft derjeni- ge, der sich anstrengt, ein Heer bedürftiger, aber vielleicht auch weniger engagierter Familienmit- glieder durchfüttern. Schon öfter haben mir Leute erzählt, sie seien in ein anderes Land gezogen, um frei von den Daueransprüchen der Großfamilie ihr eigenes Leben aufzubauen.

Doch konzentrieren wir uns auf das, was Dakar so wundersam macht: die erstaunliche Flexibilität, die es vermag, noch das Widersprüchlichste zu vereinen. Man trifft etwa einen freundlichen Siebzig- jährigen mit weißen Dreadlocks. Cheikh Seye Baye, ein Marabout, also geistlicher Gelehrter, der sich zudem auf Kräuterkunde, Astronomie und Zauberkunst versteht. Er hat die Welt bereist, sich Französisch, Englisch, IT, Programmieren und ein wenig Deutsch beigebracht. Seine Klienten stammen aus aller Welt. Neulich fragte ihn einer, ob er ihm nicht helfen könne, mit den Geistern zu fliegen. Seine Zauberkräfte für ein derart banales Anliegen einzusetzen erschien Baye als Verschwendung. »Dafür gibt es doch heute Flugzeuge.«

Seinen besten Moment spart sich Dakar übrigens für den Abend auf. Wenn das Licht das Meer streichelt und die Stadt weiß und hell über dem Atlantik zu schweben scheint. In der Ferne hustet zärtlich ein Dieselmotor.

Erschienen am 2. November 2019 in Die Zeit