Brennende Verzweiflung

In Tibet ist eine Generation herangewachsen, die sich mit dem stillen Widerstand gegen die chinesischen Besatzer nicht zufriedengeben will. Manche setzen sich selbst in Flammen, wie der 18-jährige Kalsang Jinpa. Ist er umsonst gestorben?

Geblieben ist eine Brandspur im Holz, eine schmale Wunde in der Maserung. Touristen gehen vorüber, sie reden, lachen, schauen gar nicht hin. Wer könnte auch ahnen, welche Geschichte der kleine schwarze Fleck erzählt.

Die Geschichte von 197 Schritten und einem jungen Mann namens Kalsang Jinpa.

Der Mönch tritt aus dem Dunkel der Mönchszelle, die Sonne fällt auf sein Gesicht. Rebkong, Provinz Qinghai, 2.500 Meter hoch. Gleich wird er zu der Stelle kommen, an der Kalsang Jinpa zu Boden stürzte. Jinpa war sein Lieblingsschüler. Immerzu stellte er Fragen, wollte alles wissen über tibetische Grammatik und Poesie. Als er starb, war er 18 Jahre alt.

Der Mönch, 40, trägt einen Schnurrbart, seine kleinen Füße stecken in Wanderstiefeln, sein Schritt ist bestimmt. Er geht vorbei am Tempel des pferdeköpfigen Gottes, in den Vorhof des Klosters. Er passiert die silberne Tafel, beschriftet in einem Dutzend Sprachen: „Longwu-Kloster. Sehenswürdigkeit.“

Gleich daneben hat sich Kalsang Jinpa angezündet, an einem Nachmittag um Viertel nach vier.

Er goss Kerosin über seinen Körper, hielt eine Flamme daran, riss ein weißes Banner hoch, auf dem stand: „Bewahrt die tibetische Religion und Sprache, die Umwelt. Der Dalai Lama soll zurückkehren! Tibet wird frei sein.“ Dann rannte er los.

Er umrundete die Statue, eine sterbende Fackel

Er schaffte 197 Schritte, die Aschespuren hinterließen, irgendjemand hat es später nachgezählt. Er jagte durch das Tor auf den Platz vor dem Kloster, wo der Blick hinuntergeht auf das Tal und die Stadt. Er schoss auf die Tarastatue zu, golden, dreiköpfig, rundbrüstig, die Göttin des Mitleids. Er schrie, und die Betenden schrien. Er umrundete die Statue, eine sterbende Fackel, auf dem hölzernen Podest brach er zusammen, dort, wo heute der Fleck zu sehen ist. Schwarz der Leib, sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen.

Piloten-Sonnenbrille und karierter Schal

Schön war dieses Gesicht gewesen, weich. Auf einem Foto, kurz vor seinem Tod aufgenommen, trägt Kalsang Jinpa eine Piloten-Sonnenbrille und einen karierten Schal, wahrscheinlich billige Ray-Ban- und Burberry-Imitate. Man kann dieses Foto lange anschauen, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden auf das Unvorstellbare, das er plante. Doch da ist nichts, nur die dunkle Brille, die seine Augen verdeckt.

Kalsang Jinpa starb am 8. November 2012. Er war der 69. Tibeter, der sich selbst in Brand setzte seit 2009, aus Protest gegen die mehr als sechs Jahrzehnte währende chinesische Besatzung. Seit seinem Tod haben sich 48 weitere Menschen in den tibetischen Gebieten angezündet. Es waren Mönche und Bauern, Junge und Alte, Mütter und Väter. Der vorerst Letzte starb am 27. Mai.

Hunderte Menschen demonstrierten

Der Mönch geht an der Tarastatue vorbei, er schaut nur kurz hin, er ist auf dem Weg in ein Teehaus, das er öfter besucht. Die Erinnerung begleitet ihn. Über ihm erhebt sich der Berg, auf dem sie den toten Kalsang Jinpa beisetzten. Vor ihm liegt die Straße, auf der am folgenden Tag Hunderte Menschen demonstrierten.

Kalsang Jinpa kam als kleiner Junge ins Kloster, seine Familie, einflussreiche Nomaden, hatte ihn geschickt. Der Mönch sah ihn aufwachsen. Zwei Tage vor seinem Tod begegnete er Jinpa zum letzten Mal, bei einem Besuch bei Jinpas Onkel, mit dem der Mönch befreundet ist. Wieder und wieder hat der Mönch die Szene vor seinem inneren Auge ablaufen lassen. Aber da war nichts, was auf die Tat hindeutete. Jinpa grüßte ehrerbietig, sie sprachen nur wenige Worte. „Er wirkte so ruhig“, sagt der Mönch, „so gelassen.“

Vier Jahre zuvor, im März 2008, hatten die heftigsten Proteste seit Jahrzehnten die tibetischen Gebiete erschüttert. Jinpa, damals 14 Jahre alt, war mitmarschiert, hatte sich anstecken lassen von dem neu erwachten tibetischen Patriotismus, er erlebte die Repression, die ihm folgte. Fast ein Drittel der Mönche in seinem Kloster wurde verhaftet, die Regierung baute neue Kasernen, in manchen Städten leben heute mehr Soldaten als Zivilisten.

In jenen Jahren aber wuchs eine neue Generation heran, Jinpas Generation, kämpferischer als die älteren Tibeter, erfüllt von dem Gefühl, kaum noch Zeit zu haben.

Ein brennender Mensch ist nicht zu übersehen

Der Dalai Lama, der geistliche Führer der Tibeter, ist fast 78 Jahre alt. Die chinesische Regierung hofft, dass nach seinem Tod den Tibetern das Vorbild fehlen wird, die Leitfigur. Dass die Tibeter sich dann endgültig der Herrschaft Pekings beugen werden. So weit darf es nicht kommen, finden viele junge Tibeter.

Kollektiver Widerstand, das haben die Tibeter 2008 begriffen, funktioniert nicht – die Regierung ist zu stark. Was bleibt, ist der Protest des Einzelnen. „Einige haben anfangs Flugblätter geworfen“, sagt der Mönch. „Doch davon bekam niemand etwas mit.“

Ein brennender Mensch aber ist nicht zu übersehen.

Im Februar 2009 setzte sich ein junger Mönch namens Tapey in der Stadt Aba in Flammen. 15 Menschen folgten seinem Beispiel, die Tibeter nennen die Straße, in der Tapey starb, „Straße der Märtyrer“. Die Regierung erklärte Aba zum Sperrgebiet, jeder Mönch dort, erzählen die Tibeter, werde rund um die Uhr von einem Sicherheitsmann überwacht. Die Selbstverbrennungen aber gehen weiter.

„Wieder eine. 30 Jahre alt. Hatte Kinder.“

Heimlich schicken sich die Tibeter die Fotos der Toten auf ihre Mobiltelefone, flüstern sich zu: „Wieder eine. 30 Jahre alt. Hatte Kinder.“ Mit jeder neuen Selbstverbrennung gewinnt der Märtyrertod an Akzeptanz, wird er zur ernsthaften Möglichkeit, für manche gar zum moralischen Imperativ.

Auch für Kalsang Jinpa? „Er war ein sehr ruhiger Mensch, wir hatten ihn alle ins Herz geschlossen“, sagt der Mönch. Fünf Monate vor seinem Tod verließ Jinpa das Kloster. Er kehrte zurück zu seiner Nomadenfamilie, ins Grasland, gründete eine Gruppe zum Schutz der tibetischen Sprache, wie es sie jetzt überall in den tibetischen Gebieten gibt. Jinpa achtete darauf, dass niemand in der Familie ein chinesisches Wort anstelle eines tibetischen verwendete.

Irgendwann in diesen Monaten, vielleicht schon früher, muss Kalsang Jinpa seine Entscheidung getroffen haben. Wenig benötigt er dafür, und gleichzeitig alles: eine Flasche Kerosin, ein Feuerzeug und die Entschlossenheit, zu sterben.

Rebkong war monatelang abgeriegelt

Der Mönch passiert die Gebetstrommeln vor dem Kloster, er mustert den Militärpolizisten, der dort auf und ab geht. Nach Jinpas Tod verteilten sich die Sicherheitskräfte zu Hunderten über die Stadt. Sie riegelten Rebkong monatelang für Ausländer und Journalisten ab, steckten Jinpas Freunde ins Gefängnis. Die Sicherheitsbehörde verschickt noch immer Textnachrichten auf jedes Mobiltelefon: Wer einen Menschen meldet, der sich anzünden will, erhält bis zu 200.000 Yuan Belohnung, umgerechnet 24.500 Euro, ein Vermögen.

Ein offenes Gespräch mit einem ausländischen Journalisten wäre für den Mönch gefährlich. Man kann ihm nur mit großem Abstand folgen, ihn nur heimlich in geschlossenen Räumen sprechen. Kalsang Jinpas Familie steht unter strengster Beobachtung, sie zu treffen ist unmöglich.

Der Tag, an dem Kalsang Jinpa starb, war der Tag, an dem in Peking der 18. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas begann. Der Auftakt zu einem gewaltigen Politspektakel. Tausende ausländische Journalisten waren angereist. In den Taxis waren die Fensterkurbeln an den hinteren Türen abgeschraubt worden, damit kein Fahrgast Handzettel hinauswerfen konnte. Die Zuchttauben hatten Flugverbot, damit niemand ihnen Banner mit politischen Parolen an die Krallen schnüren konnte. Alles lief nach Plan.

Bis auf die Nachricht, dass sich 28 Tibeter kurz vor dem und während des Parteikongresses anzündeten. So viele wie noch nie in so kurzer Zeit.

Als Kind hörte der Mönch die Mutter beten: „Schneide ihnen die Köpfe ab!“

Der Mönch hat das Kloster hinter sich gelassen, er taucht ein in den Sog der Stadt. Rebkong nennen sie die Tibeter, Tongren die Chinesen. Einst war sie das kulturelle Zentrum der tibetischen Region Amdo, heute liegt sie in der chinesischen Provinz Qinghai. Einst waren die Tibeter hier weitgehend unter sich, heute laufen Han-Chinesen durch die Straßen, stehen Hui-Muslime plaudernd vor den Häusern. Buddhistische Gesänge mischen sich mit dem pumpenden Bass von Gangnam Style. Ein Metzger verkauft halbierte Yaks, wie verendete Urtiere liegen sie am Straßenrand, daneben hängen chinesische Plastikblumengestecke im Wind.

Weltweit streben viele Völker nach Unabhängigkeit oder zumindest größerer Autonomie. Die Tschetschenen in Russland, die Tamilen in Sri Lanka, die Uiguren in China, die Kurden in der Türkei. Sie alle sind nicht so bekannt wie die Tibeter. Kein Volk verstand es wie sie, sein Anliegen zum Weltthema zu machen.

Selbst Menschen, die Tibet nicht auf der Landkarte finden, haben schon vom Dalai Lama gehört. Jeder kennt das Gesicht des fröhlichen älteren Herrn im roten Gewand, der von Mitgefühl und Gelassenheit spricht. Rund um den Globus ist er Inspiration für Millionen, Unzählige pilgern zu seinen Auftritten.

Kein Staat hat die Exilregierung anerkannt

Nur: Was hat es den Tibetern gebracht? Kein Staat hat ihre Exilregierung in dem indischen Bergstädtchen Dharamsala anerkannt. Kein Staat ist bereit, die Tibeter offen zu unterstützen – und damit die Beziehungen zur Weltmacht China zu gefährden.

Als Jinpa das Feuer an seine kerosingetränkte Kleidung hielt, verzehrte es zuerst den Brennstoff. Dann sprang es auf die Haut über, fraß sich in den Körper hinein. Das Fett brannte, die Muskeln schrumpften, ein Hormonschub setzte ein, Adrenaline, Noradrenaline, Histamine. Vielleicht war der Schock stärker als die Pein des Feuers, vielleicht hatte Jinpa starke Schmerzmittel genommen, um weniger zu leiden. Vielleicht hätte man ihn retten können, doch niemand hat es versucht.

„Wer sterben will, soll sterben“, sagt der Mönch. „Besser, als wenn die Sicherheitskräfte ihn mit sich nähmen.“

Der Mönch läuft an einem Han-Chinesen vorbei, der aufgeregt in sein Handy ruft, der Mönch versteht ihn nicht. Er, ältester Sohn einer Nomadenfamilie, erinnert sich, wie er als Kind seine Mutter beten hörte: „Schneide den Feinden die Köpfe ab.“ Wenn er fragte, wer die Feinde seien, sagte sie: „Die Chinesen.“ War er unartig, drohte sie ihm: „Pass auf, sonst holen dich die Chinesen.“

Statt sich zu verbrennen, sollten sie einen Sprengstoffgürtel umschnallen“

Als die Volksbefreiungsarmee 1949 in die Region einmarschierte, gaben sich die Soldaten als Freunde. Sie bauten Schulen und Krankenhäuser, halfen auf den Feldern, verschenkten Geld. Der Konflikt begann, als die chinesische Regierung sozialistische Reformen durchsetzte. Die Tibeter hatten kein Bedürfnis nach kommunistischer Befreiung. Es kam zu Aufständen. Der Mönch sagt, in seinem Dorf hätten die Soldaten an einem einzigen Tag 83 Menschen erschossen.

Wenige Jahre später rief Mao die Kulturrevolution aus. Ihre Bilanz in Tibet: viele Tote, mehrere Tausend zerstörte Klöster.

Erst mit der chinesischen Reformpolitik der siebziger Jahre endete der Schrecken. Mitte der achtziger Jahre trat der Mönch ins Kloster ein, er war 14 Jahre alt. Die Menschen in der Stadt Rebkong hatten damals kein Radio, kein Fernsehen, keinen Kontakt zur Außenwelt.

Langsam kam der Fortschritt, und es waren Chinesen, die ihn brachten. Aber anders als die Regierung in Peking hoffte, fingen die Tibeter noch immer nicht an, sich als Bürger Chinas zu fühlen. Im Gegenteil. „Plötzlich drangen Signale von außen in das Kloster“, erinnert sich der Mönch. „Wir hörten BBC und Radio Free Asia. Je gebildeter wir wurden, desto

mehr wollten wir wissen.“

Sicherheitskräfte wagten kein Eingreifen

Der Mönch hält einen Moment inne, dreht den Kopf, lässt den Blick über den Bergrücken schweifen. Dort, oberhalb des Klosters, versammelten sich am Abend nach Kalsang Jinpas Tod 5.000 Menschen. Es war eine Herausforderung, eine Stellungnahme. Es waren so viele, dass die Sicherheitskräfte nicht wagten, einzuschreiten.

Niemand darf am Begräbnis eines Selbstverbrennungsopfers teilnehmen, so hatte es die Regierung angeordnet. Mönche dürfen nicht für den Toten beten, nicht die buddhistischen Riten vollführen. Verboten ist außerdem: der Familie des Verstorbenen Geld zu spenden. Öffentlich zu sagen, er habe „ein mutiges Herz“ besessen.

Den toten Kalsang Jinpa aber, der nicht mehr zu ihrer Gemeinschaft gehörte, setzten die Mönche dort bei, wo nur Mönche begraben werden.

Seit Jahrzehnten gibt der Dalai Lama das Gebot der Gewaltlosigkeit aus. Seinem Volk aber ist die Friedfertigkeit nicht angeboren. Bis 1974 führten die Tibeter von Nepal aus einen Guerillakrieg gegen China,

unterstützt vom amerikanischen Geheimdienst CIA. Im März 2008 mündeten die Proteste der Mönche in der tibetischen Hauptstadt Lhasa in gewalttätige Ausschreitungen, ein wütender Mob tötete Han-Chinesen und Hui-Muslime. Stets aber gelang es dem Dalai Lama, die Tibeter zurück auf den Weg der Gewaltlosigkeit zu führen.

„Statt sich zu verbrennen, sollten sie einen Sprengstoffgürtel umschnallen“

Jetzt wenden sie wieder Gewalt an, aber sie richten sie gegen sich selbst, nicht gegen die Han-Chinesen. Wie lange noch? Werden sie nach dem Tod des Dalai Lama zu Waffen greifen? Ein junger Tibeter sagt: „Statt sich selbst zu verbrennen, sollten sie einen Sprengstoffgürtel umschnallen und ein paar Han-Chinesen mit in den Tod reißen.“

Der Mönch erreicht die große Kreuzung, sein Blick fällt auf eine riesige LED-Wand, über die tibetische Schriftzeichen flackern: „Nein zu Selbstverbrennungen!“, steht dort. „Lasst euch nicht von der Dalai-Lama-Clique aufstacheln!“

Die chinesischen Staatsmedien beschreiben die Verbrannten als verirrte Seelen: als Gescheiterte, unglücklich Verliebte, moralisch Korrumpierte,

die von dunklen Kräften fehlgeleitet wurden – dem Dalai Lama und der Exilregierung.

Der Mönch hat sein Ziel erreicht, er biegt in ein Gässchen, betritt eine tibetische Teestube. Rote Sofas stehen vor Götterbildern, von der Decke hängt Plastikobst. Ein Mädchen gießt Buttertee in die Trinkschale des Mönchs. Es ist 16 Jahre alt. Etwas später wird es mit schüchternem Lächeln von seiner Schule erzählen und wie es zur Rebellin wurde.

Am Morgen des 9. November 2012, am Tag nach Kalsang Jinpas Tod, saß das Mädchen wie jeden Tag in seinem Klassenzimmer. Auf einmal stürmten Schüler der Nachbarschule herein. Sie riefen: „Sie wollen uns unsere Sprache wegnehmen! Ihr müsst mitkommen, demonstrieren!“

Plötzlich Schulunterricht auf Mandarin

In vielen tibetischen Gebieten gibt es chinesische Schulen und tibetische Schulen. In den einen unterrichten die Lehrer auf Mandarin, in den anderen auf Tibetisch. Wer die chinesische Schule besucht, kann auf der Universität jedes Fach studieren, er kann Ingenieur werden, Anwalt, Unternehmer, alles. Wer auf eine tibetische Schule geht, wie das Mädchen aus der Teestube, dem bleibt oft nur das Studium der

tibetischen Sprache und Kultur. Die meisten Tibeter entscheiden sich für den Patriotismus, gegen die Karriere. So gibt es in Rebkong zwar tibetische Beamte und Lehrer, aber kaum tibetische Ingenieure oder Rechtsanwälte.

Im vergangenen Sommer jedoch kündigte die Provinzregierung an, künftig werde auch auf den tibetischen Schulen vorrangig auf Mandarin unterrichtet. Das war es, was die Schüler an jenem Morgen nach Kalsang Jinpas Tod so aufbrachte.

Die Jugendlichen drückten den Lehrer beiseite, der versuchte, sie in der Klasse einzusperren, und rannten los, das Mädchen mit ihnen.

Draußen hatten sich schon Tausende Schüler versammelt, eine gewaltige Masse, die zum Gebäude der Lokalregierung drängte. Nie zuvor habe es so viele Menschen gesehen, sagt das Mädchen. „Es war aufregend und furchterregend zugleich.“

Nach der Demonstration nahm die Lokalregierung vorerst Abstand von der neuen Regelung. Die Schüler hatten einen Sieg errungen. Obwohl sie in ihre Hefte zu schreiben hatten: „Ich habe einen Fehler gemacht.“

Die Nomaden von einst können jetzt fernsehen – glücklich sind sie nicht

Den Menschen ein brennendes Signal setzen, sie aufrütteln und anstiften zu weiterem Protest, wie die Schüler in Rebkong: Vielleicht war es das, was Kalsang Jinpa im Kopf hatte, als er die Flamme an seine Kleidung hielt.

Vielleicht war es auch pure Verzweiflung.

Untersucht man die Selbstverbrennungen genauer, ergibt sich ein Muster. Die meisten ereigneten sich in der Region Amdo mit ihren weiten Grasflächen. Meist stammten die Selbstmörder aus einer Nomadenfamilie, wie Kalsang Jinpa.

Die KP unterwirft das Land ihrer Fortschrittsideologie

Draußen im Grasland lässt sich die Hoffnungslosigkeit erahnen, die viele Nomaden ergriffen hat. Jahrhundertelang sind sie durch diese Weite in Grün und Braun gezogen. Jetzt nötigt die Regierung sie zur Sesshaftigkeit.

Eine staubige Siedlung, drei Stunden von Rebkong entfernt. In einem Neubau sitzt auf einer blauen Couch ein 35-jähriger Mann. Neben ihm eine neue Heizung, ein neues Fernsehgerät, auf dem gerade eine Art

„Tibet sucht den Superstar“ läuft. Wohlstand nach chinesischem Vorbild.

Der Mann sieht aus wie aus einem Modekatalog gefallen. Lederjacke, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, die Haare verwuschelt, nur dass das der Wind war und kein Starfriseur.

Vor zweieinhalb Jahren zog er noch mit seinen Yaks über die Weiden, bis die Leute von der Regierung kamen und sagten, er solle seine Sachen packen. Bis 2015 wollen sie die Nomaden sesshaft machen. Der Grund ist, dass alle wichtigen Flüsse Chinas hier im Hochland entspringen. Seit Jahren aber führen die Flüsse weniger und weniger Wasser, was mit der Bodenerosion zusammenhängt.

Nomaden sollen sesshaft werden

Schuld sind die Nomaden, sagt die chinesische Regierung, sie zerstören den Boden. Schuld sind chinesische Bergbauunternehmen, sagen unabhängige Fachleute.

Der ehemalige Nomade versteht nicht, warum ein jahrtausendealter Lebensstil auf einmal umweltschädlich sein soll. Seit zwei Jahren lebt er in der Siedlung. Er hat einen kleinen Motorradladen. Er soll jetzt ein moderner Bürger sein. Vor der Tür liegt die Schule für seine Kinder, gleich in der Nähe ein Krankenhaus. Er könnte glücklich sein und ist es nicht. „Ich habe mir das nicht ausgesucht“, sagt er.

Im Fernseher sieht er die Stars, die Nachrichtensprecher. „Sie sehen sauber aus, sie sprechen gut in die Kamera. Und ich? Ich bin doch nichts.“

Manchmal schwingt er sich auf sein Motorrad, rast die Straße entlang, saugt die kalte Luft in die Lunge, und mit einem Mal ist ihm, als lebe er sein altes Leben, in das er nicht zurückkann.

Die Ansiedlung der Nomaden gilt als ein Hauptgrund für die Selbstverbrennungen. Sie lässt eine neue urbane Unterschicht entstehen. Viele ehemalige Nomaden sitzen nur in den neuen Häusern und warten auf das Geld der Regierung. Viele neue Siedlungen haben nicht einmal einen Tempel.

Die KP unterwirft das Land ihrer Fortschrittsideologie – und fragt nicht, welche Art von Fortschritt die religiösen Tibeter wollen. Modernisierung, Urbanisierung: Der Regierung mag das als gute Idee erscheinen. Doch im

Grasland kann sie sich als schlecht erweisen, wenn sie nicht zu den Bedürfnissen der Menschen passt.

Dämmerung senkt sich über die Stadt Rebkong, der Mönch geht zurück ins Kloster. Ein paar von der Regierung beauftragte Handwerker balancieren über die Dächer, sie schrauben Satellitenschüsseln ab, mit denen sich ausländische Sender empfangen lassen.

Der Mönch wirft im Vorbeigehen einen Blick auf die abgeschraubten Stangen und Schüsseln, sie liegen auf dem Boden wie gepflücktes Obst. „Die können sie abbauen, das ist leicht“, wird er später sagen. „Unsere Kultur sitzt viel tiefer, die können sie nicht einfach verschwinden lassen.“

Veröffentlich 13. Juni 2013 Zeit Dossier