Besuchen sich zwei Riesen

China und Indien sind Rivalen und Nachbarn, doch ihre Völker sind sich völlig fremd. Unsere Reporter haben Chinesen begleitet, die in Indien nach Gandhis Spuren suchten, und Inder, die an der Großen Mauer nach Feinden spähten

Es ist vier Uhr morgens, und der Spaß kann beginnen. Herr Han stolpert aus dem Flughafengebäude in Delhi , reibt sich Augen und Nacken nach dem Nachtflug aus Peking . Er würde jetzt gern etwas essen, doch die Reiseleiterin schwenkt die Fahne und scheucht die Gruppe in den Bus nach Jaipur. Herr Han, 65 Jahre alt, pensionierter Ingenieur eines staatlichen Stahlkonzerns, sucht sich einen Platz ganz hinten, wo er seine langen Beine ausstrecken kann. Han hat die Baritonstimme eines Nachrichtensprechers, „sagen mir viele“. Seine Bundfaltenhose ist bis zum Bauchnabel hochgezogen, in der Hand trägt er eine Tragetasche der Marke Rillfung, in der enorme Mengen chinesischen Proviants verstaut sind. So fühlt er sich gewappnet für eine Expedition der besonderen Art: die Entdeckung Indiens .

In Europa , Thailand , Australien und den USA ist Han schon gewesen. Von diesen Ländern und Kontinenten hatte Han eine recht präzise Vorstellung. Jetzt ist das Nachbarland an der Reihe, das andere asiatische Riesenreich, das wie China Mitglied eines exklusiven Clubs ist. „Es gehört, „sagt Han, „wie wir zu den alten Zivilisationen.“ Bloß fällt ihm zu Indien zunächst wenig mehr ein als die singenden und tanzenden Darsteller aus den Bollywoodfilmen, die in den Fünfzigern in China so beliebt waren.

Noch kann er durch das Busfenster nichts erkennen, noch ist es dunkel. „Mal sehen, wie das wird“, sagt Han. „Wir schauen uns das ja nur oberflächlich an.“ Wörtlich übersetzt, sagt er: „Wir betrachten die Blumen nur auf dem Pferd reitend.“

China und Indien sind die beiden neuen Aufsteigernationen. Die Zukunft. Gemeinsam machen sie fast zwei Fünftel der Weltbevölkerung aus . Beide Länder haben in vergangenen Jahrhunderten Blütezeiten, Stagnation und grausame Umbruchphasen erlebt. Derzeit erwirtschaften sie zusammen ein Fünftel des Welteinkommens. Bis 2025 wird es vermutlich ein Drittel sein. Beide Länder werden oft unter dem Namen Chindia zusammengefasst, als handelte es sich um einen asiatischen Block. Tatsächlich aber gibt es zwischen China und Indien reichlich Konfliktpotenzial. Vor allem aber kennen sich die beiden Völker so gut wie überhaupt nicht. Ihre Fühler streckten sie lange nur nach Westen aus. Das erhöht das Risiko für politisch folgenreiche Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Erst vor Kurzem wurde die Visa-Vergabe vereinfacht, um den Reiseverkehr zu erleichtern. Doch bis auf Weiteres sind chinesische Touristen in Indien und indische Touristen in China Pioniere, Entdecker fremder Welten.

Shanghai: Nach seiner Ankunft in China sucht Jacob Verghese vergeblich den Himmel. Sein Reisebus hat gerade das Shanghaier Flughafengelände verlassen. Links und rechts sieht Verghese nur Wolkenkratzer. „Sind das Firmensitze oder private Wohnhäuser?“, ruft er erstaunt. Doch der chinesische Reiseführer antwortet nicht. Verghese, ein ehemaliger indischer Diplomat, und seine Frau gehören zur indischen Elite. Für ihren China-Besuch haben sie zum ersten Mal eine Pauschalreise gebucht. Jetzt müssen sie sich an einen Reiseführer gewöhnen, der in den folgenden Tagen nur das Allernötigste sagen wird, dafür aber ständig mehr Geld fordert. Die Vergheses haben sich sportlich gekleidet, Jeans, Turnschuhe und Anorak, als befürchteten sie raues Gelände. Aber die ersten Eindrücke entsprechen genau dem, was sie suchen. Hochhäuser, Autobahnbrücken und noch mehr Hochhäuser. Die Inder wollen in China keine alte Zivilisation besichtigen, sondern Chinas Moderne kennenlernen. Verghese leitet inzwischen in Neu-Delhi die Tochterfirma eines europäischen Stahlunternehmens. Seine Firma kauft Maschinenteile in China ein, um sie mit europäischer Technologie in Indien weiterzuverarbeiten und dort zu verkaufen. Sein Konzern überlegt ständig, ob er mehr in China oder Indien investieren soll. Verghese soll dabei den Standortwettkampf für Indien führen – auch deshalb macht er jetzt Urlaub in China. Er will wissen, wie gut die Chinesen wirklich sind, damit er weiß, wie er sie schlagen kann.

Verghese geht im Bus noch einmal die Wettbewerbsbedingungen durch: „China hat einen großen wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber Indien.“ Man sehe sich nur die Reisegruppe an, ausgerüstet mit Schuhen, Mobiltelefonen, Kameras, made in China. Qualitätsware, jedenfalls besser als die indische. Doch Indien sei Software-Supermacht, das Callcenter der Welt, die größte Englisch sprechende Nation, deren Bevölkerungszahl die Chinas bald übertreffen werde. „Und die Inder sind viel jünger als die Chinesen“, die schon bald unter der Überalterung ihrer Gesellschaft leiden würden. Jacob Verghese ist optimistisch – nicht nur was die indisch-chinesische Konkurrenz, sondern auch was seinen Erkenntnisgewinn aus dieser Reise angeht.

Die chinesische Reisegruppe gerät in einen Slum – und ist geschockt

Delhi-Jaipur: Warum dauert das so lang? Herr Han und seine Reisegruppe sitzen nun fast seit sieben Stunden im Bus für eine Strecke von gerade mal 250 Kilometern. Und seit die Sonne aufgegangen ist, weiß Han auch, warum. Was in China eine vierspurige Autobahn wäre, gesäumt von gepflegten Grünstreifen, ist in Indien eine Schlaglochpiste, auf der Lkws, Motorräder und Dreiräder entlangzockeln. „Eine Autobahn! Warum baut hier keiner eine Autobahn!“, ruft Han. „Das ist doch der Anfang von allem!“ Zumindest bei Han zu Hause. China verdankt sein jährliches Wirtschaftswachstum von zuletzt rund zehn Prozent zu einem erheblichen Teil Investitionen in die Infrastruktur. In Indien gibt es noch nicht mal eine Autobahn zwischen den beiden größten Städten Delhi und Mumbai , die Infrastruktur ist Indiens Achillesferse.

Jetzt rollt der Bus der chinesischen Reisegruppe auch noch durch einen Slum. Links und rechts Wellblechhütten und barfüßige Kinder. „Meine Güte“, sagt Herr Han. „Wie sieht das denn aus?“ Solch haarsträubende Armut, glaubt Han, „würden wir uns daheim nicht bieten lassen“.

Die gesamte Reisegruppe ist geschockt. Kaputte Autos, Müll auf den Straßen, Bettler am Wegesrand – das hatten sie hier nicht erwartet. Solche Rückständigkeit pittoresk zu finden, käme den Chinesen nie in den Sinn. Im Bus wird eine Reihenfolge der Top-Reiseziele dieser Welt aufgestellt. Australien und die nordeuropäischen Staaten landen ganz vorn. Hoher Lebensstandard, gutes Sozialsystem, saubere Straßen, intakte Natur. Indien steht beim Blick aus dem Busfenster kurz davor, von der Liste gestrichen zu werden.

Abends im Hotel teilt sich Han das Zimmer mit Herrn Dong, einem pensionierten Lehrer. Der hat am ersten Tag bereits 500 Fotos geschossen, „und auf den meisten sind arme Menschen zu sehen. Dabei haben die hier eine Demokratie, da müssten sich die Politiker doch viel mehr um die Menschen kümmern. Wir in China sind ein Einparteienstaat, und trotzdem sorgt unsere Regierung besser für uns.“

Shanghai: Von Armenvierteln ist hier nichts zu sehen – jedenfalls nicht auf den Routen der indischen Touristen. Drei Tage sind in der chinesischen Metropole eingeplant. Einer der Höhepunkte ist eine Hafenrundfahrt. Westlich des Huangpu-Flusses sind die alten Bauten aus der britischen und französischen Kolonialzeit hell erleuchtet. „Sieht ja aus wie bei uns in Mumbai“, sagt einer der Inder enttäuscht. Am östlichen Ufer wieder himmelhohe Wolkenkratzer, hier liegt Shanghais Finanzzentrum. „Sie zeigen den Amerikanern, dass New York eine Altstadt ist“, staunt einer aus der Reisegruppe. „Diese Häuser zeigen wie Finger in den Himmel und machen sich über die Götter lustig“, warnt ein anderer. Verghese hört gar nicht hin. Er hat sich ein Bier geholt und starrt auf die Skyline. „Jetzt wissen wir, dass die Chinesen die Welt regieren werden“, sagt er. Das klingt wie das Eingeständnis einer Niederlage. Er nimmt einen Schluck Bier. „Aber ich wette, dass die Hälfte aller Apartments in diesen Hochhäusern schon von reichen Indern aufgekauft ist. Das tun sie überall in der Welt.“

Asien ist groß und bietet beiden Nationen genug Spielraum für Wachstum und Wohlstand. Das ist die offizielle Parole der Regierungen in Peking und Delhi. Sie verweisen gern auf die schnell wachsende bilaterale Handelsbilanz. Auf den ersten Blick ergänzt man sich bestens: China exportiert vor allem Industrieprodukte, Indien Dienstleistungen. Doch China fährt enorme Überschüsse ein. Beide Länder konkurrieren außerdem um Rohstoffvorkommen in Afrika, Südamerika oder Asien. Im südchinesischen Meer, wo Vietnam und Indien gemeinsam Gas fördern wollen, zeigten sich kürzlich chinesische Kriegsschiffe, um zu demonstrieren, was Peking von solchen Projekten der Nachbarn hält. Bleibt noch der Streit um die gemeinsame Grenze im Himalaya , um die China und Indien 1962 einen kurzen, heftigen Krieg führten. China siegte, der Konflikt ist bis heute nicht beigelegt.

Was eint Indien und China? „Beide Völker essen Reis.“

Jaipur: Die chinesische Reisegruppe besucht den Lakshmi Tempel, die heilige Stätte der hinduistischen Göttin des Wohlstands. Lehrer Dong zieht eine Tüte aus seiner Tasche, darin Plastiküberzieher für die Schuhe. „Die habe ich mir gekauft, als ich gehört habe, dass man in Indiens Tempel die Schuhe ausziehen muss. Könnte ja schmutzig sein.“ Der Hinduismus kenne drei Hauptgötter, erklärt Dong, „Shiva, Brahma und Vishnu“. Es gebe noch eine ganze Menge Nebengötter, „aber so genau muss man das nicht wissen“. Herr Dong ist Atheist, wie alle in der Gruppe. Sie warten. „Wann beginnt die Show noch mal?“, fragt einer. Punkt sechs Uhr abends wird ein Vorhang aufgezogen und gibt den Blick auf Götterstatuen frei. Indische Gläubige drängeln nach vorn, wiegen sich mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen voll Hingabe. Dazwischen stehen ratlos die Chinesen. Herr Han schaut sich um, faltet die Hände, so wie es die Inder rings um ihn tun. Aus seinen Händen ragt das Stativ seiner Kamera hervor.

„Eigentlich“, sagt der indische Reiseführer der Gruppe leise, „eint unsere Völker überhaupt nichts. Unser ganzes Leben dreht sich um Religion. Und die Chinesen? Die glauben nicht.“ Herr Han fasst die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gesellschaften an diesem Abend mit drei Worten zusammen: „Beide essen Reis.“

Außer Essgewohnheiten gibt es aber doch ein paar gemeinsame Traditionen – nicht zuletzt begründet durch den Reiseverkehr. Im sechsten Jahrhundert machte sich der chinesische Mönch Xuan Zang auf den Weg nach Indien, um die buddhistischen Schriften zu holen. Seine Abenteuer wurden in einem der wichtigsten chinesischen Epen besungen, Die Reise in den Westen. Der Buddhismus wie auch die gesamte indische Kultur haben China viele Jahrhunderte geprägt. Heute bezeichnen sich immerhin noch 18 bis 20 Prozent der Chinesen als Buddhisten. Vieles, was aus Indien stammte, ist heute in China kaum mehr sichtbar, so vollständig hat es sich die chinesische Kultur einverleibt.

Xian: Shanghai war für Jacob Verghese und seine Mitreisenden ein faszinierender Schock aus Stahl und Glas, jetzt, in Xian, Chinas historischer Hauptstadt am Ende der Seidenstraße, kommen sie wieder in ihrer Welt an. Vor der berühmten Wildganspagode stehen große Steinskulpturen. Sie zeigen indische Elefanten, ein Zeugnis von der Reise des Mönches Xuan Zang in den Westen. „Xuan Zang hat uns damals chinesische Kampfkunst gelehrt und wir ihn den Buddhismus. Das weiß in Indien jedes Schulkind“, sagt Herr Dhandapani, ein Funktionär der staatlichen indischen Ölgesellschaft, der inzwischen zu Vergheses liebster Busbekanntschaft geworden ist. Hatte die Reisegruppe anfangs wenig Lust auf „alte Zivilisation“, so ist sie jetzt sichtlich angetan von den Zeugnissen des indischen Einflusses. Plötzlich erscheint Indien aus religiös-historischer Sicht wie das alte Rom Asiens, auf das man stolz ist.

Dhandapani und Verghese unternehmen abends eine kleine Tour durch die hútongs, die alten Gassen von Xian. Sie stöbern in kleinen Computer- und DVD-Läden, machen Halt in einem Straßenlokal. Am Nebentisch spielt eine Frau – rauchend und Bier trinkend – mit drei Männern Mahjong. Verghese und Dhandapani schielen zu ihr herüber, dann platzt es aus Verghese heraus. „Stell’ dir vor, wenn unsere Frauen so wären!“ Indien – das ist heute immer noch Großfamilie mit strenger sozialer Kontrolle und einem strengen Sittenkodex für Frauen. China – das ist Kleinfamilie und Ein-Kind-Politik, von staatlichen Eingriffen und kapitalistischer Beschleunigung beeinflusste Geschlechterrollen und rauchende Frauen in Kneipen. Den Chinesen von heute, so glaubt die indische Reisegruppe, fehle so viel: sozialer Rückhalt, Werte und Geborgenheit.

Agra, Taj Mahal: Es gab Tage auf dieser Reise, da ließen die chinesischen Touristen kein gutes Haar mehr an Indien. Jetzt stehen sie vor dem Taj Mahal – und werden wachsweich. „Ein Gebäude der Liebe!“, ruft Dong, der Lehrer, „das schönste der Welt! Sieh dir die verbotene Stadt in Peking an, da geht es immer nur um Macht! Und was ist schon Macht gegen Liebe?“ Han ist nicht ansprechbar, er fotografiert ununterbrochen. „Ein Traum in Weiß, wie aus einer anderen Welt“, sagt er später. „Mitten im Schmutz.“

Auf der Großen Mauer zwischen Krieg und Frieden

Peking: Verghese hat sich zum wiederholten Mal mit dem chinesischen Reiseführer gestritten, der unter fadenscheinigem Vorwand die Besichtigung des Kaiserpalastes aus dem Programm streichen wollte. „Der lügt wie gedruckt“, knurrt Verghese, nachdem er – wie immer nach vorheriger demokratischer Abstimmung in der Reisegruppe – die Besichtigung durchgesetzt hat. Nun stehen sie mitten auf dem Tiananmen und erleben ein ganz anderes Wunder. Es ist Feiertag, Abertausende sind auf den Platz des himmlischen Friedens geströmt. Es gibt kein Gedränge, keine Rempeleien, kein Geschrei – nur ein stetiger Fluss von Menschen. „Diese Kontrolle der Menge!“, schwärmt Dhandapani. Er sieht die vielen Polizisten und erkennt auch die zahlreichen Zivilpolizisten sofort. An die Niederschlagung der Studentenproteste 1989 verschwenden er und Verghese keinen Gedanken, aber sie glauben auch nicht an die Allmacht der Kommunistischen Partei „So breiten gesellschaftlichen Erfolg wie in China gibt es nicht ohne Freiheit in der Seele“, sagt Dhandapani. Er spricht von seinen Erfahrungen mit den chinesischen Geschäftspartnern. „Man muss mit den Chinesen nur abends essen und trinken gehen. Dann sind sie plötzlich freie Menschen.“

Und plötzlich ist er mittendrin in der Frage über den Systemgegensatz zwischen China und Indien, zwischen Diktatur und Demokratie. Nach über einer Woche in China wirkt die indische Reisegruppe manchmal etwas betreten angesichts dessen, was das autoritäre China seinen Bürgern an Aufstieg und Modernisierung bietet. „Ich frage mich, warum sind unsere Politiker demokratisch gewählt und trotzdem – gemessen an den Ergebnissen – korrupter als die chinesischen“, sagt einer. In Indien sterben jährlich immer noch rund anderthalb Millionen Kleinkinder an Unterernährung , in China sind Hungeropfer inzwischen selten. Aber China als Modell für Indien? „Das geht nicht“, sagt Verghese. Dafür sei Indien mit seinen Hunderten von Völkern und Sprachen zu heterogen. Es lasse sich nicht mit Kommandos aus der Hauptstadt regieren, wie es die Kommunistische Partei in China mit ihren Fünfjahresplänen auch heute noch vormacht.

Neu-Delhi: Ganz still liegt das Grabmal von Mahatma Gandhi in der Dämmerung, eine Öllampe flackert. Es ist eine der letzten Stationen auf der Reise der Chinesen durch Indien. Wie beim Besuch des Taj Mahal breitet sich in der chinesischen Reisegruppe andächtige Stimmung aus – dieses Mal mit einem Anflug von Pessimismus über die eigene Zukunft. Herr Feng, ein Mathematiklehrer, klingt fast zärtlich, als er von Gandhi spricht. „Sein Weg war zutiefst demokratisch und friedlich. So anders als in China, wo es immer um Revolutionen und Gewalt ging, wo fast immer eine Dynastie die andere gewaltsam stürzte.“ Eines Tages werde auch China eine Demokratie sein, glaubt Feng. „Doch jetzt ist es noch zu früh dafür. Es gibt noch zu viele ungebildete Menschen, würden die etwa klug wählen?“ Indien, glaubt Feng, habe in der Zukunft mehr Potenzial zu wachsen als China, denn es sei bereits eine etablierte Demokratie. „Natürlich hat es noch eine Menge Probleme, doch es entwickelt sich auf eine graduelle und langsame Art.“ China hingegen würde bald steckenbleiben wie in einem Flaschenhals, da das politische System dem wirtschaftlichen im Weg stehe. Schnelles Wachstum führe zu Problemen, sagt Feng. Der graduelle Wege entspreche der Natur der Dinge. Wie Gandhi es vorgelebt habe. Herr Han sagt nichts. Er fotografiert.

Auf der Großen Mauer: Die Inder sitzen hoch oben auf einem Wachturm, genießen den Ausblick, ihre bunten Halstücher flattern im Wind. Sie überlegen, wer früher gegen die Mauer anstürmte. Mandschus, Mongolen und andere „Barbaren“. Einer erinnert daran, dass Inder und Chinesen einst gemeinsam gegen die mongolischen Invasoren kämpften. Indien und China, die alten Friedensmächte, die nur zu den Waffen griffen, wenn sie selbst überfallen wurden. Auch diese Selbstwahrnehmung haben die beiden Länder lange geteilt. Bis dann Indien 1962 den Krieg um den Grenzverlauf im Himalaya gegen China verlor. Dieser Krieg ist in China weitgehend vergessen, für viele Inder ist er ein nationales Trauma. Indien und China – das waren damals gute Nachbarn, Mao und Jawarharlal Nehru, Indiens erster Ministerpräsident des Landes, galten als Freunde. Dann schickte Mao seine Rote Armee 1962 über die Grenze. „Ohne Vorwarnung“, sagen die Inder auf ihrem Wachturm an der Großen Mauer.

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Heute fühlen sich beide Staaten vom jeweils anderen eingezirkelt. Indien denkt dabei an Chinas wachsenden Einfluss in Pakistan, Burma, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka. China misstraut vor allem Indiens Freundschaft zu den USA und Japan. Und Peking missfällt zutiefst, dass Indien dem Dalai Lama seit Jahrzehnten Exil gewährt.

Nach neun Tagen ist es Zeit für die Heimreise. Verghese nimmt sich ein letztes Mal den chinesischen Reiseführer vor. Er hat sich mit ihm tagelang gestritten. Immer ging es um Geld. Stets wollte der Führer Programmpunkte streichen. Stets hielt Verghese als inoffizieller Anführer der indischen Reisegruppe dagegen. Und offenbar haben ihm die Tricks und die Feilscherei des Chinesen irgendwann imponiert. So sehr, dass er nun am Flughafen eine Überraschung bereithält. „Du hast die letzten Tage Härte und Durchsetzungswillen bewiesen. Willst du nicht für meine Firma in Indien arbeiten? Ich biete dir viel mehr, als du jetzt verdienst.“ Der Reiseleiter lächelt zum ersten Mal in neun Tagen und sagt, er werde es sich überlegen. Er sieht so aus, als könnte er sich das ganz gut vorstellen: ein Leben in Indien.

Coproduktion mit GEORG BLUME

Veröffentlicht am 9. Dezember 2012 in Die ZEIT